Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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      Das ist Dostojewskis Geheimnis: er braucht Gott und findet ihn doch nicht. Manchmal meint er ihm schon zu gehören, und schon umfaßt ihn seine Ekstase, da klirrt sein Verneinungsbedürfnis ihn wieder zur Erde. Keiner hat das Gottesbedürfnis stärker erkannt. »Gott ist mir deshalb notwendig«, sagt er einmal, »weil er das einzige Wesen ist, das man immer lieben kann«, und ein anderes Mal: »Es gibt keine unaufhörlichere und quälendere Angst für den Menschen, als etwas zu finden, vor dem er sich beugen kann.« Sechzig Jahre leidet er an dieser Gottesqual und liebt Gott wie jedes seiner Leiden, liebt ihn mehr als alles, weil er das ewigste aller Leiden ist und Leidensliebe den tiefsten Gedanken seines Seins bedeutet. Sechzig Jahre kämpft er sich zu ihm und lechzt »wie trockenes Gras« nach dem Glauben. Das ewig Zersprengte will eine Einheit, der ewig Gejagte eine Rast, der ewig Getriebene durch alle Stromschnellen der Leidenschaft, der sich Zerströmende den Ausgang, die Ruhe, das Meer. So träumt er ihn als Beruhigung und findet ihn doch nur als Feuer. Er möchte selbst ganz klein werden, ganz wie die Dumpfen im Geiste, um in ihn eingehen zu können, möchte glauben können im Köhlerglauben, wie die »zehn Pud dicke Kaufmannsfrau«, möchte es aufgeben, der Wissendste, der Bewußte zu sein, um der Gläubige zu werden, wie Verlaine fleht er: »Donnez-moi de la simplicité.« Das Gehirn verbrennen im Gefühl, hinströmen in die Gottesruhe, tierhaft dumpf, das ist sein Traum. O wie streckt er sich ihm entgegen, er tobt brünstig, er schreit, er wirft die Harpunen der Logik aus, ihn zu fassen, legt ihm die verwegensten Fuchsfallen der Beweise; wie ein Pfeil schießt seine Leidenschaft auf, ihn zu treffen, ein Lechzen nach Gott ist seine Liebe, eine »fast unanständige Leidenschaft«, ein Paroxysmus, ein Überschwang.

      Ist er aber darum schon gläubig, weil er so fanatisch glauben will? War Dostojewski, der beredteste Anwalt der Rechtgläubigkeit, der Pravoslavie, selbst ein Bekenner, ein poeta Christianissimus? Sicherlich in Sekunden: da zuckt sein Spasma ins Unendliche hinein, da krampft er sich ein in Gott, da hält er die Harmonie, die irdisch versagte, in Händen, da ist er, der Gekreuzigte seines Zwiespaltes, auferstanden in den alleinigen Himmeln. Aber doch: irgend etwas bleibt auch dann noch wach in ihm und schmilzt nicht hin im Seelenbrand. Während er schon ganz aufgelöst scheint, ganz überirdische Trunkenheit, bleibt jener grausame Geist der Analyse mißtrauisch auf der Lauer und mißt das Meer aus, in das er versinken will. Auch im Gottesproblem klafft der unheilbare Zwiespalt, der in jedem von uns eingeboren ist, aber den kein Irdischer bisher zu solcher Spannweite des Abgrunds aufgerissen wie Dostojewski. Er ist der Gläubigste aller und der äußerste Atheist in einer Seele, er hat in seinen Menschen die polarsten Möglichkeiten beider Formen gleich überzeugend dargestellt (ohne sich selbst zu überzeugen, ohne sich selbst zu entscheiden), die Demut, sich hinzugeben, sich, ein Staubkorn, aufzulösen in Gott, und andererseits das grandioseste Extrem, selber Gott zu werden: »Erkennen, daß ein Gott ist, und gleichzeitig erkennen, daß man nicht zum Gott geworden ist, wäre ein Unsinn, durch den man zum Selbstmord getrieben wird.« Und sein Herz ist bei beiden, beim Gottesknecht und beim Gottesleugner, bei Aljoscha und bei Iwan Karamasow. Er entscheidet sich nicht in dem unablässigen Konzil seiner Werke, bleibt bei den Bekennern und den Häretikern. Seine Gläubigkeit ist feuriger Wechselstrom zwischen dem Ja und Nein, den beiden Polen der Welt. Auch vor Gott bleibt Dostojewski der große Ausgestoßene der Einheit.

      So bleibt er Sisyphus, der ewige Wälzer des Steins zur Höhe der Erkenntnis, der er immer wieder entrollt. Der ewig Bemühte zu Gott, den er nie erreicht. Aber irre ich denn nicht: ist Dostojewski nicht den Menschen der große Prediger des Glaubens? Geht nicht durch seine Werke der große orgelnde Hymnus an Gott? Bezeugen nicht alle seine politischen, seine literarischen Schriften einhellig, diktatorisch, unzweifelhaft seine Notwendigkeit, seine Existenz, dekretieren sie denn nicht die Rechtgläubigkeit, verwerfen sie nicht den Atheismus als das äußerste Verbrechen? Aber man verwechsle hier nicht Wille mit Wahrheit, nicht den Glauben mit dem Postulat des Glaubens. Dostojewski, der Dichter der ewigen Umkehrung, dieser fleischgewordene Kontrast, predigt den Glauben als Notwendigkeit, predigt ihn um so inbrünstiger den anderen als – er selbst nicht glaubt (im Sinne eines ständigen, sicheren, ruhenden, vertrauenden Glaubens, der »geklärte Begeisterung« als höchste Pflicht formuliert). Von Sibirien schreibt er an eine Frau: »Ich will Ihnen von mir sagen, daß ich ein Kind dieser Zeit bin, ein Kind des Unglaubens und des Zweifels, und es ist wahrscheinlich, ja, ich weiß es bestimmt, daß ich es bis an mein Lebensende bleiben werde. Wie entsetzlich quälte mich und quält mich auch jetzt die Sehnsucht nach dem Glauben, die um so stärker ist, je mehr ich Gegenbeweise habe.« Nie hat er es klarer gesagt: er hat Sehnsucht nach dem Glauben aus Glaubenslosigkeit. Und hier ist eine jener erhabenen Umwertungen Dostojewskis: eben weil er nicht glaubt und die Qual dieses Unglaubens kennt, weil, nach seinem eigenen Worte, er die Qual immer nur für sich liebt und Mitleid hat mit den andern – darum predigt er den andern den Glauben an Gott, den er selbst nicht glaubt. Der Gottgequälte will eine gottselige Menschheit, der schmerzlich Glaubenslose die glücklich Gläubigen. An das Kreuz seines Unglaubens genagelt, predigt er dem Volke die Orthodoxie, er vergewaltigt seine Erkenntnis, weil er weiß, daß sie zerreißt und verbrennt, und predigt die Lüge, die Glück gibt, den strikten, textlichen Bauernglauben. Er, der »kein Senfkorn Glauben hat«, der gegen Gott revoltierte und, wie er selbst stolz sagte, »den Atheismus mit ähnlicher Kraft ausgedrückt hat, wie niemand in Europa«, er verlangt die Unterwürfigkeit unter das Popentum. Um die Menschen vor der Gottesqual zu behüten, die er wie keiner im eigenen Fleische erlebt, verkündet er die Gottesliebe. Denn er weiß: »Das Schwanken, die Unruhe des Glaubens – das ist für einen gewissenhaften Menschen eine solche Qual, daß es besser ist, sich zu erhängen.« Er selbst ist ihr nicht ausgewichen, als Märtyrer hat er den Zweifel auf sich genommen, aber der Menschheit, der unendlich geliebten, will er ihn ersparen. So schafft er, statt hochmütig die Wahrheit seines Wissens zu verkünden, die demütige Lüge eines Glaubens. Er verschiebt das religiöse Problem ins Nationale, dem er den Fanatismus des göttlichen gibt. Und wie sein getreuester Knecht antwortet er auf die Frage: »Glauben Sie an Gott?« in der aufrichtigsten Konfession seines Lebens: »Ich glaube an Rußland.«

      Denn das ist seine Flucht, seine Ausflucht, seine Rettung: Rußland. Hier ist sein Wort nicht mehr Zwiespalt, hier wird es Dogma. Gott hat ihm geschwiegen: so schafft er sich als Mittler zwischen sich und dem Gewissen selbst einen Christus, den neuen Verkünder einer neuen Menschheit, den russischen Christus. Aus der Wirklichkeit, aus der Zeit stürzt er sein ungeheures Glaubensbedürfnis einem Unbestimmten entgegen – denn nur einem Unbestimmten, einem Grenzenlosen kann dieser Maßlose sich ganz hingeben – in die ungeheuere Idee Rußland, in dieses Wort, das er anfüllt mit allem Unmaß seiner Gläubigkeit. Ein anderer Johannes, verkündigt er diesen neuen Christus, ohne ihn geschaut zu haben. Aber er spricht in seinem Namen, in Rußlands Namen für die Welt.

      Diese seine messianischen Schriften – es sind die politischen Aufsätze und manche Ausbrüche der Karamasow – sind dunkel. Verworren enttaucht ihnen dieses neue Christusantlitz, der neue Erlösungs-und Allversöhnungsgedanke, ein byzantinisches Antlitz mit harten Zügen, strengen Falten. Wie von den alten rauchgeschwärzten Ikonen starren fremde stechende Augen uns an, Inbrunst, unendliche Inbrunst in sich, aber auch Haß und Härte. Und furchtbar ist Dostojewski selbst, wenn er diese russische Erlösungsbotschaft uns Europäern wie verlorenen Heiden kündet. Ein böser, fanatischer, mittelalterlicher Mönch, das byzantinische Kreuz wie eine Geißel in der Hand, so steht der Politiker, der religiöse Fanatiker uns gegenüber. Wie ein Delirant, ein Heimgesuchter in mystischen Krämpfen, nicht in sanfter Predigt kündet er seine Lehre, in dämonischen Zornausbrüchen entlädt sich seine maßlose Leidenschaft. Mit Keulen schlägt er jeden Einwand nieder, ein Fiebernder, gegürtet mit Hochmut, funkelnd von Haß, stürmt er die Tribüne der Zeit. Schaum steht vor seinem Munde, und mit zitternden Händen schleudert er den Exorzismus über unsere Welt.

      Ein Bilderstürmer, ein rasender Ikonokiast, fällt er her über die Heiligtümer der europäischen Kultur. Alles stampft er nieder, der große Tobsüchtige, von unseren Idealen, um seinem neuen, dem russischen Christus den Weg zu bereiten. Bis zum Irrwitz schäumt seine moskowitische Unduldsamkeit. Europa, was ist es? Ein Kirchhof, mit teuern Gräbern vielleicht, aber jetzt stinkend von Fäulnis, nicht einmal Dünger mehr für die neue Saat. Die blüht einzig aus russischer Erde. Die Franzosen – eitle Laffen, die Deutschen – ein niedriges Wurstmachervolk, die Engländer – Krämer der Vernünftelei, die Juden – stinkender Hochmut. Der Katholizismus – eine