lehnten. »So baut man also heutzutage!« sagte er. Er schien das Geschäft Pauls vergessen zu haben.
Bernheim wollte wieder davon anfangen. »Reden wir nicht mehr von einer alten Sache«, sagte Brandeis. »Ich nehme Ihnen nichts übel. Vielleicht haben Sie recht gehabt. Ich habe jedenfalls heute noch kein Geld gesehn. Ich fürchte, ich werde wieder in die Eisenbahn steigen müssen. Und wieder ein Visum nehmen –«
Als die Abendblätter mit den Kurszetteln kamen, bemerkte Bernheim, daß Brandeis sich nicht um die Kurse kümmerte.
»Sie wundern sich?« sagte Brandeis. »Ich habe gestern alles verkauft.«
»Und?«
»Dollars gekauft.« Ehe sie sich trennten, sagte er: »Verkaufen Sie, Herr Bernheim.«
Aber Bernheim verkaufte nicht.
Zweiter Teil
IX
Für Felix Bertaux
Auf einmal kam in diesem Jahre der Frühling. In den Zimmern lagen noch die Kälte und die feuchte Dämmernis der Wintertage. Man öffnete die Fenster. Die Häuser erinnerten an gelüftete Grüfte und die Menschen, die ans Fenster kamen, an gelbe, freundliche Leichen. Der Klang der auferstandenen Leierkästen, die auf einmal in Scharen durch die Höfe zogen, als wären sie mit den Zugvögeln aus dem Süden gekommen, erhöhte den Lebensmut, auch der Skeptiker. Immer häufiger wurden die Straßendemonstrationen der Radikalen. Die Gesinnungen entfalteten sich im freundlichen Glanz der jungen Sonne und unter dem fruchtbaren Frühlingsregen der milden, sacht verhängten Nächte. An einem der Sonntagvormittage jener Frühlingssaison konnte man einen großen, auffällig starken und langsamen Mann unter den maßvoll fröhlichen Spaziergängern des Kurfürstendamms sehen. Brandeis trug immer noch einen Mantel und den Kragen hochgeschlagen. Mehrere sahen sich nach ihm um. Er schien sich um die Passanten nicht zu kümmern. Er überragte die meisten. Seine schiefen Augen waren auf die Häuser gerichtet, auf die Firmenschilder, die Auslagen der Läden, auf die Bäume am Straßenrand, die Vehikel und die sonntäglich geschlossenen Kioske, die entweihten und dem Gottesdienst entzogenen Kapellen ähnlich waren. Sein mongolischer Gesichtsschnitt und seine bräunliche Hautfarbe waren Grund genug für die Mitteleuropäer, die ihm begegneten, ihn der Abteilung »Ferner Osten« zuzuweisen, unter die Buddhas, die Geishas und die Opiumtrinker. Da die Inflation zu Ende war, das Bewußtsein vom Wert des eigenen Geldes die Moral, den Patriotismus und das Selbstbewußtsein bereits gehoben hatte, blieb für den Fremden weniger Bewunderung übrig als Mißtrauen.
Man lustwandelte langsam, in Frühlingskleidern, unter der Sonne.
Auf einmal erhob sich ein unbestimmter Lärm. Er begann wie ein Wind, der ein Gewitter ankündigt, an einer fernen Straßenecke. Einige Menschen begannen zu laufen. Andere blieben stehn, und man sah, daß sie nachdachten, auf welche Weise man sich in Sicherheit bringen kann, ohne die Würde zu verlieren. Indessen wurden die Geräusche bestimmter. Man unterschied hundertstimmigen Gesang aus Männerkehlen. Man unterschied vierhundertfaches Klopfen benagelter Militärstiefel auf Asphalt. Schließlich über dem Gesang und über dem dumpfen, metallenen Geräusch der marschierenden Füße dünne und gleichsam flehende Flötentöne, eine Musik unkörperlicher, abstrakter Pfeifen, denen einer der populären Militärmärsche entfuhr. Und schon sah man auch die Ursachen der Geräusche: große, wehende Fahnen, ein paar Radfahrer, die sich an der Spitze des Zuges langsam vorausschlängelten, und hinter ihnen die ersten Reihen der Marschierenden, Männer mit Schnurrbärten, die an Kindersegen und Mittelstand denken ließen, mit blicklosen und offenen Augen, in denen Zorn, Stolz und Ehrlichkeit die Fähigkeit zu schauen ertötet hatten, mit schlenkernden Händen, die an leere Ärmel erinnerten, und mit Stöcken, die im Gürtel an der Hüfte hingen, um zu zeigen, daß sie nicht gesonnen waren, gewöhnliche Spazierstöcke zu sein. Sie waren in der Entwicklung vom Knüppel zum Säbel begriffen.
Der größte Teil der Spaziergänger war in den Seitenstraßen verschwunden. Von allen Häusern hörte man das metallene Geräusch zufallender Fenster. Auf leeren, staubigen Stein schien jetzt die Sonne. Durch die Neben-und Parallelstraßen eilten die Spaziergänger ihren Heimen zu, die in der Richtung des Grunewalds lagen. Dem unregelmäßigen Trott ihrer hastigen Füße antwortete der unerbittlich von den Nägeln geregelte Marsch der Stiefel in der Hauptstraße. Der Gesang erhob sich über die Wipfel der Bäume. Die geisterhaften Flötentöne drangen durch das Gedröhn der Mittagsglocken, die eben in Schwung gerieten, als wollten sie die Verwirrung noch vergrößern, eine Strafe Gottes ankündigen, das Ende der Welt und den Anmarsch ihrer Vernichter. Es war ein echter Sonntag, einer jener Sonntage, die manchmal über die Städte Deutschlands verhängt werden: feierlich, furchtbar und voller Gesinnung.
Unter den wenigen Männern, die stehngeblieben waren, um den Zug vorbeimarschieren zu sehn, befand sich Brandeis. Er stand neben einem der seltenen Pissoirs, deren es, wie man weiß, in Berlin weniger gibt als Bibliotheken. Immer noch lächelte er. Zeitweilig konnte man glauben, er stünde nicht da, um seine Schaulust zu befriedigen, sondern die der andern. Als wäre es seine Pflicht, den Marschierenden wie den Laufenden zu zeigen, wie man steht; den Blicklosen, wie man schaut; den Aufgeregten, wie man ruht; den Politikern, wie man denkt; den Idealisten, wie man prüft. Ja, so merkwürdig und der europäischen Gewöhnlichkeit entfernt er auch aussah und obwohl er einen Mantel trug und die Sonne nicht zu fühlen schien, so bestand doch zwischen ihm, den hoffnungsvollen Wipfeln der Bäume und der linden, windigen Luft des Frühlings ein Zusammenhang. Zwischen den Marschierenden und diesem Frühlingstag aber keiner. Und wenn man ihnen auch ansah, daß sie wahrscheinlich geradewegs in einen Wald marschierten, glaubte man eher, sie marschierten gegen ihn.
Obwohl seine Mutter aus einem evangelischen Pfarrhause zu seinem jüdischen Vater gekommen war und in das Haus ihres Mannes eine deutsche Bibel, eine Mandoline und ein Abonnement auf eine Familienzeitschrift gebracht hatte, fühlte sich Nikolai Brandeis in Deutschland nicht heimisch. Ja, ihm war, als ob die kleine deutsche Kolonie in der Ukraine mehr Deutschland gewesen wäre als dieses Land, aus dem die ewigen Auswanderer das Heimatliche wegzutragen, die ewigen Einwanderer das Fremde mitzubringen scheinen. Alle Jahrgänge der Familienzeitschrift, die seine Mutter abonniert hatte, gaben ein falsches Bild von Deutschland. Diese Zeitschrift stellte das Land so dar, wie es zur Zeit der Auswanderung der Kolonisten ausgesehen haben mochte. Daheim, erinnerte sich Brandeis, war er trotz seines Gesichts, das er vom Vater ererbt hatte, unter den schwäbischen Gesichtern seiner Jugendgenossen heimisch gewesen. Hier, wo die Gesichter der Menschen keine bestimmte Rasse verrieten – Brandeis nannte sie Asphalt-Slawen –, war er ein Fremder. Nur die zaghaften Vorfrühlingstage erinnerten an die schüchterne und sparsame Güte seiner Heimat.
Er dachte an seine Jugend. An seinen Vater, den er verhältnismäßig früh verloren hatte und der wahrscheinlich ein ebenso verschämter Liebhaber der Erde gewesen war. Sein Vater hatte zum griechisch-orthodoxen Glauben übertreten wollen, um den Beschränkungen zu entgehen, denen die Juden im alten Rußland unterworfen waren. Weil die getauften Juden auch ihre frühere Konfession angeben mußten, wollte er, wie viele, zuerst evangelisch werden und dann erst orthodox. Auch ein Mann, der so praktische Geschäfte mit Gott und dem Staat zu unternehmen gesonnen ist, kann einer Schwäche erliegen, deren man Leute seines Schlages nicht für fähig hält. Der alte Brandeis, der zu dem evangelischen Pfarrer gekommen war, um ihn zu täuschen, wurde von der göttlichen Strafe erreicht, noch ehe er seine Absicht hatte ausführen können: Er verliebte sich in die Tochter des Pfarrers. Vielleicht wollte er sie nur verführen und nach alter Sitte nicht heiraten. Aber die Tugend der Pfarrerstöchter hatte er nicht richtig einzuschätzen verstanden.
Er heiratete also. Er blieb in der Kolonie. Er wurde nicht mehr orthodox. Er gab seine großen Pläne auf. Er wurde ein kleiner Kaufmann mit einem Stückchen Land, mit einer sanften Frau, mit einem geistlichen Schwiegervater. Nach einem Jahr kam Nikolai,