Йозеф Рот

Gesammelte Werke von Joseph Roth


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Leichtsinn hindert ihn, Situationen vorauszusehen. Aber sobald sie kommen, erträgt er sie mit Ausdauer. Er ist leicht begeistert und leicht enttäuscht. Aber der Mißmut wie der Enthusiasmus sind nur physiologische Erscheinungen. In Wirklichkeit ist er traurig, gleichmäßig traurig. Und laut sagte Berzejew:

      »Dieser arme Efrejnow ist durch Lion aus der Fassung gebracht. Er ist zu ahnungslos, um Argumente zu finden. Ich hätte sie ihm gegeben. Die Schulden Rußlands sind ja eben eine Folge hastiger Bemühungen, es dem Westen gleichzutun. Vielleicht wäre Rußland gesund und reich ohne die dumme Aspiration, die eine gewisse Schicht seiner herrschenden Klasse hat, zivilisiert zu sein und in den mondänen Bädern des europäischen Westens als gleichwertige Europäer angesehen zu werden. Recht haben eigentlich die finsteren Agrarier neben uns, den konsequenten Revolutionären. Ihnen fehlt nur die Einsicht. Alles, was in der Mitte zwischen der konsequenten Reaktion und der konsequenten Revolution liegt, ist in Rußland töricht. Die bürgerliche Klasse ist entstanden, noch ehe Platz für sie war. Jetzt verlangt sie ihre Industrie. Der Zar ist ratlos. Er verwandelt sich in einen Kaiser nach altem westlichem Muster, etwa nach dem heutigen deutschen. Die Autokratie macht der Bürokratie Platz, und die Beamten sind die Vorhut der Bourgeoisie. Zuerst kommen die Söhne des Adels und der reichen Bürger in die Ämter, d. h. in die große Stadt. Und die Stadt ist die Feindin des Landes. Die Intelligenz kommt nach. Sie ist der Vorposten der Revolution. Die halb revolutionären Ideale der Intelligenz sind den Instinkten des russischen Volkes fremd. Näher war ihnen schon die Grausamkeit der agrarischen Autokratie. Du siehst also die unmittelbare Nähe einer Explosion. Den Agrarier macht der intellektuelle Bürokrat ohnmächtig. Er kann den Zaren stürzen, aber nicht das Volk regieren. Seine Herrschaft wird ein bedeutungsloser Zwischenakt sein. Wir haben dann die Macht. Rußland kann nicht eine Bürgerrepublik werden, es muß eine proletarische werden. Nur ein Krieg, und das alte Rußland hat aufgehört. Und der Krieg kommt; wir werden nicht lange mehr in Sibirien bleiben.«

      Mehl war unerschwinglich. In dieser Gegend konnten die Hausfrauen nur dreimal im Jahr backen. Das Brot war seltener als das Fleisch. Zum erstenmal fühlte Friedrich die unmittelbare Beziehung zwischen Sonne und Erde. Zum erstenmal verstand er den einfachen Sinn des Gebets, das man an den Himmel richtet um das tägliche Brot. An dem brotlosen Tisch, an den er sich zweimal täglich setzte, gedachte er der Bäckerläden in den lebendigen Städten. Er schloß die Augen. Er stellte sich die verschiedenen Farben des Mehls und die verschiedenen Formen der Brote vor.

      »Wovon träumst du?« fragte Berzejew.

      »Von Broten. Wenn ich mir die Welt vorstelle, von der wir abgeschlossen sind, denke ich an ganz lächerliche Dinge, z. B. flache Streichhölzer für die Westentasche und runde Pappendeckel für Biergläser, Tintenfässer, die man durch Druck aufklappen kann, Papiermesser aus Zelluloid und an ganz gewöhnliche Sachen, wie z. B. eine Ansichtskarte. Ich erinnere mich an eine, sie hing im Schaufenster des Papierhändlers an der Ecke der Straße, in der ich gewohnt habe. Sie war alt, vergilbt, seit Jahren hing sie in der Vitrine. Es war ein armer, kleiner Papierhändler und eine häßliche Karte. Sie hatte einen breiten Goldrand, von Fliegen schwarz betupft. Sie stellte ein bekanntes Bild vor. Auf der Erdkugel, die im Weltraum schwebt – der Weltraum war, wenn ich mich recht erinnere, übrigens blaßblau –, sitzt eine Frau mit verbundenen Augen auf dem Nordpol.«

      »Ja, ja«, sagte Berzejew. »Ich habe das Bild auch gesehn. Warte nur, ich glaube, die Frau hielt etwas in der Hand, und sie trug ein wäßriges, blaues Kleid. Aber an den breiten, goldenen Rahmen erinnere ich mich nicht.«

      »Doch«, beharrte Friedrich, »es war ein breiter, goldener Rahmen – und von Fliegen betupft –, und an der Ecke war ein gelber Briefkasten. Man konnte einen Brief zukleben und hineinstecken und noch hören, wie er hineinfällt: dumpf, wenn der Kasten leer ist, und raschelnd, wenn schon Briefe drinnen sind.«

      »Laß uns lieber vom Brot reden«, sagte Berzejew. »Du bringst mich davon ab. Es gab also zunächst einmal zwei wichtige Unterschiede, weiß und schwarz. In Frankreich aß ich einmal, ich war mit meinem Vater dort und vierzehn Jahre alt, harte, weiße, lange Brotstangen mit goldbrauner Rinde. Aber das russische Landbrot, schwarz und rötlich, mit ganz groben, weichen Körnern, ist mir das liebste.«

      »Ich erinnere mich«, fuhr Friedrich fort, »wie es duftete, wenn man an einem Bäckerladen vorbeikam.«

      »Besonders in der Nacht!« rief Berzejew.

      »Ja, in der Nacht, wenn es Winter war, schlug einem plötzlich aus den Kellern eine Wärme entgegen, so etwas wie eine animalische Wärme.«

      »Eine brötliche Wärme!« jubelte Berzejew.

      »Und des Morgens im Sommer, wenn ich sehr früh erwachte und auf die Straße ging, liefen die weißen Bäckerjungen mit verhüllten Körben. Aus den Körben roch es. Dabei hörte man die Vögel singen, weil die Straßen noch still waren.«

      Sie schwiegen lange.

      Plötzlich sagte Berzejew: »Wie dumm man wird!«

      »Nein, nicht dumm!« schrie Friedrich, »sondern menschlich. Wir waren Ideologen, keine Menschen. Wir wollten die Welt umgestalten, und wir sind von Ansichtskarten abhängig, und wir müssen Brot essen.«

      »Weil nicht alle Brot haben«, sagte Berzejw leise, »sitzen wir hier. Wie einfach ist das doch. Man braucht keine Theorie und keine Nationalökonomie. Weil nicht alle Brot haben – sehr simpel und eigentlich dumm.«

      R. hätte das schon formuliert, dachte Friedrich. R. hätte etwa gesagt: Wir wollen helfen. Aber wir sind nicht dazu geboren. Die Natur hat uns für unsere Ohnmacht mit einer zu starken Liebe begabt, sie übersteigt unsere Kräfte. Wir gleichen einem Menschen, der nicht schwimmen kann, einem Ertrinkenden ins Wasser nachspringt und untergeht. Aber wir müssen springen. Manchmal helfen wir den andern, aber meist gehn wir beide unter. Und es ist unbekannt, ob man im letzten Augenblick eine Seligkeit empfindet oder einen gewissen bitteren Zorn.

      »Als ich vierzehn Jahre alt war«, begann Berzejew, »nahm mich mein Vater auf Reisen mit. Ich sah zum erstenmal fremde Bahnhöfe, und das war eigentlich das Schönste. Erinnerst du dich noch an Bahnhöfe?«

      Sie dachten beide an den Bahnhof, den sie zuletzt gesehen hatten.

      »Hast du das Mädchen gesehn?« fragte Friedrich.

      Und Berzejew wußte sofort, welches Mädchen gemeint war.

      »Ja«, sagte er, »sie stand hinter dem Büfett und gab mir ein Glas Tee. Sie hatte die Zöpfe in zwei runden Scheiben über den Ohren geflochten.«

      »Und rote Wangen.«

      Sie sprachen von dem fremden Mädchen wie von einer verlorenen Geliebten.

      »Es gab aber noch etwas außer den Bahnhöfen, als ich vierzehn Jahre alt war«, begann Berzejew wieder, »nämlich in unserem Kupee eine Frau, mit der sich mein Vater unterhielt. Er traktierte sie mit Schokoladebonbons, hob ihre schweren Koffer aus dem Gepäcknetz, stellte sie wieder hinauf, führte die Dame in den Speisewagen, und zum Kellner sagte er: ›Einen Tisch nur für drei, der vierte Sessel fehlt, verstanden?‹ ›Ja, Euer Ehren‹, sagte der Kellner. Denn mein Vater war ein hoher Beamter, ein Gutsbesitzer und ein Herr. Man sah es ihm sofort an. Ich ging oft und gern in den Korridor. Dort fühlte man besser, daß man fuhr. Wenn man steht, bewegt sich der Zug schneller, und dann kommt man sich auch etwas freier vor und ist dem Zugbegleiter näher. Wenn eine Station kommt, steigt man schnell aus. Und auch das Klosett ist schön. Ich ging oft dorthin, und wenn jemand heftig an der Tür rüttelte, so blieb ich um so länger drinnen. Wie ich nun einmal ins Kupee zurückkehre, fährt die Dame auf, stößt einen Schrei aus, und mein Vater sieht durch das Fenster in die Landschaft. Ich setzte mich in die Ecke, deckte mich mit dem Mantel zu und tat, als ob ich schlief. Dann ging mein Vater hinaus, ich spürte, wie er über meine Beine stieg. Im nächsten Augenblick nimmt die Dame den Mantel von meinem Gesicht und küßt mich schnell auf den Mund und setzt sich wieder hin. Damals dachte ich, sie küßt mich, damit ich nicht böse sei oder zu Hause etwas erzähle. Aber in Nizza trafen wir sie wieder. Sie hatte sich mit meinem Vater verabredet, und einmal, an einem Nachmittag, bestellte sie mich in ihr Zimmer. Wir wohnten in demselben Hotel. Es war schon Abend, und man läutete zum Essen, da kam ich aus ihrem