Йозеф Рот

Gesammelte Werke von Joseph Roth


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sagte mir, sie hätte sich im Krieg verlobt, die Verlobung sei dann zurückgegangen. Erna ist jetzt in der Schauspielschule, sie will Schauspielerin werden. Ich glaube, sie hat recht, wenn ich mich erinnere, wie sie in der Dunkelheit lachen konnte.«

      »Wie lang habt ihr euch nicht gesehen?«

      »Es werden zehn Jahre her sein. Ich weiß nicht, ob ich sie wiedererkenne.«

      An diesem Abend begleiteten wir einander nicht mehr nach Haus. Es war eine kühle und neblige Nacht. Arnold verabschiedete sich sehr schnell. Es schien mir, daß er sich schämte.

      Wir hatten so viel miteinander gesprochen, wir hatten uns eigentlich nichts mehr zu sagen. Er mochte fühlen, daß die Schweigsamkeit auf einem gemeinsamen Weg uns quälen könnte. Außerdem hatte er an eine alte Geschichte zum ersten Male nach Jahren gerührt. Tun wir es manchmal, so ist es, als hätten wir eine längst verstopfte Quelle wieder geöffnet und als müßten wir warten, bis der Strom sich besänftigt hat, der uns vorläufig bedrängt.

      Vielleicht hatte Arnold den Wunsch oder die Sehnsucht, Erna wiederzusehen, und er wollte über den Weg nachdenken, auf dem er sie am besten treffen könnte. Vielleicht hoffte er, in ihr, mit ihrer Hilfe zumindest, seine Kraft und ein Ziel zu finden. Vielleicht war auch nur die Erinnerung an sie die schönste und leichteste Flucht aus dem schmalen Dasein, das er führte; und er wollte mit der Erinnerung allein sein, wie man auf einem Friedhof allein sein will.

      XI

       Inhaltsverzeichnis

      Seitdem Arnold im Finanzamt war, besuchte er das Kaffeehaus eher aus Leidenschaft als aus Gewohnheit. Es gehörte zu seinen Erfüllungen und nicht mehr zu seinen Bedürfnissen. War er schon früher – und besonders, seitdem er aus dem Krieg zurückgekommen war – nicht fähig gewesen, einen Abend allein zu sein, so erfaßte ihn jetzt ein wahres Entsetzen vor der Einsamkeit. Nicht, daß er etwa die Sehnsucht gehabt hätte, in einer Gesellschaft zu leben. Er wollte nur im Kaffeehaus sitzen, nichts anderes als im Kaffeehaus sitzen.

      Er hatte ein paar Bekannte, vielleicht ein paar Freunde. Es waren Schriftsteller, Maler, Musiker, Bildhauer. Ich kannte keinen genaueren Leser, kein gewissenhafteres Publikum, keinen eifrigeren Theaterbesucher, keinen frömmeren Hörer von Musik als Arnold. Für alle Künste interessierte er sich. Jenen, die sie ausübten, nahe zu sein gehörte zu seinen bescheidenen Freuden. Sicherlich beneidete er sie. Denn sie allein, so schien es ihm, hatten einen Sinn in ihrem Leben gefunden und besaßen ein Recht, dazusein, Geltung zu haben, Ansehen und Macht. Was sie sprachen, schien ihm so wichtig, daß er ihnen nur zuhörte, ohne sich an ihrem Gespräch zu beteiligen. Vielleicht fand er einen Trost darin, daß er ihre Abende teilte, obwohl seine Tage so ganz anders aussahen als die ihrigen. Vielleicht aber auch war er klüger, als ich glaubte, und er tröstete sich, wenn er die Künstler sah, damit, daß auch sie schließlich nicht von anderen Sorgen sprachen als alle Welt. Auch sie hatten kein Geld. Auch sie konnten keine Reisen machen. Auch sie spielten Tarock und Sechsundsechzig und Domino. Auch sie tranken Kaffee und tauchten ihre Kipfel ein.

      Arnold spielte nicht, aber er sah gerne zu. Er war mit der Zeit manchen Spielern ein unentbehrlicher Kiebitz geworden. Man erholte sich einigermaßen von den Aufregungen des Spiels, wenn man von den Karten aufblickte und Zipper ansah. Die ständige Schwermut seines Angesichts – deren Grund übrigens niemand wußte und wahrscheinlich nur ich allein verstand, weil ich das Haus Zipper kannte, also die Heimat dieser Schwermut –, seine unveränderliche Leidenschaft, den Wechsel von Pech und Glück mitzuerleben, seine aufmerksame Schweigsamkeit, sein genauer Blick, der den Bewegungen und den Händen und den Karten immer folgte, mußte die Spieler ebenso beruhigen und zufriedenstellen wie einen Autor, der sein Werk vorliest, ein gespannter und mitgenommener Zuhörer. Es schmeichelte den Spielern, wenn Zipper ihnen zusah. Es war, als spendete er ihnen stillen Beifall. Wenn sie vom Spiel aufstanden, verließ Arnold nur zögernd den Tisch. Es tat ihm offensichtlich leid. Er fühlte sich leer. Er mußte jetzt zu einem anderen Tisch gehen, man spielte dort nicht mehr, man sprach nur, und ein Gespräch war lange nicht so übersichtlich. Außerdem war er an einem Tisch, an dem man nur sprach, mehr fremd als an einem, an dem man spielte. Denn verlangten die Gesetze des Kartenspiels geradezu einen Kiebitz, so waren die Gesetze einer Unterhaltung einem Außenseiter nicht hold. Arnolds hellhörige Empfindlichkeit erriet hundertmal die Frage, die sich viele stellten und die niemand aussprach: Was macht eigentlich dieser Zipper hier? Denn man wußte, daß er nicht malte, nicht schrieb und nicht komponierte, aber alle, die malten, schrieben und komponierten, kannten Zipper. Er beschäftigte sich nicht einmal mit der Politik, die ebenso wie die Tätigkeit in einer Redaktion jeden Gast in diesem Kaffeehaus heimisch machte. Dennoch gehörte Arnold in dieses Kaffeehaus und in kein anderes. Er ging unter den Schriftstellern herum – die immer auf der Jagd nach einem »Thema« waren – wie ein Romanstoff, der sich umsonst anbietet. Die Schriftsteller aber sind nicht geneigt zu glauben, daß ein Kiebitz literarisch brauchbar sein kann.

      Sie gewöhnten sich an Zipper. Jeder hatte sich die Frage, was er eigentlich hier mache, schon so oft gestellt, daß er schließlich der Meinung war, er hätte schon eine Antwort auf sie gefunden. Es gefiel ihnen, einen Menschen in der Nähe zu haben, der nicht vom Fach war, aber dem Fach immerhin so nahe, daß man nichts übersetzen mußte, um ihm verständlich zu sein. Auch wenn sie sprachen, war er ihr Publikum. Und da sie mehr sprachen, als sie schrieben, war ihnen ein Leser, der zuhörte, von Nutzen.

      Und Arnold hörte zu. Das Kaffeehaus lockte ihn jeden Abend, wie das Gasthaus einen Trinker, wie der Spielsaal einen Spieler. Er konnte nicht mehr leben ohne den regelmäßigen Anblick der kleinen, weißen, runden und der viereckigen grünen Tische; der dicken Säulen, die einmal in der ersten Jugend dieses Kaffeehauses seinen prunkvollen, majestätischen Charakter betont haben mochten, die heute schwarz von Rauch waren, gleichsam von jahrzehntelangen Opferbränden, und an denen Zeitungen hingen wie dürre Früchte in dürren, gelben, klappernden Rahmen; der dunklen Nischen, beschattet von Überkleidern an schwerbehängten Ständern; der Toilette im Korridor, vor der ein ständiges Kommen und Gehen war, vor der man Bekannte traf und begrüßte und vor der man, ohne zu merken, wie die Zeit verstrich, eine halbe Stunde stehen konnte; der blonden Kassierin am Büfett, die jeden beim Namen kannte und die den Stammgästen die Post verteilte, während sie Briefe und Karten, die für die gewöhnliche »Laufkundschaft« gekommen waren, in einer unpersönlichen, dienstlich kühlen Vitrine ausstellte; der Kellner, die niemals wechselten, niemals starben, niemals nach den Wünschen der Gäste fragten, sondern immer das Gewohnte brachten; der Karbidlampen, die um jene Zeit das Gas und die Elektrizität ersetzten und die aussahen wie gezähmte und zum Nutzen der Menschheit verwendete Irrlichter. Sie sangen übrigens – und auch diese Musik war Arnold unentbehrlich. Sie flackerten, wenn sie am Ende ihrer Kräfte waren, und warfen zackige Schatten um die Tische. Dann stieg ein Kellner auf Stühle und hauchte ihnen mit einem Blasebalg neues Leben ein. Fliegen summten, Karten klatschten, Dominosteine klapperten, Zeitungen rauschten, Schachfiguren fielen mit hartem Schlag auf Bretter, Billardkugeln rollten dumpf über gepolstertes Holz, Gläser klirrten, Löffel klangen, Schuhe schlurften, Stimmen murmelten, Wasser tropfte sentimental aus einem fernen, wie geträumten Hahn, der sich niemals schloß – und über allem sangen die Karbidlampen. Manchmal glich das Kaffeehaus einem Lager überwinternder Nomaden, manchmal einem bürgerlichen Speisezimmer, manchmal einem großen Wartesaal in einem Palast und manchmal einem warmen Himmel für Erfrorene. Denn es war warm, es war eine animalische Wärme, unterstützt von glimmenden Kohlen in drei breiten Öfen, durch deren Gitter es rötlich schimmerte und die aussahen wie Eingänge zu einer Hölle, die nichts Schreckliches hat. Erst wenn Arnold dieses Kaffeehaus betrat, war er seinem Tag endgültig entronnen. Hier erst begann seine Freiheit. Denn obwohl die Drehtür sich unaufhörlich bewegte, konnte Arnold doch sicher sein, in diesem Kaffeehaus keinen Menschen zu finden, der ihn an seine Arbeit oder an eine Arbeit überhaupt erinnerte. Nicht an seine Arbeit, nicht an das Viertel, aus dem er kam, nicht an die Freunde seines Vaters konnte hier irgend etwas gemahnen. Nur dünne, gelbe Vorhänge verhüllten die Straße an den Fenstern. Aber diese Vorhänge waren so dicht, daß man glauben konnte, selbst Steine und Schüsse würden an ihnen wirkungslos zurückprallen. Diese Welt hatte nichts mit der bitteren und nüchternen