sah ein Schwein, das mit dem Rüssel in die Fuge zwischen Tür und Wand des Stalles geraten war und sich nicht wieder befreien konnte. Er kannte dieses Bild. Als Knabe, bei seinem Onkel, der ein Steuereinnehmer auf dem Lande war und einen Hof besaß, hatte er es gesehen. Er sah ein Schwalbennest im Klosett; einen Papagei an einer Kette, der nach seinem Finger schnappte; den Kompaß und den silbergefaßten Zahn an der Uhrkette des Vaters; die Geburt eines Schmetterlings aus der dünnen, gebrechlichen Hülle der Puppe in einer grasgefütterten Streichholzschachtel; getrocknete Anemonen in einem Herbarium; ein goldgerändertes Gesangbuch und den ersten Schlips aus roter Seide.
Andreas hatte viel zu tun. Er mußte die Bilder einordnen. Wie ein Kind an den Sprossen einer Leiter, so kletterte der neugeborene Andreas an diesen kleinen Erinnerungen zaghaft empor. Es schien ihm, als müßte er noch lange klettern, um zu sich selbst zu gelangen. Er entdeckte sich selbst. Er schloß die Augen und freute sich. Wenn er sie öffnete, hatte er ein neues Stück entdeckt, eine Beziehung, einen Klang, einen Tag und ein Bild. Ihm war, als begänne er zu lernen und Geheimnisse täten sich vor ihm auf. So hatte er also fünfundvierzig Jahre in Blindheit gelebt, ohne sich selbst und die Welt zu kennen.
Das Leben mußte anders sein, als er es gesehen. Eine Frau, die ihn liebte, verriet ihn in der Not. Hätte er sie gekannt, niemals wäre es ihm zugestoßen. Was aber hatte er von ihr gekannt? Nur die Hüften, den Busen, ihr Fleisch, ihr breites Gesicht und den schwülen Hauch, den sie ausströmte. Woran hatte er geglaubt? An Gott, an die Gerechtigkeit, an die Regierung. Im Kriege verlor er sein Bein. Er bekam eine Auszeichnung. Nicht einmal eine Prothese verschafften sie ihm. Jahrelang trug er das Kreuz mit Stolz. Seine Lizenz, die Kurbel eines Leierkastens in den Höfen zu drehen, schien ihm höchste Belohnung. Aber die Welt erwies sich eines Tages nicht so einfach, wie er sie in seiner frommen Einfalt gesehen hatte. Die Regierung war nicht gerecht. Sie verfolgte nicht nur die Raubmörder, die Taschendiebe, die Heiden. Offenbar geschah es, daß sie sogar einen Raubmörder auszeichnete, da sie doch Andreas, den Frommen, ins Gefängnis schloß, obwohl er sie verehrte. So ähnlich handelte Gott: er irrte sich. War Gott noch Gott, wenn er sich irrte?
Jeden Morgen gingen die Insassen dieses Hauses im Hof spazieren. Der Hof war dicht gepflastert, von kleinen Ziegelsteinchen war der Boden bedeckt, und man sah kein Stückchen Staub, kein Stückchen Erde. Ein großes Ereignis war eine Henne, die oft im Hof erschien. Hundertvierundfünfzig Sträflinge wallten, einer hinter dem andern, mit gesenkten Köpfen immer in der Richtung von rechts nach links, immer die vier Wände entlang. In der Mitte gingen die weiß-braun gesprenkelte Henne und der Aufseher, der ein Rohrstäbchen in der Hand schwang und einen Revolver an der Hüfte trug. Am linken Ärmel hatten die Gefangenen ihre schwarze Nummer. Der Zug begann mit Eins und endete mit Einhundertvierundfünfzig. Viermal gingen sie das Quadrat des Hofes ab. Dann war die Stunde um. Sie sprachen nicht miteinander. Sie sahen sehnsüchtig nach der Henne. Einer lächelte manchmal. Der dreiundsiebzigste war Andreas Pum.
Einmal erblickte er im Hof ein Stückchen Zeitungspapier. Der Aufseher sah gerade in die entgegengesetzte Richtung. Andreas hob es auf und barg es in der Hand. Er war sehr neugierig. Es war, als würde in seiner Zelle ein Mensch erscheinen, um mit ihm zu sprechen. Vielleicht, ja wahrscheinlich enthielt dieses Stückchen Papier eine lustige oder eine merkwürdige Geschichte. Er zerknüllte es und hielt es zwischen zwei Fingern. So konnte er vorschriftsmäßig die Hände an der Hosennaht halten. Der Weg erschien ihm lang, die Stunde unendlich, der Hof grausam gewachsen. Endlich ertönte der Pfiff des Aufsehers. Andreas kam in die Zelle und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Dann entfaltete er das Papier, rückte die Bank zum Fenster und setzte sich. Er las:
»Personalien.
Als Verlobte empfehlen sich Fräulein Elsbeth Waldeck, die Tochter von Prof. Leopold Waldeck, und Dr. med. Edwin Aronowsky, Fräulein Hildegard Goldschmidt und Dr. jur. Siegfried Türkel, Fräulein Erna Walter und Herr Willi Reizenbaum. Der Bankdirektor Willibald Rowolsky und Frau Martha Maria, geb. Zadik, zeigen hocherfreut die Geburt eines Sohnes an. Frau Hedwig Kalischer, geb. Goldenring, betrauert das Hinscheiden ihres Gatten Leopold Kalischer, Mitinhaber der Firma König, Schrumm & Kalischer, Vorsitzender des Aufsichtsrates der Gemeinschaft der Chemikalienhändler AG, der nach schwerem Leiden im 62. Lebensjahre gestorben ist. Herr Johann Kotz zeigt das Ableben seiner Gattin Frau Helene Kotz an. Bergwerksdirektor Bergassessor Harald Kreuth gibt Nachricht vom Tod seines Vaters Sigismund Johann Kreuth. Im 77. Lebensjahre verschied nach langem Leiden der Geheime Sanitätsrat Dr. med. Max Treitel.«
Andreas wendete das Papier und las auf der Rückseite:
»Wenn das zutrifft, so versteht man jetzt, warum in den letzten Tagen die Poincaré-Presse den Sachverständigenbericht so geflissentlich als pro-französisch gepriesen hat – um ihren Herrn zu decken. Daily Mail, aus Paris direkt unterrichtet, zählt in bestimmter Form–––«
Hier brach das Papier ab.
Andreas Pum versuchte, sich die Menschen vorzustellen, von deren Leben er die wichtigsten Abschnitte erfahren hatte. Fräulein Elsbeth Waldeck war blond und vornehm, die Tochter eines Professors, die Braut eines Arztes. Der Doktor Siegfried Türkel war vielleicht ein Rechtsanwalt, und es wäre nicht von Schaden, seine Bekanntschaft zu machen. Vielleicht geriet man überhaupt nicht ins Gefängnis, wenn man mit dem Rechtsanwalt Türkel bekannt war. Ja, es war so: alle, deren Namen auf diesem Stückchen Zeitungspapier standen, mußten miteinander befreundet sein. Der Doktor Aronowsky behandelte die Frau Martha Maria, geborene Zadik, und der Bergassessor Harald Kreuth lieh sich Geld vom Bankdirektor Willibald Rowolsky. Diesen vertrat der Rechtsanwalt Türkel bei Gericht, und der Rechtsanwalt Türkel macht dem Herrn Johann Kotz einen Kondolenzbesuch. Die Namen sprangen selbständig aus den Zeilen und verbanden sich wechselweise. Da hüpfte der Sanitätsrat zum Assessor und dieser zum Rechtsanwalt. Die Namen waren lebendig. Sie nahmen menschliche Gestalten an. Andreas Pum blickte auf das bedruckte Papier wie in ein Zimmer, in dem sich alle diese Menschen befanden und herumgingen und miteinander sprachen. Dieses Bild bewegte ihn. Er stellte sich die Gesellschaft sehr glänzend vor. Es schien ihm, daß er hinter das Geheimnis der Welt gekommen war. Er glaubte zu wissen, daß er in der Zelle saß, weil er keinen von diesen Verlobten, Geborenen und Verstorbenen kannte. Weshalb stand es nicht gedruckt, daß Herr Andreas Pum, Lizenzinhaber, nach ungerechter Behandlung und ohne gehört zu werden, zu sechs Wochen verurteilt war?
XV
Das kränkte Andreas Pum. Andreas empfand die Beschämung zurückgesetzter Menschen, die sich auf eine Karriere vorbereitet hatten. Daß man gerade ihn eingesperrt hatte, daß man gerade ihn zum Heidentum zwang, war eine Ungerechtigkeit, grausam, unentschuldbar und verbrecherisch. Wie lange war es denn überhaupt her, daß er, fast mit der Würde eines Beamten, jedenfalls aber mit dem gottesfürchtigen Sinn eines Priesters, die Lizenz in der Tasche, an einer belebten Straßenecke die Nationalhymne spielte und die Leute zur Vaterlandsliebe fast ebensosehr anspornte wie zur Wohltätigkeit? Daß ein Schutzmann auf ihn zuschritt und sich, respektvoll grüßend, wieder entfernte, weil er die Berechtigung Andreas Pums, die Nationalhymne zu spielen, anerkennen mußte?
Was war denn eigentlich geschehen? Wie konnte sich die Welt so schnell geändert haben?
Ach! sie hatte sich gar nicht geändert! Immer war sie so gewesen! Nur, wenn wir ganz besonderes Glück haben, werden wir nicht eingesperrt. Aber unser Schicksal ist es, Anstoß zu erregen und im Gestrüpp der willkürlich wuchernden Gesetze zu stolpern. Wie Spinnen sitzen die Behörden, lauernd in den feinmaschigen Geweben der Verordnungen, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann wir ihnen anheimfallen. Und es ist nicht genug daran, daß wir einmal ein Bein verloren haben. Wir müssen unser Leben verlieren. Die Regierung, wie wir sie jetzt erkannt haben, ist nicht mehr etwas Fernes, hoch über uns Befindliches. Sie hat alle irdischen Schwächen und keinen Kontakt mit Gott. Wir haben vor allem gesehen, daß sie durchaus nicht eine einheitliche Macht ist. Sie gliedert sich in Polizei und Gericht und wer weiß noch wie viele Ministerien. Der Kriegsminister mag jemandem eine Auszeichnung verleihen, und die Polizei sperrt ihn dennoch ein. Das Gericht mag ihn vorladen, und der Herr Kommissär tut es auch. So wurde mancher gottlos, ein Heide und ein