Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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ab, und als die Trennungsstunde schlug, schickte die Witwe, die mich mit ihren Leuten begleitet hatte, die Dienerschaft nach Hause zurück und entschloß sich, mir auch für die Überfahrt von fünfunddreißig Meilen, die von der einen zur andern Insel zurückzulegen sind, das Geleit zu geben. Als die Matrosen mich ins Boot trugen, das uns zu dem auf der Reede liegenden Schiff hinführen sollte, hatte ich mir die Augen mit der Hand bedeckt, um die Tränen der herzlich guten Frau nicht sehen zu müssen. Zu meiner großen Überraschung fand ich sie dann neben mir im Boot; ruhig und zufrieden saß sie da, wie nach einem edlen, siegreich bestandenen Kampf.

      Sie brachte mich bis nach Basse-Terre, wo sie Bekannte hatte; sie nährte noch immer die Hoffnung, mir eine angenehmere Überfahrt nach Europa beschaffen zu können. Wir mußten Tage lang warten, ehe wir in See gehen konnten, und während all der Zeit nahm sie mich innig in Schutz; wir betrachteten das Schauspiel, das uns auf allen Seiten umgab, und sprachen nichts mehr.

      Auf der einen Seite breitete das uferlose Wasser seine ungeheure Fläche, schwarz und glänzend unter einem Mond, der sich in jeder irrenden Woge vervielfältigte. Vor uns entfaltete der Hafen seine stille Belebtheit, die nur am Tanz der Lichter von Schiff zu Schiff erkennbar war, und rückwärtsschreitend verließ ich ihn, um ihn lange vor Augen zu behalten, und er erschien mir ganz anders, als an jenem stürmischen Tag meiner Ankunft hier.

      Mitten aus diesen Dingen, deren Bild mir unauslöschlich eingegraben ist, sah ich – mein Gott, ich hatte es mir oft geträumt! – sah ich meine Mutter mit ausgebreiteten Armen zu mir ans Land eilen… Ich weiß keine Erinnerung, die trauriger wäre. Was bedeutet alles Folgende und wie ich heimgelangte, mein Los in Frankreich zu erfüllen, das mir alles, doch dem ich nichts war. Du Liebe zum Lande unserer Wiege, sei gesegnet, du süßes und trauriges Mysterium – gleich jeder anderen Liebe!…

      Aufzeichnungen aus Italien

       Inhaltsverzeichnis

      Meine erste Sorge bei der Ankunft in Mailand war, zur Post zu eilen. Die Sonne, der Staub hatten uns durstig gemacht nach einem Brief von meinem Sohn und von Dir, und ich habe noch immer nichts vorgefunden, trotz der sechs Tage Reise-Verzögerung in Lyon und Turin. Ich werde Dir erst in einigen Tagen von jener Stadt berichten. Ein trauriges Herz verfinstert jede Schönheit. Ich wage augenblicklich nicht zu sagen, welchen Eindruck sie mir gemacht hat, sondern will es aufschieben, bis ich Eure ersten Nachrichten erhalten habe. Der Bericht würde heute ganz anders ausfallen.

      Nach der langen Fahrt auf völlig schattenloser Straße in glühender Hitze waren wir von der Sonne verbrannt und glichen jeder einem lebendigen Staubhaufen. – Die Direktoren erwarteten uns freundlicherweise am Posthof und luden uns ein, andere Wagen zu besteigen, die uns mit solcher Schnelligkeit mitten durch die Stadt führten, daß es mir war, als würde ich von einem Traum gefächelt.

      Alle Straßen sind mit blauen Quadern eingefaßt, die nur für Fußgänger bestimmt sind, so daß man beim Spazierengehen die Häuserwände streift. Die Straßenmitte gehört den Wagen; deren Eleganz bemerkenswert ist. Viele haben vier Pferde, Wagenzier und reiches Zaumzeug. Die Damen sitzen zur Schau wie in den Logen, sehr würdevoll und mit viel Geschmack gekleidet. Vor allem wissen sie sich mit ihrem meist schönen Haar wundervoll zu schmücken: sie lassen es von der Schläfe bis zur Brust in langen Ringeln niederfallen, denen sie, trotz der ungewöhnlichen Hitze, der sie sich aussetzen, Haltbarkeit zu verleihen wissen. Ich habe viele entzückende Frauen gesehen… Ihr Blick ist auf der Promenade kalt und hochmütig, ihre Haltung aufrecht, frei und würdig.

      Die Bevölkerung scheint in zwei Gattungen zu zerfallen, die voneinander sehr verschieden sind: die eine gesund, hochgewachsen, vollkommen; die andere verkrüppelt, elend, schleppend. Vor den Türen, auf den Wegen, in den Kirchen – überall mißgestaltete Zwerge, mit Kröpfen behaftet oder verkrüppelten Gliedern, die sie auf Krücken stützen. Es ist für alle, die nicht durch die Gewohnheit abgestumpft sind, ein trauriger Anblick. Unter der ärmeren Klasse sind nur wenige Familien von der Heimsuchung verschont. Zum Glück knüpft sich daran ein frommer Aberglaube; man hütet diese Unglücklichen als den guten Genius der Familie, der die bescheidene Gestalt angenommen hat, um das Haus vor allem Unheil zu bewahren.

      … Unser Hausherr führte uns eines Abends zur Kirche San Ambrosio, die so hochberühmt ist, daß wir sehr danach verlangten, sie zu sehen.

      … Ich glaubte, wie damals von Santa Maria, gleich beim ersten Anblick ergriffen und geblendet zu werden von dem leichten, aufstrebenden Schwung des Bauwerks – das ist aber nicht so. Alles ist streng und düster; man glaubt in die frühen Mysterien des Christentums einzutreten. Das Kloster, das die Kirche umgibt, die nackten Mauern, die Höfe, in denen das Unkraut wuchert, die kaum noch erkennbaren Freskomalereien, die gotischen massiven Tore – alles zeugt von den Kämpfen, denen die Religion in ihren Anfängen ausgesetzt war. Ich glaubte mich unter der Erde zu befinden, gleichsam erdrückt von den vierzehn Jahrhunderten, die diese Kirche bedrängt haben, die sich dennoch unerschütterlich zu halten weiß. Man berichtet, daß eine eherne Schlange, hoch oben auf einer Marmorsäule, sich aufgerichtet und die Geburt des heiligen Ambrosius verkündet habe. – Zwei eiserne Portale bieten alles, was Menschenarbeit Wundersames leisten kann: Kunst, Ausdauer, glühende Gottesverehrung sprechen aus jeder, mit unbeschreiblicher Feinheit ziselierten Gruppe. Man ist ein Nichts vor solchen Dingen. Ihre Besitzer kennen ihren Wert so gut, daß sie diese Wunder der Kunst hinter doppelten Gittern und zweimal verschlossenen Türen verwahren. Eins der Schlösser ist ein Löwenkopf, und der Schlüssel wird in sein Maul gesteckt…

      Alles, was ich an Musik in Mailand höre: abends im Theater, in den Schulen, den Kirchen, bis hinauf zum Klang der Glocken, ist weit entfernt von Träumerei und sanftem Leid: alles hat den Charakter eines a cantate, einer Bravour-Arie, und es ist kein leichtsinniges Urteil, das ich da ausspreche. Die Stimmen der Leute, so ansprechend in Béarn, so feierlich in Deutschland, sind hier fast ebenso roh und kreischend wie in Lyon; das Land der Falschsinger und Schreier – bis auf einige schöne Ausnahmen. Wenn ich Dich hier hätte, so würde ich Dich vor allem in den Dom führen und rund um die Stadtmauern, von wo man allerorten diesen Dom wie eine köstliche Vision erblickt…

      Ich beginne stündlich ein paar Aufzeichnungen für Dich, und ich werde durch tausend kleine Pflichten, die mich nicht aufatmen lassen, daran gehindert. In Paris war es die Hausglocke, die mich jeden Augenblick aufscheuchte, um die oft so öden, so anstrengenden Besuche über mich ergehen zu lassen, denen ich mich nicht entziehen konnte, weil mein Dienstmädchen ein zartes Gewissen hatte und ihr Seelenheil nicht mit der Lüge, ich sei nicht zu Hause, aufs Spiel setzen wollte. Hier bin ich davor geborgen, keine Seele sucht mich. Das Läuten der Glocken, das Krähen der Hähne, die Schüsse in den Trauerspielen des Theaters – aus dessen Wandelgängen man in dasselbe Gärtchen hinuntersieht, das unten vor meinem einzigen Fenster liegt –, das ist die ganze Begleitung zu dem immer eiligen Takt meines Herzens, das stets voll Liebe für Dich ist; aber ich muß mich oft bescheiden, an Dich zu denken, ohne zum Schreiben Zeit finden zu können. Wir haben keine Hilfe im Haushalt, und meine Tage erschöpfen sich in dieser Tätigkeit, die mir in ihrer vollen Schwere nicht leicht wird, denn die Hitze ist ungeheuer und der Mangel an Küchengeräten groß. Oft, wenn ich durch die Straßen irre, auf dem Wege zur Post oder sonstwohin, verweilt meine Vorstellung bei der seltsamen Lage, in der ich mich mit meiner Familie befinde. Da vor allem mache ich von der traurigen Freiheit Gebrauch, herumzulaufen, zu reden, zu weinen, während ich durch verlassene Gassen eile, vorbei an fremden Häusern bis zu einer gastlichen Kirche, in die ich mich flüchte, als suchte ich durch eine Hintertür im Hause meines Vaters Zuflucht. Hier bin ich gewiß, daß man mich hört. Ich werfe mich auf die Kniee, schlage das Kreuz und verweile kummervoll auf diesen Marmorfliesen, von denen niemand mich vertreiben darf – das ist eine große Gnade, die ich mit Dir teile, denn Dein Herz ist in mir. –

      Würdest Du die Kirche San Popolo sehen, Du würdest sie nie vergessen. Da ist eine Darstellung der Szene, wie Jesus den Aposteln die Füße wäscht, halbkreisförmig im Hintergrund eines Altars; dieser Hintergrund wirkt wie ein wirkliches Zimmer, worin die zwölf in Holz geschnittenen Gestalten in Lebensgröße einen so packenden Eindruck machen, daß man zu sehen meint, wie sie sich bewegen.