Йозеф Рот

Gesammelte Werke von Joseph Roth


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Hals mit dem Ansatz der Brust!‹ Das ist, verstehen Sie mich, wenn’s ein Oberleutnant sagt, eine Frechheit, und der Herr Gemahl schießt sich mit ihm im Wald beim Morgengrauen. Wenn’s ein Maler sagt, ist das ein künstlerisches Urteil. Die sogenannten Kenner machen keine Komplimente, sondern sagen sachliche Meinungen. Sie erstrecken sich auf den ganzen Körper. ›Welch ein reizender Schenkel!‹ sagt er sachlich, die Palette noch in der Hand. Manche sprechen von der Renaissance. Der Bildhauer z.B., der von Zeit zu Zeit zu Madame hierherkommt, mit dem unterhalte ich mich manchmal. D.h., er unterhält sich. Lauter falsches Zeug aus der Sittengeschichte. Einmal gibt er mir einen Auftrag. Pornographische Stiche, weil ich zufällig einen Buchhändler kenne, geh ich hin und besorg’s. Die Vermittlung ist er mir schuldig geblieben, das Geld dem Buchhändler auch. Der geht hin, macht einen Lärm. ›Kommen Sie morgen‹, sagt der Meister. Am nächsten Tag gibt er ihm lächelnd das Buch zurück. Mir erzählt er dann paar Wochen später, er hätte die Bilder nur für diesen einen Nachmittag gebraucht, eines Mädchens wegen aus guter Familie. Und ich habe nur eine Bluse aufgemacht. Ich bin eben kein Künstler. Unverkennbar der Fortschritt der Zeit. Die Frage der Kunst hätten wir schon. Die Emanzipation der Frauen ebenfalls. Merken Sie, wie beides zusammentrifft? Es lockern sich die sogenannten Familienbande. Die Töchter der Hofräte lassen sich porträtieren und studieren Germanistik. In Bibliotheken tut sich was. Und ich – vor vielen Jahren allerdings – heute bekommt man dafür schon Auszeichnung. Mein Staatsanwalt lebt noch. So eine Anklage wird er nie mehr erleben. Mein Verteidiger war damals schon ein Anhänger der Theorie von der Dämonie. Er sagte einen Blödsinn von unwiderstehlichem Zwang, Vererbung und so. Der Wahrheit die Ehre. Mein Vater war ein harmloser Mann, hatte eine Wechselstube und schwere Sorgen und nicht die geringste Beziehung zur Sittlichkeit.«

      Im Nebenzimmer wurde es still, eine Tür ging, ein Schlüssel knarrte. Grünhut hielt Friedrich noch ein paar Minuten zurück.

      »Bis sie unten sind«, sagte er. »Ich liebe keine Indiskretionen.«

      X

       Inhaltsverzeichnis

      Da er seinem Versprechen gemäß, das er seiner sterbenden Frau gegeben hatte, nicht heiraten durfte, ohne Frau nicht leben konnte, sein Kind aber mit den Gepflogenheiten eines rüstigen Witwers nicht vertraut machen wollte, entschloß sich Herr Ludwig von Maerker, damals noch Bezirkshauptmann in einem Ministerium, seine Tochter in ein Kinderheim und später in ein Mädchenpensionat zu schicken, wo sie mit sozial gleichgestellten Waisenkindern standesgemäß erzogen werden sollte. Nachdem er also Hilde untergebracht hatte, nahm er eine Hausdame auf, mit der er nur in den Zirkus und in Varietés ging. Die Theater blieben ihr verschlossen. Sie nannte es ein Unrecht und leitete daraus das Recht ab, Herrn von Maerker das Leben zu verbittern und größere Machtansprüche im Hause zu stellen. Sie überwachte jeden Schritt und jede seiner Ausgaben. Und wenn er sich über die Freiheitsbeschränkung beklagte, antwortete sie mit jener bitteren Bissigkeit, die ebensogut eine Ohnmacht wie einen Totschlag ankündigen konnte: »Ich soll nicht dieses kleine Recht haben? Ich, eine Frau, die man nicht einmal ins Theater mitnimmt?« Einmal im Jahr entrann Herr von Maerker seiner Haushälterin. Er fuhr in die Schweiz seine Tochter besuchen. Sie wuchs ihm über den Kopf, bald war sie ein Backfisch. Er fand sie schön und bedauerte in seinen geheimsten Sekunden, daß er ihr Vater war und nicht ihr Verführer. Längst war sie von ihrer eigenen Phantasie verführt. Obwohl Herr von Maerker allerhand französische Literatur über Nonnenklöster und Mädchenpensionate gelesen hatte, glaubte er wie die meisten Männer an die Verderbtheit aller Frauen mit Ausnahme ihrer eigenen und ihrer nächsten. Die Haltlosigkeit beginnt erst bei den Cousinen.

      Es war viel von der Aussicht die Rede, Hilde bald nach Hause zu nehmen. Und ehe er es sich versah, hatte Herr von Maerker graue Haare an den Schläfen, wurde seine Hausdame alt und runzlig, schwand ihre Hoffnung auf eine Ehe mit ihrem Freund und auf die Möglichkeit einer gemeinsamen Loge in dem Theater, erblühte Hilde, wie man sagt, zu einer Jungfrau, kehrte sie in das Haus ihres Vaters zurück; begann sie, ein eigenes Leben zu führen.

      Die Zeit warb hartnäckig für die Freiheit des weiblichen Geschlechts; Herr von Maerker, der inzwischen Ministerialrat geworden war und der die Unfreiheit des männlichen so genau kannte, keineswegs. An den Ansichten seiner Tochter ermaß er halb verbittert und halb verschämt, daß er zur alten Generation gehörte, denn die Menschen schämen sich, alt geworden zu sein, als wäre es ein geheimes Laster. Vor der offensiven Frische seiner Tochter zog er sich schweigsam zurück. Er litt und wurde sogar allmählich weise. Er gehörte zu jener Gattung von Durchschnittsmännern, die erst in vorgerückten Jahren Vernunft bekommen, weil sie so lange hatten schweigen müssen, und denen nichts übrigbleibt, als nachdenklich zu werden. Wenn Hilde im Namen aller Töchter der Welt ausrief: »Unsere Mütter waren verkauft und verraten!«, so empfand Herr von Maerker diesen Satz als eine Lästerung seiner toten Frau und als eine Grobheit seiner Tochter. Er wunderte sich, woher Hilde soviel übergesunde Empfindungslosigkeit und schockierende Rhetorik hernahm. Er wußte noch immer nichts von seiner Tochter.

      Sie war nicht anders als die Mädchen ihrer Zeit und ihres Standes. Sie verwandelte die devote Romantik ihrer Mutter in eine martialische des Amazonentums, forderte die Anerkennung der bürgerlichen Rechte und nahm, unterwegs gewissermaßen, auf dem Weg zu ihnen, die Freiheit der Liebe mit. Mit dem Ruf »Gleiches Recht für alle!« stürzten sich um jene Zeit die Töchter der guten Häuser ins Leben, in die Hochschulen, auf die Eisenbahn, auf die Luxusdampfer, in die Seziersäle und in die Laboratorien. Für sie wehte der bekannte frische Wind durch die Welt, den jede junge Generation zu spüren glaubt. Hilde war entschlossen, sich nicht einer Ehe auszuliefern. Ihre »intimste Freundin« hatte den Verrat begangen, den steinreichen Herrn G. zu heiraten, sie besaß Wagen, Pferde, Lakaien, Kutscher, Livreen. Aber Hilde, die den Reichtum ihrer Freundin gerne mitgenoß, die Wagen und Livreen bei Einkäufen in Anspruch nahm, behauptete: »Das ganze Glück Irenes kann mir gestohlen werden, sie hat ihre Freiheit verkauft.« Die Männer, zu denen sie so sprach, fanden sie charmant, außergewöhnlich klug, reizend eigenwillig. Und da sie außerdem noch eine Mitgift und ihr Vater Beziehungen hatte, dachte der und jener daran, sie zu heiraten, trotz ihrer prinzipiellen Weigerung, und altmodisch, wie Männer schon sind.

      Nur dem und jenem von ihren Bekannten hätte ihr Vater sie geben mögen. Keineswegs jedem, mit dem sie verkehrte, weniger aus Interesse als aus einem Bedürfnis, ihre Freiheit zu manifestieren. Sie bildete einen sogenannten Kreis. Durch ihren Vater kannte sie hoffnungsvolle, junge Beamte und Offiziere, durch den Professor D. ein paar Dozenten und Hörer der Kunstgeschichte. Durch ihre reich verheiratete Freundin, deren Mann einen Mäzen spielte, einen Musiker, zwei Maler, einen Bildhauer und drei Schriftsteller.

      Diese ganze Jugend, die noch nicht ahnte, daß sie bald in einem Weltkrieg dezimiert werden sollte, benahm sich so, als hätte sie unaufhörlich Ketten zu sprengen. Die jungen Beamten sprachen von den Gefahren, die dem alten Reich drohten, von der Notwendigkeit einer weitgehenden Autonomie der Nationen oder einer starken zentralisierenden Faust, einer Auflösung des Parlaments, einer sorgfältigeren Auswahl der Minister, einem Bruch mit Deutschland, einer Annäherung an Frankreich oder aber einer noch engeren Verbindung mit Deutschland und einer Provokation Serbiens. Die wollten den Krieg vermeiden, jene ihn heraufbeschwören, aber beide dachten, es handelte sich um einen kleinen, heiteren Krieg. Die jungen Offiziere machten für alles das langsame Avancement verantwortlich und die Dummheit des Generalstabs. Die Dozenten, von der Sanftheit junger Theologen, verbargen unter einem Schatz von Wissen einen Hunger nach Geltung und Mitgift. Die Künstler gaben zu verstehen, daß sie eine unmittelbare Beziehung zum Himmel hatten, spotteten über die Autorität, vertraten den Olymp, das Kaffeehaus und das Atelier gleichzeitig. Jeder war kühn, und doch rebellierte jeder nur gegen seinen eigenen Vater. Hilde hielt jeden für eine Persönlichkeit und für einen guten Kameraden zugleich. Sie bildete sich ein, reine Kameradschaft zu halten, aber wenn ihr einer kein Kompliment machte, begann sie, an seiner Persönlichkeit zu zweifeln. Zwar hielt sie nichts von der altmodischen Liebe, aber sie brach den Verkehr mit einem Mann ab, der ihr nicht zu erkennen gab, daß er in sie verliebt sei.

      Sie buchte die Begegnung mit Friedrich unter ihren »merkwürdigen Erlebnissen«. Seine sichtbare Armut war eine neue Nuance in ihrem