Hund auf die Straße.«
Am nächsten Morgen übersiedelte Andreas. Er nahm Abschied von Willi und ließ einen Gruß für Klara zurück. Willi begleitete ihn, trug ihm den Koffer bis zur Straßenbahn und pfiff unterwegs ein herausfordernd keckes Lied. Er verbarg beide Hände in den Hosentaschen und ging mit breiten Schritten und auseinandergespreizten Beinen gemächlich neben dem hinkenden Andreas. Den kleinen, aber schweren Holzkoffer hatte er mit einem Riemen um den Arm geschlungen, wie eine Einkaufstasche oder einen leeren Marktkorb. Es bedeutete eine stille Ehrenbezeugung für den scheidenden Andreas, daß Willi so seine Riesenkräfte demonstrierte. Auch das ausgelassen muntere Lied pfiff er aus Wehmut. Und an der Haltestelle sagte er zwischen den Zähnen: »Viel Glück auch, Andreas!« – und machte kehrt und schlenderte gemächlich den Weg zurück und warf noch einen langen Blick in die Seitengasse, in der die Würste vor dem Delikatessenladen hingen, prall und feist, wie dicke Gehenkte.
Es ließ sich nicht vermeiden, daß Andreas einige Tage später den Unterinspektor der Polizei kennenlernte und dessen Glückwunsch entgegennahm. Diese Begegnung verlief in Anwesenheit der Frau Katharina, die nicht merken konnte, welchen Schmerz Vinzenz Topp hinter seiner fröhlichen Formgewandtheit verbarg. Daß man einen Krüppel ihm vorgezogen, dem bestgewachsenen Mann der ganzen Umgebung, daß man seinen Rang nicht beachtet hatte, seine Uniform und seine Klugheit, daß seine Frauenkenntnis wirkungslos, seine Andeutungen vergeblich geblieben waren – das alles verletzte Vinzenz Topp. Er beschloß, dem neuen Mann der Katharina Blumich – es war ein Mißgriff dieser sonst klugen Frau – keine Sympathie entgegenzubringen. Er grüßte kaum, wenn er und Andreas sich im Hause trafen.
Aber Andreas merkte nichts, denn er lebte in der neuen und betäubenden Glückseligkeit, die uns wie ein Panzer gefühllos gegen die Schlechtigkeit und die Kränkungen der Welt macht und wie ein gütiger Schleier die Bosheit der Menschen verhüllt.
Ja, Andreas war glücklich. Ein göttliches Weib wärmte sein Lager und wandelte es in ein Paradies. Kein Schmerz gemahnte an das fehlende Bein. In der neu gefütterten Krücke lag der Stumpf warm gebettet wie in der Höhlung einer liebenden Frauenhand. Den Morgen leitete die dampfende Kaffeetasse ein. Den Tag beschloß ein warmes Essen. Butterbrote lagen in seinen Taschen, begleiteten ihn auf seinen Wegen wie Grüße seiner Frau. In den Stunden der Dämmerung saß Anni, das blasse, großäugige Kind, auf seinem gesunden Knie. Andreas erklärte ihr den wunderbaren Sinn der Bilder auf dem Leierkasten.
»Du bist ein liebes, kleines Mädchen«, sagte er oft und sinnlos, denn er plagte sich vergeblich, um ein schöneres Wort für Anni zu finden.
Langsam und wie eine große, gute, heilende Wärme breitete sich in ihm die Liebe aus.
An einem der ersten Novembertage heirateten sie. Zum letztenmal in diesem Herbst schien die Sonne so warm, daß man ganz leicht und frei, wie im Frühling, vor der Kirche stehen konnte (vor der Kirche aus gelben Ziegelsteinen, die von einem leise bereiften Rasen umgeben war) und daß die kleine Anni nicht fror, obwohl sie ein dünnes, weißes Musselinkleidchen trug, ohne Mantel. Sie sah aus wie eine kleine Braut.
Dann kamen die trüben, die regnerischen, die kalten Tage. Nur am Vormittag geht Andreas in die Höfe spielen. Ihn friert nicht. Ihn durchnäßt der zudringliche Regen nicht. Er trauert nicht um die wolkenverhangene Sonne. Dank seiner neuen, unten kantig gehobelten Krücke gleitet er niemals auf schlüpfrigem Pflaster. Hart an den Borden der Bürgersteige geht er, und vor ihm führt Muli, der kleine Esel, den Kasten auf einem Handwagen. Alles ist Andreas’ eigenes Gut. Nun denkt er schon an einen Papagei mit grünen und roten Losen für den Frühling. Kinder und Erwachsene sehen ihm nach. Trotz der Kälte regnet es Geld aus allen Fenstern, in allen Höfen. Trotz der Kälte greifen Passanten in die verborgenen Taschen. Alle – nicht alle, aber viele kennen ihn. Was fehlt Andreas Pum?
Er liebte alles in der Welt und besonders zwei – sind es Dinge oder Menschen? – Sie gehören zusammen und sind nicht von einer Gattung. Andreas liebte Anni und Muli, das Kind und den Esel.
Dem Esel hatte er einen kleinen Stall im Hof gebaut. In der Nacht denkt er manchmal daran, daß Muli friert. Am nächsten Tag will er mehr Stroh in den Stall tun.
Plakate sind an den Litfaßsäulen zu sehen. Die Invaliden sind wieder einmal unzufrieden. Heiden, die sie sind! »Kameraden!« schreien die Plakate. Die Regierung! Die Regierung!
Sie wollen die Regierung abschaffen! Ihn, Andreas Pum, konnte man nicht für derlei Dinge haben. Er machte keinen Radau, er war ein ruhiger Mensch, er verachtete Kartenspieler, Trinker und Rebellen.
Mit dieser Verachtung im Herzen hätte Andreas Pum alle die langen oder kurzen Jahre leben können, die ihm vom Schicksal zugedacht waren, mit dieser Verachtung im Herzen, in dieser warmen, guten Behaglichkeit, in dieser vollendeten Harmonie mit den irdischen und göttlichen Gesetzen, den Priestern ebenso nahe wie den Beamten der Regierung – – wenn nicht ein ganz fremder Mann in Andreas Pums Leben getreten wäre, um es zu vernichten, nicht mit dem Willen zum Bösesein, sondern von der Blindheit des Zufalls dazu gezwungen, ein unwissendes Mittel in der Hand des Teufels, der manchmal die göttliche Regierung unterbricht, ohne daß wir es ahnen; so daß wir noch in der tröstlichen Gewißheit, daß ein Gott über uns wacht, unsere stummen Gebete zu ihm hinaufsenden – und uns wundern, wenn sie nicht erhört werden. Der Mann, dem Andreas sein Unglück zu verdanken hatte, war der Posamenteriehändler Arnold von der Firma Arnold & Hahn.
VII
Herr Arnold war groß, gesund, satt und dennoch unzufrieden. Das Geschäft florierte. Daheim wartete seiner eine treue Gattin, die ihm zwei Kinder geboren hatte: einen Knaben und ein Mädchen, genau so, wie er es sich gewünscht. Seine Anzüge saßen gut, seine Krawatten waren immer modern, seine Taschenuhr ging richtig, sein Tag war mit einer wohltätigen Genauigkeit eingeteilt. Keine unangenehme Überraschung konnte ihm die milde Ordnung seines Lebens stören. Es schien fast ausgeschlossen, daß ihm je eine Morgenpost den peinlichen Bettelbrief eines unbegüterten Verwandten bringen würde. Er hatte keine armen Verwandten. Er stammte aus einer wohlhabenden Familie, in der es keine Zwistigkeiten gab. Alle ihre Mitglieder einte eine versöhnende Sorglosigkeit und eine verwandte Art, die Welt zu sehen, die Politik zu beurteilen, den persönlichen Geschmack zu zeigen, die jeweils herrschende Mode zu kritisieren oder mitzumachen. Im Hause Arnolds gab es nicht einmal jene häuslichen Kümmernisse, deren Ursachen gewöhnlich in einem mißratenen Leibgericht zu suchen sind. Sogar die Kinder lernten gut, benahmen sich züchtig und schienen zu wissen, welche Verantwortung sie dem Namen ihres Vaters und seiner nicht unerheblichen Abstammung schuldig waren.
Dennoch litt Herr Arnold an einer chronischen und, wie man sieht, unbegründeten Unzufriedenheit. Er selbst wußte freilich Gründe genug. Einerseits regten ihn die Zeitverhältnisse auf. Er hatte von seinen Ahnen einen ausgeprägten Sinn für Ordnung geerbt, und ihm war, als gingen die Tendenzen der Gegenwart dahin, diverse Ordnungen zu stören. Andererseits näherte er sich jenem Alter eines Familienvaters, in dem eine weibliche Abwechslung zur Erhaltung des inneren Gleichgewichts nötig wird. Dieser Liebesdrang aber verursachte eine gewisse Unsicherheit, welche die Ordnung des Tags und noch mehr der Nacht zu sprengen drohte, und teilte sich allmählich der ganzen Tätigkeit des Herrn Arnold mit, beeinflußte die großen Abschlüsse und sogar die Erledigung der Korrespondenz; insbesondere diese, weil Arnold die Briefe der jungen Veronika Lenz, die geradezu absichtlich diesen Namen trug, zu diktieren pflegte.
Nun war Fräulein Lenz allerdings so gut wie verlobt. Dennoch hätte sich ein in den Dingen der Verführung mehr geübter Mann durch diese Tatsache nicht abhalten lassen. Gerade die mangelnde Übung hatte bis jetzt den Herrn Arnold ausgezeichnet, seine Solidität unterstützt, seinen Ruf begründet und ihm die Kraft gegeben, sich gegen die zersetzenden Erscheinungen des gegenwärtigen Lebens zu empören. Ach! wie bangte ihm vor dem Tag, an dem er sich in den traurigsten Widerspruch zu seiner ganzen Existenz bringen würde, und wie sehnte er diesen Tag herbei! Wie mußte er sich stündlich vor sich selbst, vor seiner Umgebung, seinem Kompagnon, seiner Frau und seinen Kindern in acht nehmen. Und wie schwer fiel es ihm!
Denn