Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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seine Flamme nicht so hoch, um Europa zu erhellen, aber sie brennt rein und schön in diesen jungen Seelen, die bereit sind für jede Leidenschaft, aber nur noch nicht den Augenblick gefunden haben, sie zu entflammen.

      Und wie Johann Christof Italien zu lieben beginnt, beginnt er auch schon sich vor dieser Liebe zu fürchten. Er spürt, daß auch dieses Land ihm notwendig war, um in seiner Musik wie in seinem Leben das Ungestüm der Sinnlichkeit zu einer reinen Harmonie zu verklären, er begreift wie notwendig diese südliche Welt für die nordische ist, und sieht erst im Dreiklang das Wesen jeder Stimme erfüllt. Es ist hier weniger Wahn und mehr Wirklichkeit, aber sie ist zu schön: sie lockt zum Genuß, sie tötet die Tat. Wie für Deutschland sein eigener Idealismus Gefahr wird, weil er sich allzusehr verbreitet und im Mittelmenschen zur Lüge wird, wie Frankreich seine Freiheit verhängnisvoll wird, weil sie den einzelnen absperrt in seine Idee von Unabhängigkeit und ihn der Gemeinschaft entfremdet, so ist für Italien die eigene Schönheit Gefahr, weil sie allzu lässig macht, allzu nachgiebig und allzu zufrieden. Jeder Nation ist (wie jedem Menschen) immer das Persönlichste ihres Wesens, gerade also das, was die andern am meisten belebt und fördert, verhängnisvoll, und darum scheint es im Sinne der Rettung eines jeden Volkes und eines jeden Menschen, sich möglichst viel Gegensätzlichem zu verbinden, um sich dem höchsten Ideale nahe zu bringen: das Volk der europäischen Einheit, der Mensch der Universalität. Und so träumt auch hier in Italien wie in Frankreich und in Deutschland der alternde Johann Christof denselben Traum, den der zweiundzwanzigjährige Rolland zum ersten Male von der Höhe des Janikulus in sich gestaltet fühlte: den Traum der europäischen Symphonie, den bisher nur der Dichter in seinem Werke für alle Nationen erfüllte, den die Nationen aber selbst noch nicht verwirklicht haben.

      Die Vaterlandslosen

       Inhaltsverzeichnis

      Inmitten der drei gegensätzlichen Nationen, von denen sich Christof bald angezogen, bald abgestoßen fühlt, begegnet er überall einem einheitlichen Element, den Nationen angepaßt und doch nicht ganz darin verloren: den Juden. »Merkst du«, sagt er einmal zu Olivier, »daß wir es immer mit Juden zu tun haben, einzig und allein mit Juden? Man könnte meinen, wir zögen sie an, überall sind sie auf unserem Wege, als Feinde und als Verbündete.« Wirklich, überall begegnet er ihnen. In seiner Heimatstadt sind die reichen jüdischen Snobs um den »Dionysos« (freilich zu eigensüchtigen Zwecken) seine ersten Förderer, der kleine Sylvain Kohn sein Pariser Mentor, Lévy-Coeur sein erbittertster Feind, Weill und Mooch seine hilfreichsten Freunde: ebenso stoßen Olivier und Antoinette in Freundschaft und Feindschaft immer auf Juden. An jedem Kreuzweg des Künstlers sind sie als Wegzeiger zum Rechten wie zum Schlechten gestellt.

      Christofs erstes Gefühl ist Widerstand. Ohne daß sich seine freie Natur in irgendein Gemeinschaftsgefühl des Hasses einengen ließe, hat er doch die von seiner frommen Mutter schon übernommene Abneigung und persönlich ein Mißtrauen, daß die allzu Nüchternen wirklich um sein Werk und Wesen wüßten. Aber immer muß er es wieder erfahren, daß sie die einzigen sind, die sich um sein Werk, um das Neuartige wenigstens bemühen.

      Olivier, der Klarere von beiden, gibt ihm die Erklärung: er zeigt ihm, daß hier die Traditionslosen unbewußt die Wegmacher jedes Neuen sind, die Vaterlandslosen die besten Helfer gegen den Nationalismus. »Die Juden sind bei uns fast die einzigen, mit denen ein freier Mann etwas Neuartiges, etwas Lebendiges besprechen kann. Die anderen sitzen in der Vergangenheit, in toten Dingen fest. Verhängnisvollerweise besteht diese Vergangenheit für die Juden überhaupt nicht oder sie ist zumindest nicht die gleiche wie für uns. Mit ihnen können wir über das Heute sprechen, mit unseren Stammesgenossen nur von gestern… Ich sage nicht, daß mir immer sympathisch ist, was sie machen, oft ist es mir sogar widerwärtig. Aber zumindest leben sie und wissen die Lebendigen zu verstehen… Die Juden sind im heutigen Europa die zähesten Agenten alles Guten und alles Bösen. Sie befördern unbewußt das Samenkorn des Gedankens. Hast du unter ihnen nicht deine schlimmsten Feinde und deine ersten Freunde gefunden?«

      Und Christof gibt ihm recht. »Es ist wahr, sie haben mich ermutigt, unterstützt, mir Worte gesagt, die den Kämpfenden belebten, weil sie mir zeigten, daß ich verstanden war. Allerdings sind mir von jenen Freunden wenige verblieben: ihre Freundschaft ist nur ein Strohfeuer gewesen. Gleichviel! Solch vorüberwehender Schein ist viel wert in der Nacht. Du hast recht: seien wir nicht undankbar.«

      Und er ordnet sie ein, die Vaterlandslosen, in sein Bild der Vaterländer. Nicht, daß er die Fehler der Juden verkennt: er sieht wohl, daß sie kein produktives Element im höchsten Sinne für die europäische Kultur bedeuten, daß ihr tiefstes Wesen Analyse und Zersetzung ist. Aber eben das Zersetzende erscheint ihm wichtig, weil sie die Traditionen – den Erbfeind alles Neuen – unterminieren, weil ihre Vaterlandslosigkeit die Stechfliege ist, die den »ruppigen Hornviehnationalismus« aus seinen geistigen Grenzen treibt: ihre Zersetzung ist Sprengmittel des schon Abgestorbenen, des »ewig Gestrigen« und befördert neuen Geist, den sie selbst nicht zu schaffen vermögen. Die Vaterlandslosen sind die besten Helfer des zukünftigen »guten Europäers«. In vielem fühlt sich Christof von ihnen abgestoßen, der Lebensgläubige von ihrer Skepsis, der Heitere von ihrer Ironie, der Mann der unsichtbaren Ziele von ihrem Materialismus, aber der Starke spürt in ihnen den starken Willen, der Lebendige die Lebendigen, den »Gärungsstoff der Tat, den Sauerteig des Lebens«. Der Heimatlose sieht sich von den Vaterlandslosen in manchem am tiefsten, immer aber am raschesten verstanden, der freie Weltbürger versteht wiederum ihre letzte Tragik, das Losgelöstsein von allem, selbst von sich selbst. Er sieht, daß sie als Mittel wertvoll sind, obwohl sie selbst kein Ziel bedeuten, daß sie, wie alle Nationen und Rassen, gebunden werden müssen durch einen Gegensatz, daß diese »hypernervösen, aufgeregten Wesen eines Gesetzes bedürfen, das sie bindet. Die Juden sind wie die Weiber, ausgezeichnet, wenn man sie am Zügel hält, aber beider Herrschaft wäre unerträglich«. So wenig wie der französische, der deutsche Geist dürfte der ihre zum Gesetz werden: aber er will die Juden nicht anders, als sie sind. Jede Rasse ist notwendig durch das Prononzierte ihres Wesens zur Bereicherung irdischer Vielfalt und damit zur Steigerung des Lebens. Alles hat – der alternde Christof schließt ja Frieden mit der Welt – seinen bestimmten Sinn im Ganzen und in der großen Harmonie jeder einzelne starke Ton seinen Wert. Was einzeln sich befeindet, hilft das Ganze binden, auch das Niederreißende ist notwendig für den neuen Bau, der analytische Geist die Vorbedingung des synthetischen. Und so grüßt er die Vaterlandslosen in den Vaterländern als Helfer zum Werke des neuen allmenschlichen Vaterlandes, er nimmt sie auf in den europäischen Traum, dessen fernem rauschendem Rhythmus sein freies Blut sehnsüchtig entgegenschwingt.

      Die Generationen

       Inhaltsverzeichnis

      Hürde und Hürde also um die ganze Menschenherde, und sie alle muß der wirklich Lebendige zerbrechen, um frei zu sein; Hürde des Vaterlands, das ihn abschließt von den anderen Völkern, Hürde der Sprache, die sein Denken einzwängt. Hürde der Religion, die ihn unverstehend macht für anderen Glauben, Hürde des eigenen Wesens, das mit Vorurteil und falsch Gelerntem den Weg in die Wirklichkeit sperrt. Furchtbare Absonderung: die Völker verstehen einander nicht, die Rassen, die Konfessionen, die einzelnen Menschen verstehen einander nicht, weil sie alle abgesondert sind, jeder erlebt nur Teil des Lebens, Teil der Wahrheit, Teil der Wirklichkeit, und jeder hält sein Stück für die Wahrheit.

      Der freie Mensch aber – »frei vom Wahn des Vaterlandes, des Glaubens und der Rasse« – selbst er, der allen Kerkern entronnen zu sein meint, entflieht einem letzten Kreise nicht: er ist in seine Zeit gebunden, an seine Generation gefesselt, denn Generationen sind die Stufen des Aufstiegs der Menschheit, jedes Geschlecht baut die ihren an die früheren an, es gibt da kein Voraus und Zurück, jede hat ihre Gesetze, ihre Form, ihre Sitten, ihren inneren Gehalt. Und das Tragische dieser unentrinnbaren Gemeinschaft ist, daß nicht eine Generation an die andere friedlich anschließt, ihre Resultate ausbaut, sondern daß sie – ganz wie die Menschen, ganz wie die Nationen – von feindlichen Vorurteilen gegen die nachbarlichen erfüllt ist.