zu den Tüchtigen.
Er haßte sein Geschäft. Bevor er in ein Kaffeehaus trat – denn in den Kaffeehäusern wickelte man die Geschäfte ab –, hatte er hundert Bedenken. Andere kamen mit der siegreichen Festigkeit eines Commis voyageur von Beruf, in der Überzeugung, ihr Opfer zu finden, zu überreden und gefügig zu machen; eine Überzeugung, die Geschäftsreisende ebenso unwiderstehlich macht wie couragierte Liebhaber und angreifende Generale. Zipper aber war zaghaft, und er zog infolgedessen das Mißgeschick an, ungefähr wie manche Menschen Krankheiten anheimfallen, weil sie Ansteckung und Erkältung fürchten. Zippers Empfindlichkeit verursachte es, daß er den zufälligen und harmlosen Blick eines Kellners für einen vorwurfsvollen hielt. Man mußte im Spielsaal des Kaffeehauses stehen, so lange, bis der Käufer von seiner Kartenpartie aufstand. Wie oft aber kam es vor, daß der Käufer Zipper schon bei seinem Eintritt bemerkte, ihm durch ein Zeichen zu verstehen gab, daß er warten möchte, und in der Hitze des Spieles den Wartenden vergaß oder nur zu vergessen schien! Denn es war auch eine Methode darin, denjenigen, der das Angebot machte, zu zermürben; zu erproben, ob er so sehr »im Druck« war, daß er geduldig wartete, oder ob er so unabhängig war, sofort wegzugehen, wenn der Käufer nicht schnell genug zugriff. Andere konnten in dem Kaffeehaus, in dem sie ein Geschäft abschließen wollten, auch Gäste werden – durch die recht einfache Tatsache, daß sie sich an einen Tisch setzten, von dem aus sie ihr Opfer zu beobachten vermochten und wo sie einen Kaffee tranken. Allein diese »Spesen« konnte Zipper nicht aufbringen. Für ihn bestand die Schwierigkeit darin, in ein Kaffeehaus so zu treten, als suchte er einen Geschäftsfreund; zu warten, bis der Geschäftsfreund mit seinem Spiel fertig war – und zwar so zu warten, daß man ihn weder für einen Unerwünschten noch für einen Zudringlichen noch für einen Bemitleidenswerten halten durfte. Er mußte die Fähigkeit vortäuschen, jeden Augenblick einen Kaffee zu bestellen, und jene Freiheit der Haltung, die dem Kellner zu verstehen gibt, daß man nur deshalb nichts bestellt, weil man gesättigt und ganz ohne Wunsch ist.
Man wurde müde, während man stand, durfte sich aber nicht setzen, weil man nicht einen Tisch einnehmen konnte, ohne zu »konsumieren«. Es gab nichts Schlimmeres für Zipper als diese Viertel-und halben Stunden, in denen er wartete, im Zwielicht des Spielsaals, in dem die gelben Lichter schon entzündet waren, obwohl aus dem vorderen Raum noch die Sonne eindrang. (Aber die Spieler brauchten diesen vorgetäuschten Abend, ebenso wie die Besucher der Freudenhäuser herabgelassene Jalousien.) Zipper wartete. Er ging hin und zurück. Er blieb stehen und blätterte in einer Zeitung und gab sich den Anschein, als hätte er gerade eine Notiz gefunden, die ihn besonders interessierte. Dabei durfte er den Mann, auf den er wartete, nicht aus dem Auge lassen. Ja, er mußte von Zeit zu Zeit versuchen, seine Anwesenheit dem Käufer in Erinnerung zu bringen. Gelang es ihm endlich und stand der Ersehnte auf, so war Zippers Energie schon verbraucht, die Energie, deren er bedurft hätte, um den Widerspenstigen von der Notwendigkeit eines Kaufs zu überzeugen. Hätte Arnold doch die harmlose, optimistische Freude am Gespräch gehabt, die seinen Vater auszeichnete! Aber der junge Zipper hatte ein schwereres Blut als der alte, ein klügeres Gehirn und eine zartere Haut.
Wenn es Arnold trotzdem gelang, so viel zu verdienen, daß er jeden Abend ins Kaffeehaus gehen konnte – in ein anderes Kaffeehaus, wo keine Kunden saßen –, daß er Zigaretten rauchte und mit der Straßenbahn manchmal die freie Natur erreichte, so verdankte er es dem Umstand, daß viele seiner früheren Kameraden unter den Geschäftsleuten waren, die für ihn in Betracht kamen. Diese Kameraden, Kaufleute aus Zufall, hatten eine leichtere Hand, ein menschliches Herz und eine gewisse Solidarität mit Zipper. Sie gaben ihm zu verdienen – wie man sagt. Nachdem aber schon all seine Bekannten an der Reihe gewesen waren, mußte Zipper eine neue Beschäftigung suchen.
In der Familie Zipper hatte die Hoffnung Platz gegriffen, daß Arnold nach Brasilien kommen könnte, zu des alten Zippers Bruder, der seit dem Krieg nichts geschrieben hatte. Manche, die keinen Onkel drüben wußten, machten sich auf den Weg. Die Heimat war so eng geworden, daß die ältesten Menschen, die nie ihren Bezirk verlassen hatten, Sehnsucht bekamen, in eine sehr ferne Welt auszuwandern und die nahe auszutilgen aus der Erinnerung, aus dem Herzen, aus dem Leben. Arnold schien es der einzige Ausweg. Wenn er sich aufrichtig nach seinen Absichten ausforschte, so mußte er zugeben, daß ihm nichts gleichgültiger war als eine öde, geregelte Arbeit zu Hause. Vielleicht mußte man in der Fremde härter arbeiten, aber es war die Ferne. Er las viele Reiseschilderungen. Er hatte sie schon seit seiner Knabenzeit gelesen. Aber niemals war der Wunsch zu reisen in ihm vorher erwacht. Erst als er aus dem Krieg zurückkam, dieses Haus wiedersah, in dem er groß geworden war, diesen Vater, der ihn erzogen, diese Mutter, die um ihn geweint hatte, als er den Schatten des Bruders fühlte, der jetzt erst, nach dem Tode, ein Mitglied der Familie geworden war; als Arnold dieses Land sah, dessen Bürger er war, in dem es galt, jeden Augenblick irgendeiner Partei anzugehören, irgendeine Gesinnung zu bezeugen, in Wirklichkeit also weiter zu dienen für irgendein »öffentliches Wohl«, das man nicht kannte, das man nicht sah und griff und das nur in den Zeitungen beschrieben stand, da erst wollte er nach Brasilien.
Er war aber zu empfindlich, um im Vertrauen auf seinen Onkel auszuwandern, wie es seine Eltern gewünscht hatten. Von allen Grundsätzen der verkehrten Erziehung, durch die der Mensch verdorben wird, war einer der dümmsten Arnolds Überzeugung geworden, jener Grundsatz, der in dem geflügelten Wort seine törichte Form gefunden hat: »Selbst ist der Mann!« Er hatte diesen amerikanischen Ehrgeiz, ganz allein, ohne Hilfe, etwas zu erreichen. Den Grundsatz, der einen amerikanischen Milliardärssohn veranlaßt, nicht im Alter von zwanzig Jahren so nützlich zu werden, wie er sein könnte, sondern zuerst mit Streichhölzern zu handeln und den Weg, den sein Vater schon gemacht hat, noch einmal zurückzulegen. Ein widernatürlicher Ehrgeiz, etwa jenem vergleichbar, der einen jüdischen Verteidiger für Zivilsachen zwingt, als erster einen noch nie erstiegenen Alpengipfel ohne Führer zu erklimmen; einen Artisten, seine Kunststückchen auf einem Aeroplan zu vollführen, obwohl sie auch auf dem Trapez lebensgefährlich sind; einen Maurermeister, ohne Gerüst an einem Wolkenkratzer zu arbeiten. Diesen Ehrgeiz besaß Arnold. Er wollte allein nach Brasilien, und er träumte davon, eines Tages seinen Vater mit einem Telegramm vom Bord eines Dampfers zu überraschen. Im Grunde war sie vielleicht ein Erbe des alten Zipper, diese Freude an Überrumpelungen, ein Vergnügen für kleine Bürger. Es gab in jener Zeit viele Agenten für Auswanderer in romantische Fernen. Es gab Vereine von jungen Leuten, die eine gemeinsame Fahrt nach Australien für einen Sonntagsausflug hielten und die überzeugt waren, daß ihnen nichts unmöglich sei, weil sie dem Tod entronnen waren. Einem dieser Vereine trat auch Arnold bei. Es schien ihm besser zu gehen, seitdem er seinen Wochenbeitrag regelmäßig zahlte. Sein Leben hatte wieder einen Sinn bekommen. Etwas zu verbergen war auch eine Beschäftigung. Aber nach kurzer Zeit verschwand der Kassierer des Vereins mit allen Monatsbeiträgen. Wahrscheinlich war er der einzige, dem es gelang, Brasilien zu erreichen.
Indessen hatte Zippers Vater schon an den Bruder geschrieben. Man knüpfte wieder Beziehungen an, wie Staaten untereinander. Von Zippers brasilianischem Bruder kam ein eingeschriebener Geldbrief. Man möge warten, schrieb der Bruder. Er gedenke, seine alljährlichen Besuche wieder anzufangen wie vor dem Kriege, und bald wolle er kommen.
IX
Im Hochsommer kam Zippers Bruder aus Brasilien.
Ich hatte ihn früher nie gesehen. Denn wenn er gekommen war, lud man mich nicht ein. Man sah ihn nur einmal im Jahr, man wollte mit ihm allein sein. Sein Aufenthalt kostete Geld, und man gestand ihm nicht, daß man »knapp war«. Die Zippers konnten gerade noch ihn bewirten, und er mußte für zehn Männer essen – nach den Beschreibungen, die mir Arnold gab. Nach diesen Beschreibungen malte ich mir den Onkel Arnolds wunderbar aus. Vor allem war er ein Farmer. Ein Mann also, der die Phantasie bewegt. Ein Mann, der Sklaven hält. Ein Mann, der eventuell wilde Pferde einfängt. Ein Mann, der vielleicht eines Tages eine Goldmine findet oder sie schon gefunden hat. Ein Mann ohne Rock und Weste, mit breitem Gürtel und großem Panamahut. Die Tatsache, daß der Bruder dieses braven Bürgers Zipper ein Farmer war, schien mir noch weniger wahrscheinlich als die Geschichte von den merkwürdigen Umständen in Monte Carlo.
Dennoch