er besaß, zu öffnen. Er wußte, daß man Frau Bernheim keinen größeren Kummer zufügen könnte, als wenn man dieses Geld, das ihr schon leid tat, wenn sie es verschenken durfte, auch noch stahl.
Zuerst nahm er die Büchse in sein Zimmer. Er schloß die Tür ab, versuchte einen der kleinen Schlüssel nach dem andern, dachte nach, ergriff ein Messer und begann, vorsichtig den Spalt auseinanderzustemmen. Er hatte Herzklopfen vor Schreck und Freude … Ein paar Augenblicke ließ er die Büchse ruhig stehn und versuchte, sich die Aufregung seiner Mutter vorzustellen. Sein Mund sagte plötzlich laut: »Kanaille!« Er horchte. Da sich nichts rührte, kehrte er die Büchse um. Aber sie schepperte lauter, als er erwartet hatte. Er lauschte wiederum. Er machte die Türe auf und überzeugte sich, daß niemand da war. Dann begann er, mit unendlicher Sorgfalt eine Münze nach der andern herauszuholen. Viele rollten gehorsam und glatt durch den Spalt. Andere blieben hartnäckig drinnen. Er wurde müde, setzte sich, er hatte die Leidenschaft eines Jägers. Er arbeitete bis tief in die Nacht. Es waren schließlich nur noch wenige scheppernde Münzen in der Büchse. Dann drückte er vorsichtig die Spaltsäume zusammen, schlich hinaus und stellte die Büchse wieder an ihre Stelle.
Er zählte das Geld. Es ergab gerade den Monatsbeitrag für den Verein »Gott und Eisen«, dem er seit zwei Jahren angehörte.
Diesen Verein hatte ein junger Mann namens Lehnhardt begründet. Außer ihm, dem Gründer, der ein Bürgerlicher war, sollten nur Adelige aufgenommen werden. Deren gab es aber nach zwei Monaten nur vier. Deshalb wurden die Statuten dahin verändert, daß nur »Blonde aus arischen Familien« aufgenommen werden durften. Bei näherem Zusehn ergab es sich aber, daß die Haarfarbe des Gründers selbst eher braun als blond war. Immerhin wies man den schwarzhaarigen Sohn des Landesgerichtspräsidenten ab. Dieser Junge beklagte sich bei seinem Vater. Er behauptete, Lehnhardt und Theodor Bernheim hätten ihn einen Juden genannt. Sehr indigniert lud der Landesgerichtspräsident die beiden ein und bewog sie, seinen Sohn aufzunehmen. So blieb schließlich das Statut, das den Juden den Zutritt verbot.
Sie halfen einander mit Büchern, Geld und Waffen aus. Sie schwuren, nachdem sie die Notprüfung abgelegt hatten, immer in Verbindung zu bleiben. Vorläufig meldeten sie sich zur freiwilligen Sanität. Sie hatten »Dienst«, gingen zu den Verwundetentransporten, schleppten Tragbahren, saßen neben den Chauffeuren der Krankenwagen und pfiffen aus schrillen Pfeifen in den Straßen der Stadt, um die anderen Gefährte aufzuhalten. Jeden Tag erwachten sie in der Erwartung, die Mobilisierung ihres Jahrgangs angekündigt zu sehn. Als aber schließlich der Friede kam, schwuren sie der Republik Rache, suchten und fanden Beziehungen zu den geheimen Organisationen und marschierten zweimal wöchentlich zu den Übungen vor die Stadt.
Bei diesen Übungen tat sich Theodor nicht hervor. Er war zu körperlichen Anstrengungen ungeeignet. Die Fahlheit seiner Haut, seine hastigen, kurzen Schritte, seine Sprache, die oft tonlos wurde, die Aufregung, in der er gleichgültige Dinge mitzuteilen pflegte, die Heftigkeit der Bewegungen erweckten den Eindruck, daß man seinen hastigen Puls hörte. In seiner Brust schien das zappelnde, kleine, aufgeregte Herz eines Vogels eingebaut. Er konnte einem mit dem Ausdruck eines Menschen entgegentreten, der soeben eine überraschende Neuigkeit erfahren hat, um dann eine schlichte Mitteilung etwa von dieser Art zu machen:
»Wissen Sie schon? Habe ich es Ihnen nicht schon gesagt? – Ich habe gestern einen Brief von Gustav bekommen.«
Er verlieh den unbedeutendsten Ereignissen eine gefährliche und geheime Wichtigkeit, ja besonders eine geheime. Es war sein Ehrgeiz, irgend etwas früher zu wissen als die andern; aber es auch unter dem Siegel der Verschwiegenheit irgend jemandem erzählen zu können. Auf diese Weise nährte er fortwährend den Glauben an seine Bedeutung. Aber fortwährend zitterte er auch um sie.
Er besaß einen Sinn für die Dinge der Öffentlichkeit und für die großen Worte: Ehre, Freiheit, Nation, Deutschland. Um jeden Preis wollte er irgendeine Wirkung üben. Seine Angst, er könnte krank werden, Angina bekommen, eine Lungenentzündung, eine Rippenfellentzündung, machte ihn ungeduldig. Er konnte kaum ein Buch zu Ende lesen. Aber er brauchte nur zehn Seiten, um über die Maßen begeistert zu sein oder um es »einen Dreck« zu nennen. Denn er liebte die starken Ausdrücke – und das war vielleicht das einzige deutliche Anzeichen seiner Jugend.
Er hielt sich für außergewöhnlich vornehm. Manchmal träumte er davon, eine Geschichte seiner Familie zu schreiben, dem Stammbaum der Bernheims nachzuforschen und den Beweis zu erbringen, daß es eine alte, adlige Rasse war. Die jüdische Abkunft seiner Mutter störte ihn. Und nicht einmal vor seiner Krankheit hatte er soviel Angst wie vor der Möglichkeit, seinen Kameraden einmal über die Familie seiner Mutter Auskunft geben zu müssen. Er beschloß, um jeden Preis zu lügen. Dieser Entschluß war so stark, seine Furcht so groß, daß er allmählich zu der Überzeugung kam, er hätte nichts zu verbergen. Alle Ausreden, die er fand, wurden im Lauf der Zeit für ihn pure Wahrheiten. Die Überzeugung, daß er vornehm sei, äußerte sich in einem Hochmut, den die Kameraden nur deshalb ertrugen, weil er hie und da mit Intimitätenaustausch und Vertraulichkeiten, ja Schmeicheleien abwechselte. Theodor konnte einem seiner Genossen sagen: »Unter uns, Sie sind ja der einzige unter den Burschen, der weiß, was er will!« Oder: »Das war glänzend, bewundernswert, wirklich eine Tat!«
Es ist anzunehmen, daß Theodor all das glaubte, während er es aussprach. An den gemeinsamen Ausflügen und Übungen nahm er nicht gerne teil. Nicht nur, weil er um seine Gesundheit besorgt war, sondern auch, weil ihm manche groben Äußerungen, manche Zudringlichkeit, eine geschmacklose Wendung beleidigten. Er hatte sich seine Vornehmheit so erfolgreich suggeriert, daß er sogar vornehme Empfindlichkeiten erwarb. Das Marschieren, das Schießen, das Kampieren im Freien machten ihm keine Freude. Nur die Tatsache, daß es eine geheime Verbindung war, die Gefahren barg, und die Möglichkeit, ein Verschwörer zu sein, aber auch von Gesinnungsgenossen gehört zu werden, hielt ihn in der Gesellschaft seiner Freunde. Er liebte die großen Stiefel nicht und nicht die Wickelgamaschen. Die Naturnähe des Wandervogels hielt er für ordinär. Er erwartete viel mehr von der »Technik«. »Für die Zukunft« – ein Wort, das er besonders schätzte. Er hatte den ehrlichen Willen, das deutsche Volk in der Welt triumphieren zu sehen, aber mit modernen Mitteln. Mit Flugzeugen, Boxern, guten und billigen Automobilen, chemischen Apparaten, merkwürdigen Maschinen. Übungen in den Wäldern nannte er im stillen und nur für sich romantisch. Nur mußte er vorläufig diese Romantik mitmachen, um durch sie zu einer realen Macht, mindestens zu einem Einfluß zu gelangen. Es machte ihm wenig aus, daß er vorderhand log. Es gehörte zu seinen Prinzipien.
In dieser Nacht konnte er lange nicht einschlafen. Über die leere Büchse würde sich nicht nur seine Mutter zu Tode ärgern – ja, zu Tode, denn wäre sie nicht vorhanden, so hätte man eine von den Ängsten weniger –, der Inhalt ersparte auch eine Ausgabe von dem Taschengeld, das man selten erhielt.
Seine Freude wurde nur durch die Gedanken an Pauls Rückkehr getrübt. Ich sehe schon, sagte er sich gegen zwei Uhr morgens, ich werde wieder einmal eine schlaflose Nacht verbringen. Zum Überfluß fängt es noch an zu regnen.
In der Tat fing es an, in der Rinne zu wimmern, die hart neben dem Fenster Theodors angebracht war. Er entzündete die Lampe am Nachttisch, fand, daß sie wenig Licht gab, stand auf, um den großen Kontakt an der Wand anzuknipsen, legte zuerst die Brille an, denn er fühlte sich unsicher im Halbdunkel, und blieb, als es hell geworden war, im Vorübergehen vor dem Schrankspiegel stehn. Er sah nicht ohne Befriedigung, daß sein Pyjama einen guten Eindruck machte. Es hatte einen seidigen Schimmer, Borten dick und geflochten nach Art der Litewkas der Kavalleristen, seine Farbe war die eines abendlichen, opalenen Sommerhimmels. Theodor liebte Pyjamas, gute Wäsche, seidene Strümpfe. Er hielt es für ein Zeichen der Vornehmheit, in der Nacht tadellos gekleidet zu sein. Krawatten gut und flott zu binden machte ihm jeden Morgen ein Vergnügen. Und für die Aufnahme des schwarzhaarigen Landesgerichtssohnes war er nicht zuletzt deshalb eingetreten, weil der Junge auf Herrenmodezeitschriften abonniert war, die er Theodor manchmal lieh.
Um einschlafen zu können, nahm Theodor Veronal. Es konnte allerdings seinem »Herzen schaden«. Er litt unter der Vorstellung, daß der Apotheker sich geirrt und ihm statt einer Medizin ein Gift gegeben hatte. Diese dummen Apotheker, dachte er, vergiften einen Menschen wie eine Ratte. Wenn ich so einem Pharmazeuten unsympathisch bin, denkt er an meinen Tod. Man muß die Kerle