Йозеф Рот

Gesammelte Werke von Joseph Roth


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      Der Wagen fuhr weiter, die Menschen zerstreuten sich.

      Andreas humpelte nach Hause.

      Er wütete noch immer. Er schämte sich. Er war schmerzlich enttäuscht. Daß ihm so etwas geschehen mußte! Ihm, Andreas Pum, den die Regierung ausgezeichnet hatte! Er besaß eine Lizenz, er hatte ein Bein verloren und ein Kreuz bekommen. Er war ein Kämpfer, ein Soldat!

      Plötzlich erinnerte er sich, daß er die Lizenz ja gar nicht mehr hatte. Er war auf einmal ein Lebender ohne Recht zu leben. Er war gar nichts mehr! Als wenn er aus einem Schiff in den großen Ozean geworfen wäre, so begann seine Seele die verzweifelten Anstrengungen eines Ertrinkenden zu machen, wenn er mit seinem Leierkasten ausging.

      Er kam nach Hause, er erzählte alles seiner Frau. Unterwegs hatte eine leise Hoffnung durch sein aufgeregtes Gemüt geklungen, eine Hoffnung auf die Klugheit, die Güte, die Liebe seiner Frau. Aber während er ihr erzählte, wurde es um ihn kalt und kälter. Sie sagte nichts. Sie stand vor ihm, die Hände in den breiten Hüften, ein Schlüsselbund hing wie eine Waffe an ihrer linken Seite, und Teig klebte an ihren Fingern. Er sah ihr Gesicht nicht, er konnte nicht feststellen, welchen Eindruck seine Rede machte. Er glaubte zu fühlen, daß sie ein bißchen spöttisch auf ihn heruntersah.

      Er warf von unten einen scheuen Blick zu ihr hinauf und glich in diesem Augenblick einem Hund, der Prügel erwartet. Dann aber veränderte sich sein Angesicht, denn er erschrak. Plötzlich war es ihm, als stünde vor ihm ein fremdes Weib, das er nicht kannte und das fürchterlich war. Zum erstenmal machte Andreas die Entdeckung, daß ein menschliches Angesicht ganz anders aussehen kann, wenn man es von unten betrachtet. Er sah zuerst das fettwülstige Kinn seiner Frau und unmittelbar darüber, so, als hätte ihr Antlitz Mund und Lippen verloren, die breiten Nasenlöcher, die sich abwechselnd blähten und schlaff wurden und aus denen ein peinlicher und schwüler Hauch blies, der merkwürdigerweise an Wildgeruch erinnerte. Ein leises Stöhnen schien aus dem Innern der Frau zu kommen, wie ein wollüstiger und sehnsüchtiger Laut, der in dem hungrigen Rachen der Raubtiere entsteht, wenn sie Beute erblicken.

      Andreas fürchtete sich vor seiner Frau.

      Er brach mitten in der Erzählung ab. Katharina rückte einen Schritt von ihm weg, und ihm schien es, als schrumpfte er zusammen und würde klein, ganz klein, und sähe vor sich seine Frau, nur wie man einen riesigen Kirchturm mehr ahnt als sieht, wenn man sich sehr nahe vor ihm befindet.

      Ihre Brüste hoben und senkten sich, und sie schnaufte mit den Nüstern. So rang sie einige Sekunden lang nach Luft und einem treffenden Wort. Endlich hatte sie es gefunden!

      »Elender Krüppel!« kreischte sie.

      Andreas wurde blaß. Mitten in einem großen Ozean schwamm er. Er klammerte sich an seinen Sitz wie an eine rettende Planke. Von ferne, durch Nebel und gleichsam untertauchend, hatte er noch Zeit, das Angesicht der kleinen Anna zu erblicken, die neugierig im Zimmer stand.

      Frau Katharina schien alles vergessen zu haben. Sie sah ihren Mann nicht und nicht ihr Kind. Sie hatte offenbar vergessen, daß Nachbarn lebten. Sie fuhr mit der rechten Hand durch die Luft und streifte eine Blumenvase aus bemaltem Gips, die mitten auf dem Tisch gestanden hatte. Das Wasser rann aus und gurgelte leise und plinkte in einzelnen wehmütigen Tropfen vom Rand der Wachstuchdecke auf den Boden. Um so besser! dachte Katharina. Das fließende Wasser verdoppelte ihren Zorn.

      »Das ist der Dank, daß ich dich aufgenommen habe«, schrie sie. »Gehst herum und lebst von meiner Hände Arbeit, ja, von meiner Hände Arbeit, und fängst dir Streit mit fremden Herren an und verlierst deine Lizenz. Bist du ganz verrückt geworden? Zehn gesunde Männer an jedem Finger hätte ich haben können statt deiner, statt eines elenden Mannes, der einem kein Schutz ist und keine Freude und jetzt auch noch eine Schande. Man wird dich einsperren, bei Wasser und Brot wirst du sitzen, und ich muß deinen Namen tragen. Pfui! Pfui! Pfui!«

      Und dreimal spuckte Frau Katharina aus. Einmal traf sie die Hose ihres Mannes. Andreas wischte den Speichel seiner Frau mit zitterndem Handrücken weg.

      Dann erst wandte sich Katharina den häuslichen Angelegenheiten zu. Sie warf sich auf die Knie und begann, mit einem quietschenden Fetzen den Boden aufzuwischen. Dazwischen schrie sie: »Ännchen, stell die Vase auf!« und: »tummel dich!« und: »schöne Bescherung!« und: »so ein Krüppel.«

      Sie wütete scheuernd gegen die längst getrockneten und gelblich glänzenden Dielenbretter. Sie fuhr mit den Nägeln zwischen die einzelnen Bretter in die Fugen und wirbelte und spritzte kleine Erdklümpchen auf. Trotz ihrer angestrengten Tätigkeit konnte sie denken und sogar in Wehmut schwelgen. Auf dem Boden ausgestreckt und ihn, wie zur Strafe, bearbeitend, dachte sie traurig an ihr verpfuschtes Leben. Ach, sie dachte an den schmucken, schlanken Unterinspektor der Polizei, Vinzenz Topp, den sie eines Krüppels wegen ausgeschlagen hatte. Oh, wo waren ihre Augen gewesen?!

      Schnell erhob sie sich. Schnell löste sie ihr geschürztes Kleid, warf sie das Schlüsselbund auf den Tisch, ergriff sie einen Kamm, stellte sich vor den Spiegel und ordnete ihre Haare.

      Dann schlug sie die Tür ins Schloß und rannte den Korridor entlang zu der Wohnung des Klempners Faßbend, bei dem der Unterinspektor ein möbliertes Kabinett innehatte.

      Vinzenz Topp hatte in der letzten Nacht Dienst gehabt. Jetzt war er gerade im Begriff, sich zu rasieren. Mit einem halb eingeseiften Angesicht lief er zur Tür.

      »Entschuldigen Sie, entschuldigen Sie, ich bitte vielmals um Entschuldigung!« sagte Vinzenz Topp, während er die Frau Katharina in sein Zimmer führte. Die Familie Faßbend war für zwei Tage aufs Land gefahren zu der Kindstaufe eines landwirtschaftlichen Onkels. Vinzenz Topp ließ Frau Katharina niedersitzen und bat, sich rasieren zu dürfen. Die Höflichkeit war seine zweite Natur, man hätte ihn mitten in der Nacht wecken können, und er wäre höflich gewesen.

      Frau Katharina war gekommen, um juristischen Rat zu erbitten. Sie hatte zu ihm Vertrauen wie zu einem Rechtsanwalt. Sehr schnell und mit jener präzisen Sachlichkeit, die sie vor ihren Geschlechtsgenossinnen auszeichnete, erzählte sie den ganzen Vorfall.

      Vinzenz Topp kniff die Unterlippe ein, um sein wundrasiertes Kinn mit dem Stein einzureiben. Dann streute er wohlriechenden Puder auf sein Angesicht. Hierauf nahm er den Uniformrock von der Stuhllehne und schlüpfte in ihn sorgfältig, wobei seine Knochen knackten. Jetzt erst war er fähig, eine Auskunft zu erteilen.

      Ach, es war nicht das erstemal, daß sich Leute – »Laien«, wie er sie nannte – an ihn um Rat und Auskunft gewandt hatten. Er wußte manches aus seiner Praxis. Dieser Fall schien ihm sehr verwickelt.

      »Das ist bewaffneter Widerstand gegen die Staatsgewalt und übrigens Amtsehrenbeleidigung. Ihr Herr Gemahl« – Vinzenz sagte immer »Herr Gemahl«, denn er war ein besserer Mensch – »kann froh sein, wenn er mit einer Polizeistrafe davonkommt. Wahrscheinlich wird sich auch das Gericht mit der Sache beschäftigen.«

      Katharina breitete ihre Arme aus, stützte sie auf den Tisch und ließ den Kopf auf die Platte sinken. Nach einer Weile wurde ihr Schluchzen hörbar. Ihre Arme lagen rosig, rundlich und verlockend da.

      Vinzenz Topp legte seine duftende Hand auf einen dieser Arme. »Trösten Sie sich!« sagte er. Dann ging er zur Tür und schob für alle Fälle den Riegel vor.

      Katharina erhob ihr tränenüberströmtes Antlitz. Sie wußte selbst nicht, ob sie um ihren Mann weinte oder um Vinzenz Topp. Er war so schön mit seinem weißgepuderten Kinn und seinem noblen Toiletteseifengeruch. Seine Uniform saß wie angegossen. Oh, wo waren ihre Augen gewesen?

      Sie verglich. Sie konnte nicht anders.

      »Retten Sie mich!« schluchzte sie plötzlich auf und breitete ihre Arme aus. Vinzenz ließ sich in sie fallen.

      So kam er endlich zu dem Genuß dieser Frau, die er lange und insgeheim ersehnt hatte. Es war eine freundliche Fügung des Schicksals.

      Er vergaß nicht, schwere Beschuldigungen gegen Andreas zu häufen, den er nicht mehr »Herr Gemahl« nannte. Auch der Frau Katharina machte er sanfte Vorwürfe. Aber alles sprach er in einem zärtlichen, überlegenen Schäkerton, wie ihn Katharina noch niemals vernommen