Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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peitschenden Erleuchtungen und Verkündungen. Ein Gott, so fühlt er ganz wie der geistgeblendete Hölderlin, ein Gott ist über ihm, ein feuriger Gott, dessen Blick die Augen nicht ertragen und dessen Anhauch verbrennt… immer hebt sich der Zitternde auf, sein Antlitz zu erkennen, und lose stürzen ihm die Gedanken auseinander… Denn er, der dies Unsagbare fühlt und dichtet und leidet… ist er – ist er nicht selber Gott… ist wieder ein Gott der Welt, nachdem er den andern getötet… Wer, wer ist er?… Ist er der Gekreuzigte, der tote Gott oder der lebendige… Der Gott seiner Jugend, Dionysos… oder ist er beides zugleich, der gekreuzigte Dionysos… Immer mehr verwirren sich die Gedanken, der Strom braust zu laut von zu viel Licht… Ist es noch Licht? Ist es nicht Musik? Das kleine Zimmer im vierten Stock der Via Alberto beginnt zu tönen, alle Sphären leuchten und schwingen, alle Himmel sind verklärt… Oh, welche Musik: die Tränen fluten ihm in den Bart, warm, heiß… oh, welche göttliche Zärtlichkeit, welches smaragdene Glück… Und jetzt… wieviel Helligkeit… Und unten auf der Straße, alle Menschen lächeln ihm zu… wie sie aufsehen und ihn grüßen, und die Hökerin dort, sie sucht die schönsten Äpfel aus dem Korbe… alles beugt sich und neigt sich vor ihm, dem Mörder Gottes, alles jubelt, jubelt… warum?… Ja, er weiß, er weiß es, der Antichrist ist erschienen, und sie singen »Hosianna, Hosianna«… alles dröhnt, die Welt dröhnt von Jubel, vor Musik… Und dann plötzlich alles stumm… Irgend etwas ist gefallen… Er selbst ist es ja… hingefallen vor dem Haus… Irgend jemand trägt ihn hinauf… jetzt ist er wieder in dem Zimmer… hat er lange geschlafen, es ist so dunkel… dort das Klavier, Musik! Musik!… Und dann plötzlich Menschen im Zimmer… ist es nicht Overbeck… aber der ist doch in Basel, und er, er ist… wo?… Er weiß es nicht mehr… Warum sehen sie ihn so fremd, so besorgt an… und dann ein Wagen, ein Wagen… wie die Schienen rattern, so seltsam rattern, als wollten sie singen… ja… sein Gondellied singen sie, und er singt es mit ihnen… singt es im unendlichen Dunkel…

      Und dann lange in einem Zimmer ganz anderswo, immer dunkel, immer dunkel. Nie mehr die Sonne, nie mehr das Licht, nicht innen, noch außen. Irgendwo unter ihm reden noch Menschen. Eine Frau – ist es nicht die Schwester? Die ist doch fort, ganz fort im Lamaland? – liest ihm vor aus Büchern… Bücher? Hat er nicht auch Bücher geschrieben? Irgend jemand antwortet mild. Aber er versteht es nicht mehr. Wem solcher Orkan durch die Seele gebraust, ist taub für alles Menschenwort. Wem der Dämon so tief ins Auge gesehen, der bleibt geblendet.

      Der Erzieher zur Freiheit

       Inhaltsverzeichnis

       Größe heißt: Richtung geben.

      Nach dem nächsten europäischen Kriege wird man mich verstehen« – mitten aus den letzten Schriften springt dieses prophetische Wort. Denn wirklich, den wahren Sinn, die historische Notwendigkeit des großen Mahners versteht man erst aus dem gespannten, unsicheren und gefährlichen Zustand unserer Welt um die Jahrhundertwende: in diesem atmosphärischen Genie hat sich der ganze Druck der moralischen Dumpfheit Europas gewaltsam entladen – das herrlichste Gewitter des Geistes vor dem furchtbarsten Gewitter der Geschichte. Nietzsches »weitdenkender« Blick sah die Krise, indes die andern sich an allen gefälligen Feuern der Phrase häuslich wärmten, und sah ihre Ursache: die »nationale Herzenskrätze und Blutvergiftung, um derentwillen sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen absperrt«, den »Hornviehnationalismus« ohne höheren Gedanken als den selbstischen der Historie, indes ungestüm alle Kräfte schon zu höherer, zu zukünftiger Verbindung drängten. Und zornig bricht die Verkündigung einer Katastrophe aus seinem Mund, wie er die krampfigen Versuche sieht, »die Kleinstaaterei Europas zu verewigen«, eine Moral zu verteidigen, die nur auf Interessen und Geschäft beruht. »Dieser absurde Zustand soll nicht mehr lange dauern«, schreibt sein Finger feurig an die Wand, »das Eis, das uns trägt, ist so dünn geworden: wir fühlen alle den warmen gefährlichen Atem des Tauwinds«. Niemand hat so wie Nietzsche das Knistern im europäischen Gesellschaftsbau gefühlt, niemand so verzweifelt in einer Zeit optimistischer Selbstgefälligkeit den Schrei zur Flucht, zur Flucht in die Redlichkeit, in die Klarheit, zur Flucht in die höchste intellektuelle Freiheit über Europa hingeschrien. Keiner so stark gefühlt, daß eine Zeit abgelebt und abgestorben war und in tödlicher Krise ein Neues und Gewaltsames beginnt: nun erst wissen wir es mit ihm.

      Diese tödliche Krise, er hat sie tödlich vorgedacht, tödlich vorgelebt: das ist seine Größe, sein Heldentum. Und die ungeheure Spannung, die seinen Geist ins Äußerste quälte und schließlich auseinanderriß, band ihn mit höherem Element: sie war nichts anderes als das Fieber unserer Welt, ehe die Blutbeule aufbrach. Immer fliegen ja Sturmvögel des Geistes den großen Revolutionen und Katastrophen voraus, und der dumpfe Glaube des Volkes, der vor Kriegen und Krisen im höheren Element Kometen erscheinen und ihre blutige Bahn ziehen läßt, dieser abergläubische Glaube hat eine Wahrheit im Geist. Nietzsche war ein solches Fanal im höheren Element, das Wetterleuchten vor dem Gewitter, das große Brausen oben in den Bergen, ehe der Sturm in die Täler fällt – keiner hat so meteorologisch sicher wie alles einzelne auch die Gewalt des kommenden Kataklysmas unserer Kultur vorausgefühlt. Aber das ist die ewige Tragik des Geistes, daß seine höhere klare Sphäre der Schau sich nicht mitteilt der dumpfen stockenden Luft ihrer Zeit, daß die Gegenwart niemals fühlt und faßt, wenn über ihr ein Zeichen am Himmel des Geistes steht und die Flügel der Weissagung rauschen. Selbst der klarste Genius des Jahrhunderts war nicht deutlich genug, als daß die Zeit ihn verstanden hätte: wie jener Marathonläufer, der den Untergang des Perserreiches gesehen und, mit pochenden Lungen die vielen Meilen nach Athen rennend, die Botschaft nur in einem einzigen ekstatischen Schrei künden konnte (dann brach ihm das Blut tödlich aus der überhitzten Brust), so konnte Nietzsche die entsetzliche Katastrophe unserer Kultur nur verkünden und nicht verhindern. Nur einen ungeheuren, einen unvergeßlichen ekstatischen Schrei warf er in die Zeit: dann brach ihm der Geist.

      Seine wahre Tat aber für uns und alle hat sein bester Leser, Jakob Burckhardt, nach meinem Gefühl am besten ausgesagt, als er ihm schrieb, seine Bücher »vermehrten die Unabhängigkeit in der Welt«. Ausdrücklich sagte der kluge, weitwissende Mann: die Unabhängigkeit in der Welt; nicht die Unabhängigkeit der Welt. Denn die Unabhängigkeit existiert immer nur im Individuum, in der Einzahl, sie läßt sich nicht multiplizieren mit den Massen, sie wächst nicht aus Büchern und Bildung: »es gibt keine heroischen Zeitalter, es gibt nur heroische Menschen«. Immer ist es der einzelne, der sie mitten in die Welt und immer nur für sich allein errichtet. Denn jeder freie Geist ist ein Alexander, er erobert im Sturm alle Provinzen und Reiche, aber er hat keine Erben: immer verfällt ein Reich der Freiheit an Diadochen und Verwalter, an Kommentatoren und Erklärer, die Sklaven werden am Wort. Nietzsches großartige Unabhängigkeit schenkt darum keine Lehre (wie die Schulhaften meinen), sondern eine Atmosphäre, die unendlich klare, überhelle, von Leidenschaft durchstürmte Atmosphäre einer dämonischen Natur, die sich in Gewitter und Zerstörung erlöst. Tritt man in seine Bücher, so fühlt man Ozon, elementarische von aller Dumpfheit, Vernebelung und Schwüle entschwängerte Luft: man sieht frei in dieser heroischen Landschaft bis in alle Himmel hinauf und atmet eine einzig durchsichtige, messerscharfe Luft, eine Luft für starke Herzen und freie Geister. Immer ist Freiheit Nietzsches letzter Sinn – Sinn seines Lebens und Sinn seines Untergangs: wie die Natur Wirbelstürme und Zyklone, um ihre Überkraft in einer Revolte gegen ihren eigenen Bestand gewaltsam auszulassen, so braucht der Geist von Zeit zu Zeit einen dämonischen Menschen, dessen Übergewalt sich auflehnt gegen die Gemeinschaft des Denkens und die Monotonie der Moral. Einen Menschen, der zerstört und der sich selber zerstört; aber diese heroischen Empörer sind nicht minder Bildner und Bilder des Weltalls als die stillen Gestalter. Zeigen jene die Fülle des Lebens, so deuten diese seine unausdenkbare Weite. Denn immer nur an tragischen Naturen werden wir der Tiefe des Gefühls gewahr. Und nur an den Maßlosen erkennt die Menschheit ihr äußerstes Maß.

      Sternstunden der Menschheit (Goethe, Napoleon, Dostojewski, Cicero, Lenin) (1927)

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