Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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plastisch erst in der Erregtheit, in der Leidenschaft, im gesteigerten Zustand. Während jene versuchen, die Seele durch den Körper darzustellen, bildet er den Körper durch die Seele: erst wenn die Leidenschaft seines Menschen die Züge strafft und spannt, das Auge sich feuchtet im Gefühl, wenn die Maske der bürgerlichen Stille, die Seelenstarre, von ihnen abfällt, wird sein Blick erst bildhaft. Erst wenn seine Menschen glühen, tritt Dostojewski, der Visionär, an das Werk, sie zu formen.

      Absichtlich sind also und nicht zufällig bei Dostojewski die anfänglich dunkeln und ein wenig schattenhaften Konturen der ersten Schilderung. In seine Romane tritt man ein wie in ein dunkles Zimmer. Man sieht nur Umrisse, hört undeutliche Stimmen, ohne recht zu fühlen, wem sie zugehören. Erst allmählich gewöhnt sich, schärft sich das Auge: wie auf den Rembrandtschen Gemälden beginnt aus einer tiefen Dämmerung das feine seelische Fluidum in den Menschen zu strahlen. Erst wenn sie in die Leidenschaft geraten, treten sie ins Licht. Bei Dostojewski muß der Mensch immer erst glühen, um sichtbar zu werden, seine Nerven müssen gespannt sein bis zum Zerreißen, um zu klingen: »Um eine Seele formt sich bei ihm nur der Körper, um eine Leidenschaft nur das Bild.« Jetzt erst, da sie gleichsam angeheizt sind, da in ihnen der merkwürdige Fieberzustand beginnt – alle Menschen Dostojewskis sind ja wandelnde Fieberzustände –, setzt sein dämonischer Realismus ein, beginnt jene zauberische Jagd nach den Einzelheiten, jetzt erst schleicht er der kleinsten Bewegung nach, gräbt das Lächeln aus, kriecht in die krummen Fuchslöcher der verworrenen Gefühle, folgt jeder Fußspur ihrer Gedanken bis in das Schattenreich des Unbewußten. Jede Bewegung zeichnet sich plastisch ab, jeder Gedanke wird kristallen klar, und je mehr sich die gejagten Seelen ins Dramatische verstricken, um so mehr glühen sie von innen, um so durchsichtiger wird ihr Wesen. Gerade die unfaßbarsten, die jenseitigsten Zustände, die krankhaften, die hypnotischen, die ekstatischen, die epileptischen haben bei Dostojewski die Präzision einer klinischen Diagnose, den klaren Umriß einer geometrischen Figur. Nicht die feinste Nuance ist dann verschwommen, nicht die kleinste Schwingung entgleitet dann seinen geschärften Sinnen: gerade dort, wo die anderen Künstler versagen und, gleichsam geblendet vom übernatürlichen Licht, den Blick wegwenden, dort wird Dostojewskis Realismus am sichtbarsten. Und diese Augenblicke, da der Mensch die äußersten Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht, da Wissen schon fast Wahnwitz wird und Leidenschaft zum Verbrechen, sie sind auch die unvergeßlichsten Visionen seines Werkes. Rufen wir uns das Bild Raskolnikows in die Seele, so sehen wir ihn nicht als schlendernde Gestalt auf der Straße oder im Zimmer, als einen jungen Mediziner von 25 Jahren, als Menschen von diesen und jenen äußeren Eigenheiten, sondern in uns ersteht die dramatische Vision seiner irren Leidenschaft, wie er mit zitternden Händen, kalten Schweiß auf der Stirn, gleichsam mit geschlossenen Augen die Treppe des Hauses hinaufschleicht, wo er gemordet hat, und in geheimnisvoller Trance, um seine Qualen noch einmal sinnlich zu genießen, die blecherne Klingel an der Tür der Ermordeten zieht. Wir sehen Dimitri Karamasow in den Purgatorien des Verhörs, schäumend vor Wut, schäumend vor Leidenschaft, den Tisch zertrümmern mit seinen rasenden Fäusten. Immer sehen wir bei Dostojewski den Menschen erst bildhaft im Zustande der höchsten Erregtheit, am Endpunkte seines Gefühles, so wie Leonardo in seinen grandiosen Karikaturen die Groteske des Körpers, die Abnormität des Physischen zeichnet, dort, wo sie über die gemeine Form hervordrängt, so faßt Dostojewski die Seele des Menschen im Augenblick des Überschwangs, gleichsam in den Sekunden, da sich der Mensch über den äußersten Rand seiner Möglichkeiten vorbeugt. Der mittlere Zustand ist ihm wie jeder Ausgleich, wie jede Harmonie, verhaßt: nur das Außerordentliche, das Unsichtbare, das Dämonische reizt seine künstlerische Leidenschaft zum äußersten Realismus. Er ist der unvergleichlichste Plastiker des Ungewöhnlichen, der größte Anatom der reizbaren und kranken Seele, den die Kunst je gekannt.

      Das Instrument nun, das geheimnisvolle, mit dem Dostojewski in diese Tiefe seiner Menschen dringt, ist das Wort. Goethe schildert alles durch den Blick. Er ist – Wagner hat diese Unterschiede am glücklichsten ausgesprochen – Augenmensch, Dostojewski Ohrenmensch. Er muß seine Menschen erst sprechen hören, sprechen lassen, damit wir sie als sichtbar empfinden, und ganz deutlich hat Mereschkowski in seiner genialen Analyse der beiden russischen Epiker ausgedrückt: bei Tolstoi hören wir, weil wir sehen, bei Dostojewski sehen wir, weil wir hören. Seine Menschen sind Schatten und Lemuren, solange sie nicht sprechen. Erst das Wort ist der feuchte Tau, der ihre Seele befruchtet: sie tun im Gespräch, wie phantastische Blüten, ihr Inneres auf, zeigen ihre Farben, die Pollen ihrer Fruchtbarkeit. In der Diskussion erhitzen sie sich, wachen sie auf aus ihrem Seelenschlaf, und erst gegen den wachen, gegen den leidenschaftlichen Menschen, ich sagte es ja schon, wendet sich Dostojewskis künstlerische Leidenschaft. Er lockt ihnen das Wort aus der Seele, um dann die Seele selbst zu fassen. Jene dämonische psychologische Scharfsichtigkeit des Details bei Dostojewski ist im letzten nichts anderes als eine unerhörte Feinhörigkeit. Die Weltliteratur kennt keine vollkommeneren plastischen Gebilde als die Aussprüche der Menschen Dostojewskis. Die Wortstellung ist symbolisch, die Sprachbildung charakteristisch, nichts zufällig, jede abgebrochene Silbe, jeder weggesprungene Ton die Notwendigkeit selbst. Jede Pause, jede Wiederholung, jedes Atemholen, jedes Stottern ist wesentlich, immer hört man unter dem ausgesprochenen Wort das unterdrückte Mitschwingen. Man weiß aus der Rede bei Dostojewski nicht nur, was jeder einzelne Mensch sagt und sagen will, sondern auch, was er verschweigt. Und dieser geniale Realismus des seelischen Hörens geht restlos mit in die geheimnisvollsten Zustände des Wortes, in die sumpfige, stockende Fläche des trunkenen Irreredens, in die beflügelte, keuchende Ekstase des epileptischen Anfalles, in das Dickicht der lügnerischen Verworrenheit. Aus dem Dampf der erhitzten Rede ersteht die Seele, aus der Seele kristallisiert sich allmählich der Körper. Man träumt bei Dostojewski hellseherisch seine Menschen, sobald man sie sprechen hört. Dostojewski kann sich ersparen, sie graphisch zu zeichnen, denn wir selber werden in der Hypnose ihrer Rede zum Visionär. Ich will ein Beispiel wählen. Im »Idioten« geht der alte General, der pathologische Lügner, neben dem Fürsten Myschkin her und erzählt ihm Erinnerungen. Er beginnt zu lügen, gleitet immer tiefer in seine Lügen hinein und verstrickt sich gänzlich darin. Er redet, redet, redet. Über Seiten flutet seine Lüge hin.

      Mit keiner Zeile nun schildert Dostojewski seine Haltung, aber aus seinem Wort, aus seinem Stolpern, seinem Stocken, seiner nervösen Hast spüre ich, wie er neben Myschkin hergeht, wie er sich verstrickt hat, sehe, wie er aufschaut, von der Seite den Fürsten vorsichtig anblickt, ob er ihm nicht mißtraue, wie er stehenbleibt, hoffend, der Fürst würde ihn unterbrechen. Ich sehe, wie der Schweiß auf seiner Stirne perlt, sehe, wie sein Gesicht, das zuerst begeisterte, nun sich immer mehr verkrampft in Angst, sehe, wie er in sich zusammenkriecht, ein Hund, der fürchtet, Prügel zu bekommen, und ich sehe den Fürsten, der selbst alle Anstrengungen des Lügners in sich fühlt und niederhält. Wo ist dies beschrieben bei Dostojewski? Nirgends, nicht in einer einzelnen Zeile, und doch sehe ich jedes Fältchen in seinem Gesicht mit leidenschaftlicher Klarheit. Irgendwo ist da das Arkanum des Visionären in der Rede, im Tonfall, in der Stellung der Silben, und so magisch ist diese Kunst der Wiedergabe, daß selbst durch die unumgängliche Verdickung, die ja jede Übertragung in eine fremde Sprache darstellt, noch die ganze Seele seiner Menschen schwingt. Der ganze Charakter des Menschen ist bei Dostojewski im Rhythmus seiner Rede. Und diese Komprimierung gelingt seiner genialen Intuition oft in einer winzigen Einzelheit, durch eine Silbe fast. Wenn Fedor Karamasow auf das Briefkuvert der Gruschenka zu ihrem Namen schreibt: »Mein Küchelchen!«, so sieht man das Antlitz des senilen Wüstlings, sieht die schlechten Zähne, durch die ihm der Speichel über die schmunzelnden Lippen rinnt. Und wenn in den »Erinnerungen aus dem Totenhaus« der sadistische Major beim Stockprügeln »Hie-be, Hie-be« schreit, so ist in diesem winzigen Apostroph sein ganzer Charakter, ein brennendes Bild, ein Keuchen von Gier, flackernde Augen, das gerötete Gesicht, das Keuchen der bösen Lust. Diese kleinen realistischen Details bei Dostojewski, die sich wie spitze Angelhaken ins Gefühl einbohren und widerstandslos mit ins fremde Erleben reißen, sie sind sein erlesenstes Kunstmittel und gleichzeitig der höchste Triumph des intuitiven Realismus über den programmatischen Naturalismus. Aber Dostojewski verschwendet durchaus nicht diese seine Details. Er setzt ein einziges ein, wo andere hunderte applizieren, aber er spart sich diese kleinen grausamen Einzelheiten der letzten Wahrheit mit einem wollüstigen Raffinement auf, er überrascht mit ihnen gerade im Augenblick der höchsten Ekstase, wo man sie am wenigsten erwartet. Immer gießt er mit unerbittlicher Hand den Galletropfen Irdischkeit in den Kelch der Ekstase,