Йозеф Рот

Gesammelte Werke von Joseph Roth


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Medizin studiert hatte, befaßte sich mit Abtreibungen, konnte sie aber der Diskretion wegen nur in seinem Freundeskreis ausführen und bekam also keine Honorare. Ein sechster arrangierte spiritistische Versammlungen und wurde von seinen eigenen Medien denunziert. Ein siebenter leistete der einheimischen Polizei und gleichzeitig fremden Botschaften Spionagedienste, betrog alle und fürchtete die Rache aller. Der achte verschaffte den russischen Emigranten falsche Pässe und vermittelte Aufenthaltsbewilligungen bei der Fremdenpolizei. Der neunte brachte den radikalen Blättern falsche Nachrichten aus den Kreisen der nationalistischen Geheimorganisationen. Der zehnte kaufte sie, bevor sie erschienen waren, und bekam dafür Belohnungen von den konservativen Männern, die Geld besaßen. Es erwies sich in jenen Tagen, daß die Sittlichkeit dieser Welt von nichts anderem abhängig ist als von der Stetigkeit der Valuta. Eine alte Wahrheit, die im Lauf der vielen Jahre, in denen das Geld einen unbestrittenen Wert hatte, vergessen worden war. An den Börsen der Welt wird die Moral der Gesellschaft bestimmt.

      All diesen Menschen stand die Wohnung Bernheims Tag und Nacht offen. Er, der einzige unter ihnen, verdiente wirkliches Geld, das heißt fremdes, und daher war er ihnen überlegen. Diese Überlegenheit wurde wertvoller, je mehr sie ihn kostete. In manchen Stunden überschätzte er gerne seine Freunde, um selbst in seinen Augen mächtig zu erscheinen. Er ergab sich der Illusion, endlich das Leben eines wirklichen Herrn zu führen. Und wie dereinst sein Vater, so kaufte er jetzt seine Anzüge, seine Schuhe, seine Hüte in England. Er rauchte englischen Tabak aus englischen Pfeifen, aß Früchte und Grieß und rohes Fleisch und ritt wieder wie in seinen jungen Tagen. Daß er kein eigenes Pferd besaß, machte ihm Kummer. Automobil auf Anzahlung, Chauffeur in Livree. Paul hätte gern Pferde und mehrere Wagen besessen. Überzeugt wie alle Welt, daß die Wirtschaft die Politik und das ganze nationale, ja europäische Leben bestimmte, vernachlässigte er seine kunsthistorischen und seine literarischen Neigungen und sprach nun mehr von »ökonomischen Realitäten«. »Es gilt«, sagte er zu Doktor König, einem seiner Freunde, »den Markt zu beherrschen. Der Markt ist die öffentliche Meinung. Die Zeitungen sind die Sklaven der Banken. Und wer die Banken samt deren Sklaven beherrscht, der regiert den Staat.«

      Doktor König, der linksgerichtet war, mit Rußland sympathisierte und sich für einen Revolutionär hielt, dem nur eine Revolution fehlt, hörte mit der Andacht zu, die Gegner der bürgerlichen Gesellschaftsordnung für deren Stützen immer bereithalten. Bernheim hielt ihn für einen mächtigen Führer des Proletariats, und er sah in Bernheim einen geheimen Vertrauten der Schwerindustrie. So saßen sie einander gegenüber, die Repräsentanten zweier feindlicher Mächte, persönlich objektiv bis zur Freundschaft und jeder erfüllt von dem Gedanken an die Wirkung, die er auf den andern ausübte. »Wir werden noch mit Rußland Geschäfte machen!« sagte Paul zu ihm mit versöhnlicher Ironie.

      »Ihr werdet dort das Geld verdienen, das wir euch hier abnehmen werden!« erwiderte Doktor König. Am Abend saßen sie nebeneinander am Spieltisch. Doktor König verlor. Er führte sein Unglück im Spiel auf seine Weltanschauung zurück, die ihm gebot, das Geld zu verachten. Er lieh also Geld bei Paul, der gewann und der diesen Umstand nach der traditionellen Manier mit seinem Unglück in der Liebe erklärte. Am Abend vertrug er keine Politik. Da zog er zum Beispiel die Anekdoten Kastners vor, der manchmal pornographische Werke zum Durchblättern brachte. Kastner bekam sie von Leuten, die in Geldverlegenheit waren, in Kommission. Bernheim hatte ihm schon mehrere abgekauft. Er benützte sie zur Zerstreuung der Damen, die ihn besuchten und denen er sagte: »Ich muß Sie ein halbes Stündchen allein lassen, ich habe zu tun. Blättern Sie inzwischen diese Zeitschriften durch. Nur rühren Sie mir ja nicht jene Werke an. Es ist Gift für Frauen!« Wenn er schon nach einer Viertelstunde zurückkam, sah er die Frau über den verbotenen Büchern sitzen.

      Einigemal in der Woche gab er größere Soupers, die erst im Morgengrauen zu Ende gingen. Da bediente sein Chauffeur in weißen Handschuhen. Nach dem Essen las ein junger Dichter aus Dramen vor. Man löschte den Kronleuchter aus und ließ nur in den Ecken mit dunkelblauem Batik verhängte Birnen angezündet. Der Dichter las in einem Lehnstuhl. Die Zuhörer legten sich auf die Polster, deren Bernheim etwa hundert besaß. So stellte man Sofas her. In dem Maße, in dem sich die dramatischen Handlungen verwickelten, vergrößerte sich die Aufmerksamkeit der Zuhörer für die Nachbarinnen. Während der Dichter den letzten Akt las, lagen die meisten schon im Dunkeln, als lägen sie hinter einem bereits gefallenen Vorhang.

      Die Batiklampen waren ausgelöscht. Hie und da sah man eine leuchtende Hand, die sich nach einem Glas ausstreckte. Im Nebenzimmer ließ der Chauffeur ein gedämpftes Grammophon spielen. Jemand summte mit. Schwankend erhob sich ein Paar, um zu tanzen, und fiel nach einigen Drehungen wieder hin, als wäre der Mechanismus abgelaufen, der, eingebaut in ihren Leibern, ihre Gliedmaßen bewegte. Die meisten brachten noch die Kraft auf, Zigaretten zu rauchen. Sie verbreiteten zugleich mit dem Rauch den schalen Geschmack ihrer Münder, und der Geruch von Wein, Zigaretten, Puder und Parfüm ergab zusammen den von Menthol und Zahnpasta. Ehe der Morgen graute, brachte der Chauffeur, dessen Handschuhe ewig weiß blieben, ein Wunder, leuchtend im Dunkeln, schwarzen Kaffee in winzigen Täßchen. Die Damen und jene Herren, die goldene Armkettchen trugen, führten die Tasse zum Mund, indem sie die kleinen Finger spreizten.

      Einer nach dem andern gingen die Gäste weg, ohne Abschied, zwischen Nacht und Tag, und wie aus Angst vor dem Tag. Eine halbe Stunde, nachdem der letzte das Haus verlassen hatte, wußte Paul noch nicht, ob er schon allein war. Also machte er, einem Nachtwächter ähnlich, die Runde durch seine Zimmer. Beim ersten Schimmer des Morgens suchte er in den Winkeln zwischen den verstreuten und aufeinandergehäuften Polstern nach Schlafenden. Er hätte gerne noch einen Gast zurückbehalten. Nur fürchtete er, es zu sagen, damit nicht alle blieben. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Zimmer verlassen waren, begann er, einige Melodien aus seiner Jugend zu spielen. Der Wintertag kroch mit bleierner Langsamkeit an die Fenster. Paul ließ seine Finger ihrer eigenen Erinnerung gehorchen und unkontrolliert über die Tasten gehn. Die Klänge, die sie hervorriefen, erreichten seine Ohren spät, als hörte er aus einem entfernten Zimmer einen Fremden spielen. Die Melodien kamen gleichzeitig mit den ersten Geräuschen der erwachenden Straßen. Paul erinnerte sich an die Morgenstunden seiner Kindheit, an die Stunde vor dem Schulbesuch, an die kurze und dennoch so lange Viertelstunde vom Erwachen bis zum Aufstehen, in der er mit doppelt geschärften Sinnen die Laute des Morgens in den fernen Straßen und in den nahen Zimmern vernommen hatte. Der Duft von frisch gebranntem Kaffee und Fett, in dem die Eierspeise hörbar prasselte, durchzog das ganze Haus. Er setzte sich noch in der Straße fort. Wenn Paul das Haus verließ, begleitete ihn dieser bestimmte Geruch ein Stück. Die ersten leichten Bauernwagen rollten in die Stadt. Schwer ächzend und wie aus Erz, tauchte an der ersten Biegung der Spritzwagen des Magistrats auf, damals noch von zwei breitknochigen, monumentalen Pferden gezogen, die ihre dröhnenden Hufschläge selbst zu zählen schienen. Die singenden Rufe der Straßenhändler hallten wider von den Wänden der morgendlichen, leeren Höfe, und aus den offenen Fenstern erscholl als eine Antwort der Gesang eines aufräumenden Dienstmädchens. Einen nach dem andern sah Paul seine Schulkameraden wieder. Er konnte sie noch nach dem Alphabet aufzählen bis Morgenstern, dann verloren sich die Namen in der Nacht der Vergangenheit.

      Aus ihnen allen ist was geworden, wenn sie nicht im Krieg gefallen sind, dachte Paul. Und wie weit waren sie damals hinter mir! – Mit der unerbittlichen Nüchternheit, die einer durchwachten Nacht folgt, entlarvte Paul Bernheim eine seiner Täuschungen nach der andern. Es waren die einzigen Stunden, in denen er sich über die Armseligkeit seiner Freunde, den falschen Glanz seines Wohllebens Rechenschaft gab. Es war, als ob die fröhliche Echtheit jener Eindrücke, die aus einer fernen Zeit immer noch ihr Echo herüberschickten, die Leere dieser Gegenwart enthüllten, wie man falsche Perlen erkennt, sobald echte in ihre Nähe kommen. Ein drohender Eisberg, schwamm das dreißigste Lebensjahr heran. Der Ehrgeiz plagte, ein körperliches, unheilbares Leiden. Wenn er mich verließe, dachte Paul, wenn man ihn operieren könnte! Es war kein Charakterzug, es war ein überflüssiges und krankes Organ. Und wie ein Geiziger seine unfruchtbaren Schätze zählt, so zählte Paul seine unfruchtbaren Talente. Er konnte malen, musizieren, schreiben, amüsant sein, er verstand etwas von Geschäften, von Menschen, von der Nationalökonomie, von der Weltpolitik. Es ging ihm nicht schlecht, er verdiente Geld. Aber nicht genug, um mächtig zu sein, und zu wenig, um die tröstliche Bitterkeit der Armut zu kennen. Es mußte noch irgendein Geheimnis geben, das Geheimnis des Erfolgs. Darauf konnte