Йозеф Рот

Gesammelte Werke von Joseph Roth


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Paket, ergriff es schnell und lief hinaus, dem Obersten nach. Er schrie, Lelewicz schien nicht mehr zu hören. Er war nur noch ein kleiner, schwarzblauer Fleck am Horizont. Friedrich hielt Berzejew fest. »Das ist für uns!« sagte er mit aufgerissenen Augen, blaß, atemlos und ohne Stimme.

      Als Efrejnow am nächsten Morgen erwachte, waren Friedrich und Berzejew verschwunden.

      VIII

       Inhaltsverzeichnis

      Sie fürchteten die Aufmerksamkeit der Spitzel eher auf sich zu lenken, wenn sie zusammenblieben. Sie beschlossen also, sich für einige Tage zu trennen, sich dann wieder zu treffen und in Etappen die Reise bis zur ersten größeren Stadt zurückzulegen. Der früher Angekommene sollte auf den anderen warten. Der später Angekommene später wegfahren. Fing man einen von ihnen, so wußte der andere, daß er sich vorläufig nicht zeigen dürfe. Sie waren jeden Augenblick bereit, der Polizei in die Arme zu fallen. Aber jeder von den beiden zitterte mehr um den andern als um sich. Die beständige Sorge befestigte ihre Freundschaft mehr, als wenn sie jede Gefahr gemeinsam hätten bestehen müssen, und schenkte ihnen der Reihe nach alle Arten und Grade der Liebe, die das Verhältnis der Freundschaft bestimmten: Sie wurden einander Väter, Brüder und Kinder. Immer, wenn sie sich nach einigen Tagen trafen, fielen sie sich in die Arme, küßten sich und lachten. Auch wenn keinem von ihnen unterwegs eine wirkliche Gefahr begegnet war, so blieb jeder doch von den Gefahren erschüttert, von denen er sich eingebildet hatte, daß sie den andern bedrohen. Und obwohl ihre Trennung den Zweck hatte, wenigstens einen vor der Verhaftung zu bewahren, nahmen sich doch beide im stillen vor, sich freiwillig zu stellen, wenn dem anderen etwas zustoßen sollte.

      Sie erreichten endlich das europäische Rußland. Sie sahen die kriegerische Begeisterung des Landes. Es waren die letzten heiteren Augenblicke des Zaren, wie es später schien, gleichsam von einem bewußten Willen der Weltgeschichte hervorgerufen, um ein todgeweihtes System zu täuschen. Die Radikalen fielen den Konservativen in die Arme, und wie immer, wenn fremde Menschen sich in einer Gefahr verbinden und Gegner sich versöhnen, glaubte man auch damals an eine wunderbare Wiedergeburt des Landes, weil den Menschen das Wunder einer Verbrüderung genügt, damit sie an ein noch unwahrscheinlicheres glauben. So vertraut ist der menschlichen Natur die Feindschaft und so fremd die Versöhnung. Man gründete in der Eile patriotische Vereinigungen. Man erfand hundert neue Namen und Abzeichen. Man marschierte durch die Straßen und zertrümmerte deutsche Schilder.

      »Wie rätselhaft«, sagte Friedrich zu Berzejew, als sie in ihrem Hotelzimmer saßen, »daß die einzelnen, aus denen doch die Masse gebildet ist, ihre Eigenschaften aufgeben, selbst ihre primären Instinkte verlieren. Der einzelne liebt sein Leben und fürchtet den Tod. Zusammen werfen sie das Leben weg und verachten den Tod. Der einzelne will nicht zum Militär gehn und Steuern zahlen. Zusammen rücken sie freiwillig ein und leeren ihre Taschen aus. Und das eine ist so echt wie das andere.«

      »Mich interessiert es zu wissen«, sagte Berzejew, »wie lange diese Begeisterung anhalten wird und ob man sie nicht in ihr Gegenteil verkehren kann. Ferner interessiert es mich zu sehn, ob es in den anderen Ländern ebenso oder ähnlich aussieht. Lion hat recht gehabt. Die deutschen Sozialdemokraten marschieren.«

      Nach den Papieren, die ihnen Lelewicz verschafft hatte, sollten sie als Einjährige in ein Artillerieregiment in Wolynien einrücken. Folgende Auswege hatten sie: Entweder sie rückten ein und warteten auf eine Gelegenheit, in Gefangenschaft zu geraten und dann wieder aus der Gefangenschaft zu fliehen. Oder sie verbargen sich vorläufig im Land und warteten eine Gelegenheit ab, mit Hilfe ihrer Freunde ins Ausland zu kommen und als Zivilgefangene interniert zu werden. An eine dritte Möglichkeit dachten sie damals noch nicht. Der Zufall half ihnen.

      In Charkow erfuhren sie nämlich von einem Hotelportier, der zu dem gleichen Regiment einzurücken hatte, daß es sich schon im besetzten Gebiet, auf österreichischem Boden, befand. Sie konnten also hinfahren, sich nicht melden, sondern unter die Bevölkerung einer der besetzten Städte mischen und mit Hilfe von Friedrichs alten Verbindungen an der Grenze brave und okkupierte Bürger spielen.

      IX

       Inhaltsverzeichnis

      Also befindet er sich noch einmal vor der Herberge »Zur Kugel am Bein«. Sie steht immer wieder auf seinem Weg. Er läßt Berzejew in der großen, leeren Schenkstube warten und geht die Treppe hinauf, die zum Zimmer des alten Parthagener führt.

      Friedrich sieht durchs Schlüsselloch, die Tür ist verschlossen. Auf dem grünen Kanapee schläft der alte Parthagener, wie immer am Nachmittag von zwei bis vier. Er schläft, wie um den Krieg zu widerlegen. Die alten Möbel stehen noch im Zimmer. Eine entfaltete Zeitung liegt auf dem Tisch, bewacht von der blauen Brille. Friedrich überlegt, ob er den Alten wecken soll. Es scheint gefährlich zu warten. Jeden Augenblick kann eine Patrouille die Schenke betreten. Er klopft. – Der Alte springt auf. »Wer dort?« – Es ist immer noch derselbe Ruf. Er öffnet die Tür. »Ah, Sie sind es! Wir haben Sie schon lange erwartet. Kapturak weiß seit einer Woche, daß Sie zusammen mit ihrem Genossen Berzejew geflüchtet sind. Sie sind lange fort gewesen, armer junger Mann! Sie müssen viel mitgemacht haben! Aber nun sind Sie da! Haben Sie es eigentlich nötig gehabt?«

      Es hat sich also nichts geändert! denkt Friedrich. Kapturak und Parthagener haben mich erwartet, als wäre ich hinübergegangen, eine »Partie« abholen. Und zu Parthagener: »Kapturak ist also hier?« »Und weshalb nicht! Er ist als Feldscher eingerückt. Haben Sie die große Fahne vom Roten Kreuz nicht auf unserem Dach gesehn? Wir sind sozusagen ein Spital ohne Kranke. Kapturak ist gleich in der ersten Woche mit der siegreichen Armee einmarschiert. Ein ganz gewöhnlicher Feldscher! Aber eigentlich bei der Spionage. Mit Beziehungen zum Armeekommando. Er bringt uns gesunde Soldaten, und wir behandeln sie nach verschiedenen Rezepten. Wir geben ihnen Zivilkleider und Papiere, Einspritzungen, Betäubungsmittel, Lähmungserscheinungen und Sehstörungen. Leider bin ich ganz allein. Meine Söhne sind eingerückt. Grad in dieser Zeit. Nicht daß ich Angst um ihr Leben hätte! Ein Parthagener fällt nicht im Krieg! Aber ich bin ein alter Mann und kann die vielen Deserteure nicht bewältigen.«

      Es kamen immer mehr Deserteure zu Parthagener. Die Furcht vor einem Krieg, der erst hätte ausbrechen sollen, hatte sich in die weit größere Furcht vor einem Krieg, der schon da war, verwandelt. Der Alte saß in seiner Herberge und verkaufte Heilmittel gegen die Gefahr wie ein Apotheker Pulver gegen Fieber.

      »Und wo ist Ihr Freund?« fragte der Alte.

      »Er wartet unten.«

      Parthagener setzte die Brille auf und strählte mit einem Kamm seinen schönen, weißen Bart vor dem Spiegel. Dann wendete er sich wieder um. Bis jetzt hatte er gleichsam privat gesprochen. Nunmehr wurde er der offizielle Herbergsvater, bereit, einem Fremden zu bieten, was er hatte: eine stille Würde und einen seelischen Komfort.

      Am Vorabend, in der Dämmerung, kommt Kapturak. Er trägt eine Uniform und sieht viel friedlicher aus als in ruhigen Zeiten. Damals war er ein Abenteurer. Heute, mitten im großen Abenteuer, ist er ein braver Mann, der seinen bürgerlichen Beruf nicht aufgegeben hat. Es war still in der Schenke. Man hört manchmal den schweren Schritt einer Patrouille, die ihre Runde durch die Stadt macht. Man könnte vergessen, daß hier der Krieg zu Hause ist, nachdem er sich so lange vorbereitet hatte, hier, an dieser Grenze, die seine Heimat ist. Der alte Parthagener sitzt über einem großen Buch und rechnet. Berzejew schläft; den Kopf auf der Tischplatte. Man sieht von ihm nur sein wirres, braunes Haar.

      »Sie bleiben zusammen mit ihm?« fragt Kapturak. Der Blick, den er in Berzejews Richtung schickt, ist körperlich wie ein ausgestreckter Zeigefinger.

      »Er will über Rumänien, den Balkan, Italien nach der Schweiz. Ich möchte gerne über Wien.«

      »Sie fahren beide morgen!« entscheidet Kapturak. »Als Schweizer Rotes Kreuz. Ich werde den Abmarsch vorbereiten.«

      Sie schliefen im Gastzimmer.