Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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Empfinden bis zu den Urproblemen hinab. Der moderne Nervenmensch in ihnen ist gepaart dem Wesen des Anfangs, das nichts vom Leben weiß als seine Leidenschaft, und mit den letzten Erkenntnissen stammeln sie gleichzeitig die ersten Fragen der Welt. Ihre Formen sind noch nicht ausgekühlt, ihr Gestein nicht geschichtet, ihre Physiognomien nicht geglättet. Ewig unvollendet sind sie und darum doppelt lebendig. Denn der vollendete Mensch ist ja gleichzeitig schon der abgeschlossene, und bei Dostojewski drängt alles ins Unendliche hinaus. Ihm erscheinen Menschen nur insolange als Helden und künstlerisch gestaltungswert, als sie mit sich entzweit sind, problematische Naturen: die Vollendeten, die Ausgereiften schüttelt er von sich ab wie der Baum seine Frucht. Dostojewski liebt seine Menschen nur, solange sie leiden, solange sie die gesteigerte, zwiespältige Form seines eigenen Lebens haben, solange sie Chaos sind, das sich in Schicksal verwandeln will.

      Stellen wir seine Helden vor ein anderes Bild, um sie in ihrer wundervollen Sonderheit besser zu verstehen. Vergleichen wir. Rufen wir einen Helden Balzacs als den Typus französischen Romans in uns auf, so entsteht unbewußt eine Vorstellung von Geradlinigkeit, Umgrenztheit und innerer Geschlossenheit. Ein Begriff, deutlich wie eine geometrische Figur und gesetzvoll wie sie. Alle Menschen Balzacs sind aus einer einzigen, durch die seelische Chemie genau bestimmbaren Substanz gefertigt. Sie sind Elemente und haben alle wesenhaften Eigenschaften eines solchen, also auch typische Formen der Reaktion im Moralischen und Psychischen. Sie sind kaum Menschen mehr, sondern beinahe schon menschgewordene Eigenschaft, Präzisionsmaschinen einer Leidenschaft. Für jeden Namen kann man bei Balzac als Korrelat eine Eigenschaft setzen: Rastignac ist gleich Ehrgeiz, Goriot ist gleich Aufopferung, Vautrin ist gleich Anarchie. In jedem dieser Menschen hat eine dominierende Triebkraft alle anderen inneren Kräfte an sich gerissen und in die Richtungen des zentralen Lebenswillens gedrängt. Im höchsten Sinn wäre man versucht, sie Automaten zu nennen um der Präzision willen, mit der sie auf jeden einzelnen Lebensreiz reagieren, und wirklich wie eine Maschine sind sie in ihrer Kraftleistung und ihrem Widerstand für den technischen Kenner berechenbar. Ist man in Balzac einigermaßen eingelesen, so kann man die Antwort des Charakters auf die Tatsache so berechnen, wie die Parabel eines Steinwurfes aus der Stärke ihres Schwunges und der Schwere des Steines. Grandet, der Harpagon, wird in dem Maße geiziger werden, als seine Tochter opferwillig und heroisch. Und man weiß von Goriot schon zu den Zeiten, da er noch in leidlichem Wohlstand lebt und seine Perücke sorgfältig gepudert ist, daß er einmal seine Weste für die Töchter verkaufen wird und das Silbergeschirr zerbrechen, seinen letzten Besitz. Er muß notwendigerweise so handeln aus der Einheit seiner Charakteranlage, aus dem Trieb, den sein irdisches Fleisch nur unvollkommen mit einer menschlichen Form umkleidet. Die Charaktere Balzacs (und ebenso Victor Hugos, Scotts, Dickens’) sind alle primitiv, einfarbig, zielstrebig. Sie sind Einheiten und darum meßbar auf der Waagschale der Moral. Vielfarbig und tausendgestaltig ist in jenem geistigen Kosmos nur der Zufall, dem sie begegnen. Bei jenen Epikern ist das Erlebnis vielfältig, der Mensch die Einheit, und der Roman selbst der Kampf um die Macht gegen die irdischen Mächte. Die Helden Balzacs und des ganzen französischen Romans sind entweder stärker oder schwächer als der Widerstand der Gesellschaft. Sie bezwingen das Leben, oder sie kommen unter das Rad.

      Der Held des deutschen Romans, als dessen Typus Wilhelm Meister oder der Grüne Heinrich gedacht sei, ist nicht dermaßen seiner Grundrichtung gewiß. Er hat viele Stimmen, in sich, er ist psychologisch differenziert, ist seelisch polyphon. Das Gute und das Böse, das Starke und das Schwache fließen wirr in seiner Seele durcheinander: sein Anbeginn ist Verwirrung, und die Nebel der Frühe umwölken ihm den reinen Blick. Er spürt Kräfte in sich, aber noch ungesammelt, noch in Widerstreit, er ist ohne Harmonie, aber doch beseelt vom Willen zur Einheit. Das deutsche Genie zielt nun im letzten Sinne immer auf Ordnung. Und alle Entwicklungsromane entwickeln nichts anderes in diesen deutschen Helden als die Persönlichkeit. Die Kräfte werden gesammelt, der Mensch zum deutschen Ideal, zur Tüchtigkeit erhoben, »im Strom der Welt bildet sich« nach Goethes Wort »der Charakter«. Die vom Leben durcheinandergeschüttelten Elemente klären sich in der errungenen Ruhe zum Kristall, aus den Lehrjahren tritt der Meister, und vom letzten Blatt all dieser Bücher, aus dem Grünen Heinrich, dem Hyperion, dem Wilhelm Meister, dem Ofterdingen blickt ein klares Auge tatkräftig in eine klare Welt. Das Leben versöhnt sich dem Ideal; nicht mehr verschwenderisch wirr, sondern zu höchstem Ziel gespart wirken die nun geordneten Kräfte. Die Helden Goethes und aller Deutschen verwirklichen sich zu ihrer höchsten Form, sie werden werktätig und tüchtig: sie erlernen an Erfahrungen das Leben.

      Die Helden Dostojewskis suchen aber und finden überhaupt kein Verhältnis zum wirklichen Leben: das ist ihre Sonderheit. Sie wollen gar nicht in die Realität hinein, sondern von allem Anfang an über sie hinaus, ins Unendliche. Ihr Reich ist nicht von dieser Welt. All die Scheinformen von Werten, Titel, Macht und Geld, aller sichtbarer Besitz hat für sie Wert weder als Zweck, wie bei Balzac, noch als Mittel, wie bei den Deutschen. Sie wollen sich in dieser Welt gar nicht durchsetzen, nicht behaupten und nicht ordnen. Sie sparen nicht mit sich, sondern sie verschwenden sich, sie rechnen nicht und bleiben ewig unberechenbar. Sich selbst wollen sie fühlen und das Leben, aber nicht dessen Schatten und Spiegelbild, die äußere Realität, sondern das große mystische Elementare, die kosmische Macht, das Existenzgefühl. Wo immer man tiefer sich eingräbt ins Werk Dostojewskis, überall rauscht als unterste Quelle dieser ganz primitive, fast vegetative fanatische Lebensdrang, jenes ganz urhafte Gelüst, das nicht Glück will oder Leid, die schon Einzelformen des Lebens sind, Wertungen, Unterscheidungen, sondern die ganz einheitliche Lust, wie man sie beim Atmen fühlt. Vom Urquell wollen sie trinken, nicht aus den Brunnen der Städte und Straßen, die Ewigkeit, die Unendlichkeit in sich fühlen und die Zeitlichkeit abtun. Sie kennen nur eine ewige, keine soziale Welt. Sie wollen das Leben weder erlernen noch bezwingen, gleichsam nackt wollen sie es bloß fühlen und fühlen als Ekstase der Existenz.

      Weltfremd aus Weltliebe, unwirklich aus Leidenschaft zur Wirklichkeit, muten Dostojewskis Gestalten vorerst etwas einfältig an. Sie haben keine Richtung geradeaus, kein sichtbares Ziel: wie Blinde taumeln und tappen diese doch erwachsenen Menschen in der Welt herum oder wie Trunkene. Sie bleiben stehen, sehen sich um, fragen alle Fragen und rennen ohne Antwort weiter ins Unbekannte: ganz frisch scheinen sie in unsere Welt eingetreten und ihr noch nicht eingewöhnt. Und man versteht diese Menschen Dostojewskis kaum, bedenkt man nicht, daß sie Russen sind, Kinder eines Volkes, das aus einer jahrtausendalten barbarischen Unbewußtheit mitten in unsere europäische Kultur hineingestürzt ist. Von der alten Kultur, vom Patriarchalischen losgerissen, der neuen noch nicht vertraut, stehen sie in der Mitte, alle an einem Wegkreuz, und die Unsicherheit jedes einzelnen ist die eines ganzen Volkes. Wir Europäer wohnen in unserer alten Tradition wie in einem warmen Haus. Der Russe des neunzehnten Jahrhunderts, der Dostojewski-Zeit, hat hinter sich die Holzhütte der barbarischen Vorzeit verbrannt, aber sein neues Haus noch nicht gebaut. Entwurzelte, Richtungslose sind sie alle. Sie haben die Kraft ihrer Jugend, die Kraft der Barbaren noch in den Fäusten, aber der Instinkt ist verwirrt von der Tausendfalt der Probleme: die Hände voll Stärke, wissen sie nicht, was zuerst anfassen. Und so greifen sie nach allem und haben nie genug. Man fühle hier die Tragik jedes einzelnen Dostojewski-Menschen, jedes einzelnen Zwiespalt und Hemmung aus dem Schicksal des ganzen Volkes. Dieses Rußland um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts weiß nicht, wohin: nach Westen oder nach Osten, nach Europa oder nach Asien, nach Petersburg, der »künstlichen Stadt«, in die Kultur oder zurück auf das Bauerngut, in die Steppe. Turgenjeff stößt sie nach vorne, Tolstoi stößt sie zurück. Alles ist Unruhe. Der Zarismus steht unvermittelt gegenüber einer kommunistischen Anarchie, die Rechtgläubigkeit, die altererbte, springt quer über in einen fanatischen und rasenden Atheismus. Nichts steht fest, nichts hat seinen Wert, sein Maß in dieser Zeit: die Sterne des Glaubens brennen nicht mehr über ihren Häuptern und das Gesetz längst nicht mehr in ihrer Brust. Entwurzelte einer großen Tradition, sind die Dostojewski-Menschen echte Russen, Übergangsmenschen, das Chaos des Anfangs im Herzen, beladen mit Hemmungen und Ungewißheiten. Keine Frage ist für sie beantwortet, kein Weg geebnet. Menschen des Übergangs, Menschen des Anfangs sind sie alle. Jeder ein Cortes: hinter sich verbrannte Schiffe, vor sich das Unbekannte.

      Aber dies ist das Wunderbare: daß, weil sie Menschen eines Anfangs sind, in jedem einzelnen noch einmal die Welt beginnt. Daß alle Fragen, die bei uns schon zu kalten Begriffen erstarrt sind, ihnen noch im Blute glühen. Daß unsere bequemen, ausgetretenen Wege mit ihren moralischen Geländern und ethischen