Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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will auch hier keine Harmonie, keinen Ausgleich. Immer in allen seinen Werken sind diese schneidenden Zerrissenheiten, wo er mit satanischem Detail die sublimsten Sekunden aufsprengt und dem Heiligsten des Lebens seine Banalität entgegengrinst. Ich erinnere nur an die Tragödie des »Idioten«, um einen solchen Augenblick des Kontrastes sichtlich zu machen. Rogoschin hat Nastassja Philipowna ermordet, nun sucht er Myschkin, den Bruder. Er findet ihn auf der Straße, er rührt ihn an mit der Hand. Sie brauchen nicht miteinander zu sprechen, furchtbare Ahnung weiß alles voraus. Sie gehen über die Straße in das Haus, wo die Ermordete liegt: irgendein ungeheures Vorempfinden von Größe und Feierlichkeit hebt sich in einem auf, alle Sphären erklingen. Die beiden Feinde eines Lebens, Brüder im Gefühl, schreiten in das Zimmer zur Ermordeten. Nastassja Philipowna liegt tot. Man spürt, diese Menschen werden sich nun das Letzte sagen, wie sie einander gegenüberstehen an der Leiche der Frau, die sie entzweite. Und dann kommt das Gespräch – und alle Himmel sind zerschlagen von der nackten, brutalen, brennend irdischen, teuflisch geistigen Sachlichkeit. Sie sprechen davon als erstes, als einziges – ob die Leiche riechen wird. Und Rogoschin erzählt mit schneidender Sachlichkeit, er habe »gute amerikanische Wachsleinwand« gekauft und »vier Fläschchen einer desinfizierenden Flüssigkeit darauf gegossen«.

      Solche Details sind es, die ich bei Dostojewski die sadistischen, die satanischen nenne, weil hier der Realismus mehr ist als ein bloßer Kunstgriff der Technik, weil er eine metaphysische Rache ist, Ausbruch geheimnisvoller Wollust, einer gewaltsamen ironischen Enttäuschung. »Vier Fläschchen«! das Mathematische der Zahl, »amerikanische Wachsleinwand«! die grauenhafte Präzision des Details – das sind absichtliche Zerstörungen der seelischen Harmonie, grausame Revolten gegen die Einheit des Gefühls. Mit absichtlicher Bewußtheit (er ist der Antiromantiker, wie er der Antisentimentale ist) stellt er seine Szenerie mitten in die Banalität hinein. Schmutzige Kellerlokale, stinkend von Bier und Schnaps, dumpfe enge »Särge« von Zimmern, nur abgetrennt durch Holzwände, nie Salons, Hotels, Paläste, Kontore. Und mit Absicht sind seine Menschen äußerlich »uninteressant«, schwindsüchtige Frauen, verlumpte Studenten, Nichtstuer, Verschwender, Tagediebe, niemals aber soziale Persönlichkeiten. Aber gerade in diese dumpfe Alltäglichkeit stellt er die größten Tragödien der Zeit. Aus dem Erbärmlichen steigt das Erhabene phantastisch auf. Nichts wirkt dämonischer bei ihm als dieser Kontrast äußerer Nüchternheit und seelischer Trunkenheit, räumlicher Armut und Verschwendung des Herzens. In Schnapszimmern verkünden trunkene Menschen die Wiederkehr des Dritten Reiches, sein Heiliger Aljoscha erzählt die tiefste Legende, während ihm eine Dirne auf dem Schöße sitzt, in Bordellen und Spielhäusern entfalten sich die Apostolate der Güte und Verkündung, und die erhabenste Szene Raskolnikows, wo der Mörder sich niederwirft und vor dem Leiden der ganzen Menschheit sich beugt, sie spielt im Zimmerwinkel einer Dirne bei dem stotternden Schneider Kapernaumow.

      Ein ununterbrochener Wechselstrom, kalt oder warm, warm oder kalt, aber nie lau, ganz im Sinne der Apokalypse, so durchblutet seine Leidenschaft das Leben, von Unruhe zu Unruhe wirft er die aufgereizten Gefühle. Nie gerät man darum bei den Romanen Dostojewskis zur Rast, nie in die sanfte, musikalische Rhythmik des Lesens, nie läßt er einem ruhig den Atem rinnen, immer zuckt man wie unter elektrischen Schlägen beunruhigt auf, heißer, brennender, unruhiger, neugieriger von Seite zu Seite. Solange wir in seiner dichterischen Gewalt sind, werden wir ihm selber ähnlich. Wie in sich selbst, dem ewigen Dualisten, dem Menschen am Kreuzholz des Zwiespalts, wie in seinen Gestalten, zersprengt Dostojewski auch dem Leser die Einheit des Gefühls.

      Aber doch – die Frage muß beantwortet sein –, warum wirkt trotz solcher dämonischer Vollendung der Wahrheit Dostojewskis Werk, dieses irdischeste aller Werke, doch wiederum unirdisch auf uns, als Welt zwar, aber doch wie eine neben oder über unserer Welt, nur nicht sie selbst? Warum stehen wir innen mit unserem tiefsten Gefühl und sind doch irgendwie befremdet? Warum brennt in allen seinen Romanen etwas wie künstliches Licht und ist Raum darinnen wie aus Halluzinationen und Träumen? Warum empfinden wir ihn, diesen äußersten Realisten immer mehr als Somnambulen denn als Darsteller der Wirklichkeit? Warum ist trotz aller Feurigkeit, ja Überhitztheit, doch nicht fruchtbare Sonnenwärme darin, sondern irgendein schmerzhaftes Nordlicht, blutig und blendend, warum empfinden wir diese wahrste Darstellung des Lebens, die je gegeben wurde, doch irgendwie nicht als das Leben selbst? Als unser eigenes Leben?

      Ich versuche zu antworten. Das höchste Maß der Vergleiche ist für Dostojewski nicht zu gering, und am Erhabensten, am Unvergänglichsten der Weltliteratur können sie gewertet werden. Für mich ist die Tragödie der Karamasow nicht geringer als die Verstrickungen der Orestie, die Epik Homers, der erhabene Umriß von Goethes Werk. Sie alle, diese Werke, sind sogar einfältiger, schlichter, weniger erkenntnisreich, weniger zukunftsträchtig als die Dostojewskis. Aber sie sind doch irgendwie weicher und freundsamer für die Seele, sie geben Erlösung des Gefühls, während Dostojewski nur Erkenntnis gibt. Ich glaube: dieser ihrer Entspannung danken sie, daß sie nicht so menschlich, nur menschlich sind. Sie haben um sich einen heiligen Rahmen von strahlendem Himmel, von Welt, einen Atem von Wiesen und Feldern, einen Sternblick von Himmel, wo sich das Gefühl, das verschreckte, entspannt hinflüchtet und befreit. Im Homer, mitten in den Schlachten, im blutigsten Gemetzel der Menschen stehen ein paar Zeilen der Schilderung, und man atmet salzigen Wind vom Meer, das silberne Licht Griechenlands glänzt über die Blutstatt, beseligt erkennt das Gefühl den schmetternden Kampf der Menschen als einen kleinen nichtigen Wahn gegen das Ewige der Dinge. Und man atmet auf, man ist erlöst von der menschlichen Trübe. Auch Faust hat seinen Ostersonntag, schwingt die eigene Qual in die zerklüftete Natur, wirft seinen Jubel in den Frühling der Welt. In allen diesen Werken erlöst die Natur von der Menschenwelt. Dostojewski aber fehlt die Landschaft, fehlt die Entspannung. Sein Kosmos ist nicht die Welt, sondern nur der Mensch. Er ist taub für Musik, blind für Bilder, stumpf für Landschaft: mit einer ungeheuren Gleichgültigkeit gegen die Natur, gegen die Kunst ist sein unergründliches, sein unvergleichliches Wissen um den Menschen bezahlt. Und alles Nur-Menschliche hat eine Trübe von Unzulänglichkeit. Sein Gott wohnt nur in der Seele, nicht auch in den Dingen, ihm fehlt jenes kostbare Korn Pantheismus, das die deutschen, das die hellenischen Werke so selig und so befreiend macht. Seine, Dostojewskis, Werke, sie spielen alle irgendwie in ungelüfteten Stuben, in rußigen Straßen, in dunstigen Kneipen, eine dumpfe menschliche, allzu menschliche Luft ist darinnen, die nicht klärend durchwühlt wird vom Wind aus den Himmeln und dem Sturz der Jahreszeiten. Man versuche doch einmal sich zu entsinnen bei seinen großen Werken, bei »Raskolnikow«, dem »Idioten«, bei den »Karamasows«, dem »Jüngling«, in welcher Jahreszeit, in welcher Landschaft sie spielen. Ist es Sommer, Frühling oder Herbst? Vielleicht ist es irgendwo gesagt. Aber man fühlt es nicht. Man atmet es, man schmeckt es, man spürt, man erlebt es nicht. Sie spielen alle nur irgendwo im Dunkel des Herzens, das die Blitzschläge der Erkenntnis sprunghaft erhellen, im luftleeren Hohlraum des Hirnes, ohne Sterne und Blumen, ohne Stille und Schweigen. Großstadtrauch verdunkelt den Himmel ihrer Seele. Es fehlen ihnen die Ruhepunkte der Erlösung vom Menschlichen, jene seligsten Entspannungen, die besten des Menschen, wenn er den Blick von sich selbst und seinen Leiden gegen die fühllose, leidenschaftslose Welt kehrt. Das ist das Schattenhafte in seinen Büchern: wie von einer grauen Wand von Elend und Dunkelheit heben sich seine Gestalten ab, sie stehen nicht frei und klar in einer wirklichen Welt, sondern in einer Unendlichkeit bloß des Gefühls. Seine Sphäre ist Seelenwelt und nicht Natur, seine Welt nur die Menschheit.

      Aber auch seine Menschheit selbst, so wunderbar wahrhaftig jeder einzelne ist, so fehllos ihr logischer Organismus, auch sie ist in ihrer Gesamtheit in einem gewissen Sinne unwirklich: etwas von Gestalten aus Träumen haftet ihnen an, und ihr Schritt geht im Raumlosen wie der von Schatten. Damit sei nicht gesagt, daß sie irgendwie unwahr wären. Im Gegenteil: sie sind überwahr. Denn Dostojewskis Psychologie ist eine fehllose, aber seine Menschen sind nicht plastisch, sondern sublim gesehen und durchfühlt, weil sie einzig aus Seele gestaltet sind und nicht aus Körperlichkeit. Dostojewskis Menschen kennen wir alle nur als wandelndes und gewandeltes Gefühl, Wesen aus Nerven und Seelen, bei denen man es fast vergißt, daß dieses Blut durch Fleisch rinnt. Nie rührt man sie gewissermaßen körperlich an. Auf den zwanzigtausend Seiten seines Werkes ist nie geschildert, daß einer seiner Menschen sitzt, daß er ißt, daß er trinkt, immer fühlen, sprechen oder kämpfen sie nur. Sie schlafen nicht (es sei denn, daß sie hellseherisch träumen), sie ruhen nicht, immer sind sie im Fieber, immer denken sie. Nie sind sie