zu, Strafen zu verhängen, und wer es mit ihr angefangen hat, muß zuerst von ihr erledigt werden. Es schien der Polizei, daß Andreas sich einer gewöhnlichen »Übertretung« schuldig gemacht hatte und daß er der Lizenz nicht mehr würdig war, die er durch eine besondere Gnade des Staates bekommen. Andreas Pum mußte also vor allem verhört werden.
So kam es, daß, während er zur Wanderung aufs Gericht rüstete, die Tür sich auftat und ein Kriminalagent eintrat, um Andreas zur polizeilichen Vernehmung abzuholen. Andreas verwechselte in seiner katastrophalen Unkenntnis der staatlichen Bestandteile diesen Mann der Polizei mit einem der Gerichte und sagte, daß der Termin erst für zehn Uhr angesetzt wäre. Der Beamte ließ sich die Vorladung zeigen, klärte Andreas mit der Sachkenntnis eines Menschen von Fach über den enormen Unterschied auf, zwirbelte dabei seinen blonden Schnurrbart und sagte endlich: »Pflicht ist Pflicht!« Das bedeutete, daß er nichts dafür könne, daß er aber seinen Auftrag, Andreas zur Polizei zu bringen, ausführen müßte. Vor dem Kommissär, so riet er, möge Andreas seine Vorladung zeigen.
Andreas Pum tröstete sich. Zwar ahnte er ein neues Unglück. Aber sein Verstand sagte ihm, daß der Staat für seine eigenen Irrtümer verantwortlich sein müsse und daß der Staatsbürger nicht das Recht habe, die Behörden auf ihre Widersprüche aufmerksam zu machen. Also ging er. Unterwegs erzählte er dem freundlichen Kriminalbeamten den ganzen Vorfall. Der Mann lachte herzlich und stark, seine blauen Augen blitzten, und seine breiten, weißen Zähne leuchteten. »Ihnen geschieht nichts!« sagte er. Und Andreas faßte neuen Mut.
In der Polizei mußte er warten. Entweder war der Beamte, der ihn verhören sollte, noch nicht anwesend oder mit anderen Dingen beschäftigt. Die Normaluhr an der kahlen Wand des Amtszimmers zeigte halb zehn. Andreas näherte sich der Barriere, hinter der ein Mann in Uniform von gelben Kartothekzetteln Namen und Daten auf rote Zettel umschrieb, und sagte: »Entschuldigen Sie!«
Der uniformierte Mann schrieb weiter. Er behandelte den Buchstaben K. Darin wollte er nicht gestört sein. Erst als er die erste Seite umblätterte, die mit L anfing, wandte er den Kopf.
Andreas zeigte ihm die Vorladung. Der Uniformierte fragte, was für eine Geschichte das nun schon wieder wäre, als hätte er bereits eine schwere Enttäuschung mit dieser Persönlichkeit erlebt. Andreas erzählte den ganzen Vorfall haarklein. Im Zimmer warteten zwei Straßenmädchen. Sie lachten.
Der Uniformierte faltete die Vorladung wieder zusammen und sagte: »Warten Sie!« Dann schrieb er weiter. Endlich ging eine Tür auf, die Stimme eines unsichtbaren Menschen rief: »Andreas Pum!«
Andreas trat vor einen Herrn und machte eine Verbeugung, wobei seine Krücke ein wenig ausrutschte, so daß er mit der Hand gegen den Schreibtisch fiel, hinter dem der Kommissär saß. »No, no!« sagte dieser.
»Erlauben bitte«, stotterte Andreas, »ich habe hier eine Vorladung!«
»Das weiß ich«, sagte der Herr, »antworten Sie, wenn Sie gefragt sind.«
Hierauf begann er, den Bericht jenes Polizisten vorzulesen, der Andreas aufgeschrieben hatte. Als er zu der Stelle kam, an der die Lizenz erwähnt wurde, schwang er sie ein wenig hoch, so daß Andreas sie sehen konnte.
»Ist das so?« fragte der Kommissär.
Es war ein junger Mann mit einem sehr hohen Stehkragen und einem sehr kleinen, dünnen Gesicht. Sein spitzes Kinn machte Anstalten, im Kragen zu verschwinden. Er sprach mit einer heiseren Stimme. Dabei glättete er seine Frisur mit beiden Händen und prüfte mit sanften Fingerspitzen immer wieder die gerade Linie seines Scheitels.
»Ja«, sagte Andreas, »aber nicht ganz.«
»Wie denn sonst?« fragte der Kommissär.
Andreas erzählte seine Geschichte zum drittenmal. Dann holte er schnell seine Vorladung hervor und zeigte sie dem Kommissär. Der sah nach der Uhr und sagte: »Zu spät! Weshalb sagen Sie das nicht gleich?!«
»Was soll ich jetzt tun?« fragte Andreas.
»Jetzt werden wir Sie erst erledigen.«
»Wie lange dauert es?«
»Das geht Sie gar nichts an«, schrie der Kommissär. »Gar nichts an«, wiederholte er – und sprang auf. Er begann, im Zimmer hin und her zu gehen. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: »So eine Frechheit!«
Andreas fühlte, daß ihm Blut ins Gesicht schnellte. Haß gegen den Beamten ergriff ihn, schüttelte ihn so, daß er zitterte. Mit dem Stock schlug er auf den Boden. Speichel floß in seinem Mund zusammen. Er spuckte aus.
Der Beamte ballte die Fäuste. Andreas sah ihn in weiter Ferne. Der Beamte schrie. Andreas hörte seinen Schrei gedämpft und matt. Rote Räder kreisten vor Andreas’ Augen. Er hob den Stock und traf einen Lampenschirm. Er klirrte schrill. Zwei Männer stürzten sich auf Andreas.
»Vierundzwanzig Stunden!« schrie der Beamte. Dann überreichte er den Akt Andreas Pum einem Schreiber: »Lizenzentziehung!« seufzte er und sagte: »Der nächste!«
Und während man Andreas über den Hof des Gebäudes in den Arrest für leichte Fälle führte, entschwanden alle Gedanken seinem Hirn. Es war, als ob sein Schädel auslaufen würde. Eine schmerzliche Leere entstand in seinem Kopf.
XII
Der Arrest für leichte Fälle schien sehr tief zu liegen. Andreas fiel ins Halbdunkel. Er blieb an der Tür stehen. Er hörte den knarrenden Schlüssel. Er war wie tot. Ausgelöscht war die Sonne. Endgültig verronnen waren die Tage, unauffindbar verschüttet wie große verlorene, auseinandergerollte Perlen. Das Leben kehrte nicht mehr wieder. Es war vertan. Nichts blieb übrig. Tot war das Auge. Über alles, was es gesehen und jemals gespiegelt, breitete sich der Vorhang. Hinter dem verblaßten die Bilder der Dinge, der Tiere, der Menschen. Gestorben ist Muli, der kleine Esel, an der Straßenecke, hinter der er verschwand. Ein rosiger, rundlicher Tod hatte das Tier gekauft und mit einem kurzen fetten Arm erstickt. Gestorben ist Katharina, Kathi, die breithüftige, hochbusige Frau. Gestorben ist Anna, das kleine Mädchen mit den dünnen Zöpfen. Die große, weiße, breitflügelige Schleife war ein Vampir auf dem Kopf des Kindes. Ausgelöscht, wie mit einem großen Schwamm, als wäre sie nur eine Kreidezeichnung auf matter Tafel gewesen, sind das Spital, der Krieg, die Lizenz, die Kameraden, der Ingenieur Lang, Willi, seine Braut, der Leierkasten, die Straßenbahn. Nur in zarten, erlöschenden Umrissen wehten sie durch die Erinnerung.
Der Lagerplatz stieg auf aus dem Halbdunkel der Zelle, wie von einem Schnellmaler mit rasendem Pinselstrich an eine Leinwand gefegt. Da ist Kastor, der zottelige Hund mit den grün schillernden Augen, die in der Nacht phosphoreszierten, seine ernste Schweifquaste, die immer zu mahnen schien, weil sie die Bewegung eines väterlichen Zeigefingers nachahmte, sein tappender Schritt, der war wie ein Gang auf Teppichen der Finsternis. Dort der Zaun, braunlackiert und nach Ölfarbe riechend, mit dem dreifach gewundenen Draht auf dem oberen Rande, mit kleinen Zinken und Zacken, wie einer eisernen Zahnreihe. Der Mond geht auf hinter geschichteten Brettern und klettert an vorragenden Latten empor, um sich über den Platz zu ergießen, das Sägemehl zu versilbern, das weich auf dem Boden liegt. Und Andreas schreitet, klirrend mit Waffen und Schlüsseln, den Hund hinter sich, neben sich, vor sich, rund um den Zaun. Wenn er müde ist, streckt er sich aus, den Rücken lehnt er gegen den Zaun, und seine müden Augen gleiten über seinen Bauch, seine Knie, seine Stiefelkappen.
Hört er ein Geräusch, knurrt der Hund, steht er behutsam auf, Schlüssel und Waffen an sich drückend, und setzt, wie ein Tier auf Pfaden der Beute, ein Bein vor das andere, ein Bein vors andere, und die Stiefel unterdrücken das gewohnte Knarren, weil der Fuß sie dazu zwingt.
Er war ein guter Nachtwächter, Andreas Pum, er hätte es bleiben sollen.
Er wurde aber einbeinig.
Er verlor ein Stück von sich und lebte weiter.
Man kann ein gewichtiges, wertvolles, unbedingt notwendiges Stück