Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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»Man gewinnt etwas lieb, und kaum ist es einem vom Grunde lieb geworden, so sagt der Tyrann in uns (den wir sogar unser höheres Selbst nennen möchten): Gerade das gib mir zum Opfer. Und wir geben es auch, aber es ist Tierquälerei dabei und Verbranntsein mit langsamem Feuer.« Und wie Aufschrei flüchtenden, vom Pfeil getroffenen Wildes klingt es gell, wenn Nietzsche, der zum Erkennen Getriebene, der Ruhelose, aufschreit: »Es gibt überall Gärten Armidens für mich und daher immer neues Losreißen und neue Bitterkeiten des Herzens. Ich muß den Fuß heben, den müden, verwundeten Fuß, und weil ich muß, so habe ich oft für das Schönste, das mich nicht halten konnte, einen grimmigen Rückblick – weil es mich nicht halten konnte!«

      Solche Schreie von innen, solch urmächtiges Aufstöhnen aus der letzten Tiefe des Leidens vermißt man vollkommen in alldem, was sich vor Nietzsche in Deutschland Philosophie genannt hat: bei den mittelalterlichen Mystikern vielleicht, bei den Häretikern und Heiligen der Gotik bricht manchmal ähnliche Schmerzensinbrunst durch dunkelgewandetes Wort. Pascal, auch einer, der mit der ganzen Seele im Fegefeuer des Zweifels steht, kennt diese Aufgewühltheit, diese Zernichtung der suchenden Seele, niemals aber, weder bei Leibniz, noch bei Kant, Hegel und Schopenhauer, erschüttert uns dieser elementare Ton. Denn so rechtlich diese wissenschaftlichen Naturen auch sind, so tapfer, so entschlossen ihre Anspannung auf das Ganze wirkt – sie werfen sich doch nicht dermaßen mit ihrem ganzen ungeteilten Wesen, mit Herz und Eingeweiden und Nerven und Fleisch, mit ihrem ganzen Schicksal in das heroische Spiel um die Erkenntnis. Sie brennen immer nur so, wie Kerzen brennen, nur oben, nur zu Häupten, nur mit dem Geist. Ein Teil, der weltliche, der private und damit auch das Persönlichste ihrer Existenz, bleibt immer schicksalsgesichert, indes Nietzsche sich voll und ganz riskiert, er, der sich unaufhörlich nicht »bloß mit den Fühlhörnern des kalten neugierigen Gedankens«, sondern mit der ganzen Wucht seines Schicksals in die Gefahr wirft. Seine Gedanken kommen nicht bloß von oben, aus dem Gehirn, sondern sind herausgefiebert aus einem gehetzten, aufgestachelten Blute, aus zitternd gereizten Nerven, aus unersättlichen Sinnen, aus dem ganzen Zusammenfassen des Lebensgefühls: darum ballen seine Erkenntnisse wie jene Pascals sich »zu einer leidenschaftlichen Seelengeschichte« tragisch auf, sie werden eine gesteigerte Folge gefährlicher und fast tödlicher Abenteuer, ein Lebensdrama, das wir erschüttert miterleben (indes jene andern Philosophen-Biographien nicht um einen Zoll das geistige Bild erweitern). Und doch, selbst in bitterster Not möchte er sein Leben, sein »gefährliches Leben« nicht mit ihrem geordneten vertauschen, denn gerade, was die andern in ihrer Erkenntnis suchen, eine Aequitas animae, eine gesicherte Seelenrast, einen Schutzwall gegen das überströmende Gefühl, das haßt Nietzsche als Minderung der Vitalität. Ihm, dem Tragiker, dem heldischen Menschen, geht es nicht um das »elende Ringen um das Dasein«, um erhöhte Sicherheit, um eine Brustwehr gegen das Erleben. Nur keine Sicherheit, nur nie ein Befriedigtsein, ein Sich-Genügen! »Wie kann man in der ganzen wundervollen Ungewißheit und Vieldeutigkeit des Daseins stehen und nicht fragen, nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens«, so höhnt er den Häuslichen, den rasch Zufriedenen hochmütig entgegen. Mögen sie erfrosten in ihren Gewißheiten, ruhig sich einkapseln in die Muschelschalen ihrer Systeme: ihn lockt nur die gefährliche Flut, das Abenteuer, das ewige Entzücken und die ewige Enttäuschung. Mögen sie weiter ihre Philosophie treiben im gewärmten Haus ihres Systems wie ein Geschäft, ehrlich und sparsam ihren Besitz zum Reichtum mehrend: ihn lockt nur das Spiel, der Einsatz des Letzten, der eigenen Existenz. Denn nicht einmal sein eigenes Leben lüstet es ihn, den Abenteurer, zu besitzen: auch hier will er noch ein heroisches Mehr: »Auf die ewige Lebendigkeit kommt es an, nicht auf das ewige Leben.«

      Mit Nietzsche erscheint die schwarze Freibeuterflagge des Piraten zum erstenmal auf den Meeren der deutschen Erkenntnis: ein Mensch anderer Art, anderen Stammes, Philosophie nicht mehr im wissenschaftlichen Kathedertalar, sondern kriegerisch gepanzert und bewehrt. Die andern vor ihm, gleichfalls kühne und heldenhafte Seefahrer des Geistes, hatten Kontinente und Reiche entdeckt, aber gewissermaßen in einer zivilisatorischen, einer nutzhaften Absicht, um sie der Menschheit zu erobern, die Landkarte weiter in die Terra incognita des Denkens zu ergänzen. Sie pflanzen die Fahnen in ihrem eroberten Neuland auf, bauen Städte, Tempel und neue Straßen in das neue Unbekannte, und hinter ihnen kommen die Gouverneure und Verwalter, das Gewonnene zu pflügen und zu ernten, die Kommentatoren und Professoren, die Menschen der Bildung. Aber ihrer Mühe letzter Sinn war immer Ruhe, Frieden und Sicherung: sie wollen Normen und Gesetze, also eine höhere Ordnung verbreiten. Nietzsche dagegen bricht in die deutsche Philosophie wie die Flibustier am Ende des 16. Jahrhunderts in die spanische Welt, ein Schwarm wilder, verwegener, zuchtloser Desperados ohne Nation, ohne Herrscher, ohne König, ohne Flagge, ohne Heim und Aufenthalt. Wie jene erobert er nichts für sich und für keinen andern nach ihm, weder für einen Gott, noch einen König, noch einen Glauben, sondern einzig um der Freude der Eroberung willen, denn er will nichts besitzen, erwerben, erringen. Ihn, den leidenschaftlichen Störenfried aller »braunen Ruhe«, aller Behaglichkeit lüstet es einzig, die gesicherte, genießerische Ruhe der Menschen zu zerstören, mit Feuer und Schreck Wachheit zu verbreiten, die ihm so kostbar ist wie den Friedensmenschen der dumpfe, braune Schlaf. Hinter ihm sind, wie nach jener Flibustierfahrt, erbrochene Kirchen, entweihte jahrtausendalte Heiligtümer, gestürzte Altäre, geschändete Sentiments, gemordete Überzeugungen, erbrochene Moralhürden, ein brennender Horizont, ein ungeheures Fanal der Kühnheit und der Kraft. Aber er wendet sich nie zurück, weder um sich des Gewonnenen zu freuen, noch um es zu besitzen: das Unbekannte, nie Eroberte, nie Erkannte ist seine unendliche Zone, das Entladen seiner Kraft, das »Aufstören der Schläfrigkeit« seine einzige Lust. Keinem Glauben gehörig, keinem Lande verschworen, die schwarze Flagge des Immoralisten auf dem umgestürzten Mast, vor sich das heilige Unbekannte, ewig Ungewisse, dem er sich dämonisch verschwistert fühlt, rüstet er unablässig zu neuen gefährlichen Fahrten. Und einsam in allen Gefahren singt er sich selber zum Ruhme seinen herrlichen Piratengesang, sein Flammenlied, sein Schicksalslied:

       Ja, ich weiß, woher ich stamme, Ungesättigt gleich der Flamme Glühe und verzehr ich mich, Licht wird alles, was ich fasse, Kohle alles, was ich lasse, Flamme bin ich sicherlich –.

      Leidenschaft der Redlichkeit

       Inhaltsverzeichnis

       Nur ein Gebot gilt dir: Sei rein.

      Passio nuova oder Leidenschaft der Rechtlichkeit«, so sollte der Titel eines von Nietzsche früh geplanten Buches lauten. Er hat es nie geschrieben, aber – was mehr ist – er hat es gelebt. Denn leidenschaftliche Redlichkeit, eine fanatisch, eine passionierte, bis zur Qual emporgespannte Wahrhaftigkeit ist die schöpferische Urzelle von Nietzsches Wachstum und Verwandlung.

      Redlichkeit, Rechtlichkeit, Reinlichkeit – man ist ein wenig überrascht, gerade bei dem »Amoralisten« Nietzsche keinen absonderlicheren Urtrieb zu entdecken als gerade, was auch Bürger stolz ihre Tugend nennen – Ehrlichkeit, Redlichkeit bis ans kühle Grab, eine rechte und echte Armeleute-Tugend des Geistes also, ein durchaus mittleres und konventionelles Gefühl. Aber bei Gefühlen ist die Intensität alles, der Inhalt nichts; und dämonischen Naturen ist es gegeben, auch den längst eingefriedeten und temperierten Begriff noch einmal empor in eine unendliche Anspannung zurückzureißen. Sie geben selbst den unbetontesten, den abgenutztesten Elementen das Feuerfarbene und Ekstatische des Überschwangs: was ein Dämonischer ergreift, wird immer wieder neu chaotisch und voll unbändiger Gewalt. Darum hat die Redlichkeit eines Nietzsche nicht das mindeste zu tun mit der ins Korrekte abgeflauten Rechtlichkeit der Ordnungsmenschen – seine Wahrheitsliebe ist ein Wahrheitsdämon, ein Klarheitsdämon, ein wildes, jagdhaftes, beutegieriges Raubtier mit den feinsten Instinkten der Witterung und den gewalttätigsten der Raublust. Eine Nietzsche-Rechtlichkeit hat nicht ein Zollbreit mehr gemein mit dem haustierhaften, gezähmten, durchaus temperierten Vorsichtsinstinkt der Händler und ebensowenig mit der vierschrötigen bullenhaften Michael-Kohlhaas-Redlichkeit mancher Denker, die, mit Scheuklappen, nur auf eine, nur auf ihre Wahrheit tollwütig losstürzen. So gewalttätig, so brutal oft Nietzsches Wahrheitsleidenschaft ausbrechen mag, so ist sie doch immer zu nervenhaft, zu kultiviert, um je borniert zu werden: niemals rennt sie sich fest, niemals hakt sie sich ein, sondern durchaus flammenhaft zuckt sie weiter von Problem zu Problem, jedes