Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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moralischen und metaphysischen Notwendigkeiten gehorsam verbergen – nur ein Land, das allen Gemeinsame, das Mutterland aller Vaterländer, das heilige Europa hat keinen Sprecher, keinen Vertreter. Nur eine Idee, die selbstverständlichste einer christlichen Welt, bleibt ohne Anwalt, die Idee der Ideen, die der Menschlichkeit.

      In diesen Tagen mag Rolland aus vergangener Zeit die Stunde wieder heilig bewußt geworden sein, da er wie eine Botschaft für sein ganzes Leben jenen Brief Leo Tolstois empfing. Tolstoi war der einzige gewesen, der in dem berühmten Aufschrei »Ich kann nicht länger schweigen« inmitten eines Krieges in seinem Vaterlande aufgestanden war und die Rechte des Menschen gegen die Menschheit verteidigte, der Protest erhoben hatte gegen ein Gebot, das Brüdern den Mord der Brüder befahl. Nun war seine reine Stimme verklungen, die Stelle war leer, das Gewissen der Menschheit stumm. Und Rolland empfindet das Schweigen, das entsetzliche Schweigen des freien Geistes im Getümmel der Knechte furchtbarer als den Donner der Kanonen. Die er zu Hilfe rief haben ihn verlassen. Die letzte Wahrheit, die des Gewissens, hat keine Gemeinsamkeit, niemand hilft ihm, für die Freiheit des europäischen Geistes zu kämpfen, für die Wahrheit inmitten der Lüge, für die Menschlichkeit gegen den wahnwitzigen Haß. Er ist wieder allein mit seinem Glauben, mehr allein als in den bittersten Jahren seiner Einsamkeit.

      Aber Alleinsein hat für Rolland nie Resignation bedeutet. Zuschauen, wie ein Unrecht tätig wirkt, ohne Einspruch zu erheben, hat schon dem jungen Dichter so verbrecherisch geschienen wie das Unrecht selbst. »Ceux qui subissent le mal sont aussi criminels que ceux qui le font.« Und keiner so sehr wie der Dichter scheint ihm die Verantwortung zu haben, dem Gedanken das Wort zu geben und das Wort durch die Tat zu verlebendigen. Die bloße Arabeske zur Zeitgeschichte zu schreiben ist zu wenig: erlebt der Dichter die Zeit vom Mittelpunkt seines Seins, dann ist es seine Verpflichtung, für die Idee seines Seins zu wirken, die Idee lebendig zu machen. »Die Elite des Geistes stellt eine Aristokratie dar, die vorgibt, jene des Blutes zu ersetzen. Aber sie vergißt, daß jene damit begann, ihre Privilegien mit dem Blute zu bezahlen. Seit Jahrhunderten hören die Menschen viele Worte der Weisheit, aber selten sehen sie die Weisen sich aufopfern. Um die anderen gläubig zu machen, muß man beweisen, daß man selbst glaubt. Es genügt nicht, bloß Worte zu sprechen.« Der Ruhm ist nicht nur ein sanfter Lorbeerkranz, er ist auch ein Schwert. Glaube verpflichtet: wer einen Johann Christof das Evangelium eines freien Gewissens sprechen ließ, darf sich nicht verleugnen, wenn die Welt ihm das Kreuz bereitet hat, er muß das Apostolat auf sich nehmen und gegebenenfalls das Märtyrertum. Und während fast alle Künstler der Zeit in ihrer überreizten »passion d’abdiquer«, in ihrer Leidenschaft, die eigene Meinung wegzuwerfen und sich ganz in der Massenmeinung willenlos aufzulösen, die Gewalt, die Macht, den Sieg nicht nur als den Herrn der Stunde bejubeln, sondern sogar als Sinn der Kultur, als Lebenskraft der Welt, stellt sich hier das unbestechliche Gewissen schroff gegen alle.

      »Jede Gewalt ist mir verhaßt«, schreibt Rolland in jenen entscheidenden Zeiten an Jouve, »kann die Welt nicht ohne Gewalt auskommen, so ist es meine Pflicht, nicht mit ihr zu paktieren, sondern ein anderes, entgegengesetztes Prinzip darzustellen, das jenes aufhebt. Jedem seine Rolle, jeder gehorche seinem Gott.« Nicht einen Augenblick ist er sich im unklaren, wie groß der Kampf ist, den er aufnimmt, aber das Jugendwort klingt noch in seiner Brust: »Unsere erste Pflicht ist, groß zu sein und die Größe auf Erden zu verteidigen.«

      Wieder wie damals, als er mit seinen Dramen einem Volke den Glauben wiedergeben wollte, als er die Bilder der Heroen über eine kleine Zeit erhob, als er in dem Werk eines schweigenden Jahrzehnts die Völker zur Liebe und zur Freiheit aufrief, wieder beginnt er allein. Keine Partei ist um ihn, keine Zeitung, keine Macht zu seiner Verfügung. Er hat nichts als seine Leidenschaft und jenen wunderbaren Mut, dem das Aussichtslose nicht Abschreckung, sondern Anreiz ist. Allein beginnt er den Kampf gegen den Wahnwitz von Millionen. Und in diesem Augenblick lebt das europäische Gewissen – mit Haß und Hohn verjagt aus allen Ländern und Herzen – einzig in seiner Brust.

      Die Manifeste

       Inhaltsverzeichnis

      Zeitungsaufsätze sind die Form seines Kampfes: um der Lüge und ihrem öffentlichen Ausdruck, der Phrase, entgegenzutreten, muß Rolland sie auf ihrem eigenen Kampfplatz aufsuchen. Aber die Intensität der Ideen, die Freiheit ihrer Meinung, die Autorität seines Namens macht diese Aufsätze zu Manifesten, die Europa überfliegen und einen geistigen Waldbrand entzünden. Wie elektrische Funken an unsichtbaren Drähten laufen sie weiter, hier furchtbare Explosionen des Hasses herbeiführend, dort hell hinableuchtend in die Tiefen freier Gewissen, immer aber Wärme, Erregung in den polarsten Formen der Entrüstung und Begeisterung erzeugend. Niemals vielleicht haben Zeitungsaufsätze eine so gewitterhafte, zündende und reinigende Wirkung gehabt wie diese zwei Dutzend Aufrufe und Manifeste eines einzelnen freien, klaren Menschen in einer geknechteten und verwirrten Zeit.

      Künstlerisch zählen diese Aufsätze selbstverständlich nicht gleich den überlegten, ausgefeilten, komponierten Werken. Auf weiteste Kreise berechnet, eingeengt durch den Gedanken an die Zensur (denn es war Rolland vor allem wichtig, daß die Aufsätze, die er im »Journal de Genève« veröffentlichte, auch in der Heimat gelesen würden), müssen sie die Gedanken zugleich mit Bedacht und mit Eile entwickeln. Sie enthalten wunderbare, unvergeßliche Schreie, sublime Stellen der Empörung und Beschwörung, aber sie sind Produkte der Leidenschaft, ungleich darum im Sprachlichen, oft auch gebunden an das gelegentliche Geschehnis. Ihr Wert liegt weitaus im Moralischen: hierin sind sie eine einzige und unvergleichliche Leistung. Künstlerisch fügten sie dem Werke Rollands kaum mehr als einen neuen Rhythmus an: ein gewisses Pathos des öffentlichen Sprechers, eine heroisch gehobene Rede, die bewußt zu Tausenden und Millionen spricht. Denn in diesen Aufsätzen redet nicht ein einzelner, sondern das unsichtbare Europa, als dessen Kronzeuge und öffentlichen Verteidiger Romain Rolland sich zum ersten Male fühlt.

      Was sie in unsrer Welt damals bedeutet haben, wird das eine spätere Generation, die sie nun gesammelt in den Bänden »Au-dessus de la Mêlée« und »Les Précurseurs«, liest, überhaupt noch ermessen können? Man vermag eine Kraft nie zu berechnen, ohne ihren Widerstand, eine Tat nie ohne ihr Opfer. Um die moralische Bedeutung, den heroischen Charakter dieser Manifeste würdigen zu können, muß man den (heute kaum mehr faßlichen) Irrsinn des ersten Kriegsjahres, die geistige Epidemie ganz Europas, das intellektuelle Narrenhaus sich vergegenwärtigen. Muß sich erinnern, daß Maximen, die uns heute das Banalste scheinen, wie zum Beispiel, daß nicht alle Menschen einer Nation für den Ausbruch eines Krieges verantwortlich seien, als strafwürdige politische Verbrechen galten, muß sich vergegenwärtigen, daß ein Buch wie dieses heute uns selbstverständliche »Au-dessus de la Mêlée« vom Staatsanwalt ein »niederträchtiges« genannt wurde, daß der Autor verfemt war, die Aufsätze lange verboten gewesen sind, während eine Schar von Pamphleten gegen dieses freie Wort ungehindert ihren Weg nahm. Man muß sich zu diesen Aufsätzen immer die Atmosphäre, das Schweigen der anderen hinzudenken, um zu verstehen, daß sie so laut hallten, weil sie in eine ungeheure geistige Leere hineingesprochen waren, und wenn heute ihre Wahrheiten leicht als selbstverständlich abgetan werden können, sich an das wundervolle Wort Schopenhauers erinnern, »der Wahrheit ist auf Erden nur ein kurzes Siegesfest verstattet zwischen zwei langen Zeiträumen, in denen sie als paradox verspottet oder als banal mißachtet wird«. Heute mag (für einen flüchtigen Augenblick) der Zeitpunkt gekommen sein, wo viele dieser Worte als banal gelten werden, weil sie inzwischen von tausenden Nachschreibern kleingemünzt wurden. Wir aber haben sie zu einer Zeit gekannt, da jedes dieser Worte wie ein Peitschenschlag wirkte, und die Empörung, die sie damals verursachten, bezeugt das historische Maß ihrer Notwendigkeit. Nur die Wut der Gegner (heute noch erkenntlich in einer Flut von Broschüren) gibt Ahnung von dem Heroismus dieses Mannes, der sich zum erstenmal mit seiner freien Seele »über das Getümmel« erhob. Vergessen wir es nicht: »Dire ce qui est juste et humain«, zu sagen, »was gerecht und menschlich ist«, galt damals als das Verbrechen der Verbrechen. Denn damals war die Menschheit so toll vom ersten Blute, daß sie, wie Rolland einmal so wundervoll sagte: »Jesum Christum, wenn er auferstanden wäre, noch einmal gekreuzigt hätte, weil er sagte: Liebet einander.«