Edgar Wallace

Edgar Wallace: 69 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band


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Pension unterhielt. Die Mieter bekamen im allgemeinen zwar nur das Frühstück, konnten auf Wunsch aber auch größere Mahlzeiten bestellen.

      Verity Maple wurde sofort ins Wohnzimmer geführt. Als sie eintrat, saß Helder vor einem großen Schreibtisch, der mit Druckproben und Zeitungen bedeckt war.

      Er erhob sich und gab ihr die Hand.

      »Nehmen Sie bitte Platz, Miss Maple. Es tut mir leid, daß ich Sie hierherbitten mußte, aber ich konnte Sie aus Zeitmangel nicht in meinem Büro empfangen.«

      Er sprach kurz und geschäftsmäßig, so daß der unangenehme Eindruck, den sie von ihm hatte, rasch wieder verflog.

      »Ich habe eine interessante Arbeit für Sie. Können Sie französisch?«

      »Ja«, sagte sie und nickte.

      »Ich bin nämlich Mitherausgeber einer kleinen Zeitschrift, für die Sie sich in Zukunft interessieren müssen.«

      Die Gehaltsfrage wurde besprochen, und Verity wunderte sich, mit welcher Bereitwilligkeit Mr. Helder auf ihre Wünsche einging. Sobald die rein geschäftliche Seite der Unterhaltung beendet war, erhob sie sich.

      »Bis morgen früh also«, sagte er und begleitete sie zur Tür.

      Verity Maple war sich nach dieser ersten Unterredung mit ihrem neuen Chef nicht ganz klar darüber, ob sie richtig gehandelt hatte, diese Stellung anzunehmen. Als sie sich schon ein Stück von Mr. Helders Haus entfernt hatte, hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Sie drehte sich um. Es war Mr. Helder, der ihr nachgelaufen kam.

      »Ich muß zur Oxford Street«, sagte er atemlos. »Da haben wir doch denselben Weg, nicht wahr?«

      Sie hätte ihm gern gesagt, daß dies nicht der Fall sei, aber er beachtete sie gar nicht weiter, sondern erzählte munter von den Annehmlichkeiten eines neuen Motorbootes, das er sich kaufen wollte, und nannte als Kaufpreis eine Summe, vor der ihr schwindelte. Dann sprach er über sonstige Geldgeschäfte, ohne jedoch auf Einzelheiten einzugehen.

      In der Oxford Street trennten sie sich, und sie seufzte erleichtert auf, als er sich von ihr verabschiedet hatte.

      Auf Helder hatte das hübsche Mädchen großen Eindruck gemacht. Er hatte zwar schon viel von ihr gehört, aber nicht gedacht, daß sie so gut aussah.

      Er schaute ihr nach, bis sie in der Menschenmenge verschwunden war, dann winkte er einem Taxi und fuhr zum Klub.

      Als Verity zur Victoria Station kam, war ihr Zug schon abgefahren, und sie mußte sich nun die Zeit vertreiben, bis der nächste kam.

      An einem Bücherstand betrachtete sie aufmerksam die Auslagen und las die Titel der neuen Bücher. Dabei stieß sie mit einem Herrn zusammen, und ihre Handtasche fiel auf den Boden. Er bückte sich schnell, hob die Tasche auf und überreichte sie ihr mit einer Entschuldigung.

      Sie sah sich einem hochgewachsenen jungen Mann gegenüber, der sie einen Augenblick bewundernd anschaute. Dann grüßte er höflich und ging.

      Es war die erste Begegnung Veritys mit Comstock Bell.

      Sie betrat einen Erfrischungsraum, um eine Tasse Tee zu trinken. Als sie wieder aufstand, entdeckte sie, daß sie auch den nächsten Zug versäumt hatte. Eigentlich war sie ja gar nicht in Eile, und so schlenderte sie gemütlich zum Marble Arch und besuchte noch eine Kinovorstellung.

      Als sie in Peckham ankam, war es schon neun Uhr. Der Himmel war wolkenbedeckt, und es regnete in Strömen. Sie bog in die Christal Palace Road ein und bemerkte einen Mann, der an einem Laternenpfahl auf der anderen Seite der Straße lehnte. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, denn er wandte ihr den Rücken zu.

      Vor ihrer Haustür kramte sie die Schlüssel heraus und wollte gerade aufschließen, als sie hinter der Tür Stimmen hörte. Es war sehr ungewöhnlich, daß ihr Onkel Besuch hatte, und erstaunt trat sie einen Schritt zurück. Die Stimmen näherten sieb, und gleich darauf öffnete sich die Tür. Einem Impuls gehorchend, trat sie in das Dunkel des Gebüsches zurück, das vor dem Eingang angepflanzt war.

      Ihr Onkel kam heraus, in seiner Begleitung waren zwei Herren. Der eine war robust und untersetzt, der andere groß und schlank.

      »Hoffentlich haben Sie uns jetzt verstanden!« sagte der Kleinere drohend; er sprach mit stark amerikanischem Akzent.

      Maple antwortete leise etwas, das Verity nicht verstehen konnte.

      »Damit wäre also alles klar«, schnitt ihm der andere das Wort ab. »Wir wollen nur von Ihnen haben, daß Sie kein Spielverderber sind. Es liegt jetzt an Ihnen, Ihre verschiedenen Fehler wieder gutzumachen. Er weiß das ganz genau …«, dabei deutete er auf die Straße.

      »Warum kommt er denn nicht selbst?« brummte Maple vorwurfsvoll.

      Die beiden lachten höhnisch.

      »Weil er sich bei dieser Angelegenheit nicht sehen lassen will. Außerdem wohnen Sie doch nicht allein hier im Hause, nicht wahr? Kurz und gut, Sie werden sich auf jeden Fall verantworten müssen, wenn Sie noch einmal etwas gegen uns unternehmen.« Seine Stimme klang so kalt und scharf, daß Verity ein Schauer über den Rücken lief. »Diesmal wollen wir ein ganz großes Ding drehen – und wer sich uns dabei in den Weg stellt, wird erledigt. Verstanden?«

      Tom Maple nickte, und es trat eine kleine Pause ein.

      »Wo ist er eigentlich?«

      »Er wartet an der nächsten Straßenecke. Wollen Sie mit uns kommen und ihn begrüßen?«

      Maple schüttelte den Kopf.

      »Nein, ich weiß schon, daß er dort ist – das bezweifle ich nicht«, sagte er bitter.

      Ohne ein weiteres Wort drehten sie ihm den Rücken zu und verschwanden durch das Gartentor. Tom Maple wandte sich seufzend um und ging ins Haus zurück.

      Verity war überrascht und bestürzt. Was hatte das alles zu bedeuten? Welchen Einfluß hatten diese Leute auf ihren Onkel? Wer war dieser geheimnisvolle Mann, der das Haus nicht betreten wollte? Einen Augenblick zögerte sie, dann lief sie schnell zur Gartentür und folgte den beiden Männern, die noch keinen großen Vorsprung hatten.

      Als sie das Ende der Straße erreichten, kam der Mann, der unter der Laterne gewartet hatte, von der anderen Straßenseite zu ihnen herüber. Die drei blieben stehen. Klopfenden Herzens ging Verity weiter; das Gespräch der drei verstummte, und als sie die Männer passierte, drehte sich einer von ihnen nach ihr um. Zu ihrem Schrecken sah sie, es war – Mr. Helder. Hastig eilte sie weiter und hoffte, daß er sie nicht erkannt habe.

      Als sie in die nächste Seitenstraße einbog, warf sie einen Blick zurück. Helder folgte ihr! Schnell bog sie um die Ecke und schlüpfte in den nächsten Hauseingang. Eine Zeitlang stand sie dort atemlos und horchte angespannt. Zu ihrer größten Beruhigung näherten sich aber keine Schritte, und als sie nach einigen Minuten vorsichtig auf die Straße spähte, war kein Mensch zu sehen. So schnell sie konnte, lief sie nach Hause.

      Als sie in die Küche trat, saß ihr Onkel wie gewöhnlich am Tisch, sie bemerkte aber sofort, daß ihn irgend etwas beunruhigte. Er begrüßte sie so geistesabwesend, daß sie immer besorgter wurde; trotzdem schien es ihr ratsam, vorerst nichts von dem zu sagen, was sie gesehen und gehört hatte. Sie bereitete das Abendessen, und erst als sie den Tisch deckte, sah er auf.

      »Verity, ich werde es doch tun, was auch immer geschehen mag!«

      Sie wartete, daß er ihr jetzt alles erzählen würde, doch er sagte noch einige wenige Sätze halb zu sich selbst: »Sie glauben, daß sie mich in ihrer Gewalt haben. Aber ich werde es ihnen schon zeigen – sie sollen noch ihr blaues Wunder erleben!«

      Als sie sich nach dem Essen erhob und abräumen wollte, drehte er sich nach ihr um.

      »Vergiß den Mann nicht, von dem wir gesprochen haben«, sagte er mit eigenartiger Betonung.

      »Mr. Comstock Bell?«

      »Ja, Comstock Bell.«