grausam, dass sie das Ansehen einer alten Madonna bekam; denn sie bewahrte sich selbst mitten in ihrem Elend ihre anmutige Unberührtheit, ihren reinen, wenn auch traurigen Blick, und man musste sie immer noch als eine schöne Frau von zurückhaltendem, dezentem Wesen ansehen. Bei dem von Cäsar geplanten Balle sollte sie zum letztenmal sich des allgemein auffallenden Glanzes ihrer Schönheit zu erfreuen haben.
Eine jede Existenz hat ihren Höhepunkt, die Zeit, da die wirksamen Ursachen genau im richtigen Verhältnis zu den erzielten Resultaten stehen. Dieser Mittag des Lebens, wo die lebendigen Kräfte sich im Gleichgewicht halten und ihre volle Macht zeigen, ist nicht allein allen Lebewesen, sondern auch den Städten, den Nationen, den Ideen, den Institutionen, dem Handel und den Unternehmungen gemeinsam, die ähnlich wie edle Rassen und Dynastien entstehen, in die Höhe kommen und zu Boden sinken. Woher rührt die Gewalt, mit der dieses Wesen des Aufstiegs und Niedergangs allem Organischen hienieden anhaftet? Selbst der Tod hat in Pestzeiten sein Ansteigen, sein Abschwellen, sein Wiederausbrechen und sein Einschlafen. Unsere Erde selbst ist vielleicht nur eine etwas dauerhaftere Leuchtkugel als andere. Die Geschichte, die die Ursachen von Größe und Niedergang aller Dinge hienieden erzählt, könnte dem Menschen den Moment anzeigen, da er mit der Entfaltung aller seiner Kräfte innehalten sollte; aber weder die Eroberer, noch die Schauspieler, noch die Frauen, noch die Schriftsteller hören auf ihre warnende Stimme.
Cäsar Birotteau, der hätte fühlen müssen, dass er den Höhepunkt seines Glücks erreicht habe, betrachtete diesen Ruhepunkt nur wie ein neues Sprungbrett. Er begriff nicht, was übrigens weder die Völker noch die Könige in unverwischbaren Lettern aufzuzeichnen versucht haben, die Ursache dieser Umschwünge, von denen die Geschichte voll ist, und von denen die souveränen und die Handelshäuser so gewaltige Beispiele darbieten. Warum können nicht neue Pyramiden immerfort diesen Grundsatz, der die Politik der Völker wie des einzelnen beherrschen sollte, wiederholen: »Wenn die Wirkung nicht mehr in richtiger Beziehung und in gleichem Verhältnis zur Ursache steht, dann beginnt die Auflösung?« Aber diese Monumente sind ja überall vorhanden, es sind die Überlieferungen und die Steine, die zu uns von der Vergangenheit reden, die die Launen des unentrinnbaren Geschicks bestätigen, dessen Hand unsere Träume vernichtet und uns beweist, dass die schwerwiegendsten Ereignisse sich auf einen Grundgedanken zurückführen lassen. Troja und Napoleon sind beides nur Gedichte. Möge diese Erzählung das Gedicht der bürgerlichen Umschwünge sein, derer noch keine Stimme gedacht hat, obwohl sie mit demselben Recht ungeheure genannt werden können; es handelt sich hier nicht um einen einzelnen Menschen, sondern um ein ganzes leidendes Volk.
Beim Einschlafen fürchtete Cäsar, dass seine Frau ihm am andern Morgen noch entscheidende Einwürfe machen würde, und nahm sich vor, sehr früh aufzustehen, um alles zum Abschluss zubringen. Mit Tagesgrauen verließ er daher das Bett, zog sich schnell an und ging in den Laden hinunter, als der Hausknecht die nummerierten Fensterläden abnahm. Da Birotteau allein war, wartete er, bis seine Kommis aufgestanden waren, stellte sich an die Türschwelle und passte auf, wie der Hausknecht Raguet seine Arbeit tat, und Birotteau verstand sich auf solche Arbeit! Trotz der Kälte war das Wetter herrlich.
»Popinot, nimm deinen Hut, zieh dir Schuhe an und rufe Herrn Cölestin herunter; wir beide wollen in den Tuilerien miteinander reden«, sagte er, als er Anselm herunterkommen sah.
Popinot, dieses ausgesprochene Gegenstück zu du Tillet, den einer jener glücklichen Zufälle, die an eine Spezialvorsehung glauben lassen, Cäsar zur Seite gestellt hatte, spielt eine so wichtige Rolle in dieser Erzählung, dass es nötig ist, ihn hier genauer zu zeichnen. Frau Ragon war eine geborene Popinot. Sie hatte zwei Brüder. Der eine, das jüngste Kind, war damals Hilfsrichter am Seinetribunal erster Instanz. Der Ältere hatte einen Handel mit roher Wolle angefangen, dabei sein Vermögen zugesetzt und war gestorben, indem er den Ragons und seinem Bruder, dem Richter, der kinderlos war, seinen einzigen Sohn zur Versorgung hinterließ, der schon bei seiner Geburt die Mutter verloren hatte. Um ihren Neffen einem Beruf zuzuwenden, hatte Frau Ragon ihn in das Parfümeriegeschäft gebracht, in der Hoffnung, dass er einmal der Nachfolger Birotteaus werden würde. Anselm Popinot war klein und hatte einen Klumpfuß, ein Gebrechen, das das Geschick auch Lord Byron, Walter Scott und Herrn von Talleyrand hat zuteil werden lassen, um die andern damit Behafteten zu trösten. Er hatte den blühenden, sommersprossigen Teint der Rothaarigen; aber seine reine Stirn, seine Augen von der Farbe graugeäderten Achats, sein hübscher Mund, die Reinheit und Grazie keuscher Jugend, die Ängstlichkeit, die er seines körperlichen Gebrechens halber empfand, trugen ihm hilfreiche Sympathien ein: man beweist gern den Schwachen Liebe. Popinot interessierte. Der kleine Popinot, wie ihn alle Welt nannte, gehörte zu einer streng religiösen Familie, in der die Tugenden aus Einsicht geübt wurden, und deren Leben bescheiden und reich an guten Taten war. So zeigte auch das von seinem Onkel, dem Richter, erzogene Kind alle jene Eigenschaften, die die Jugend so schön erscheinen lassen: keusch und liebevoll, etwas schüchtern, aber voller Eifer, sanft wie ein Lamm, aber fleißig bei der Arbeit, hingebend und mäßig, besaß er alle Tugenden eines Christen aus den ersten Zeiten der Kirche.
Als er von einem Spaziergang nach den Tuilerien reden hörte, dem ungewöhnlichsten Vorschlage, den zu solcher Stunde sein erhabener Chef machen konnte, glaubte Popinot, dass dieser mit ihm vom Heiraten reden wollte, und dachte sofort an Cäsarine, die wahre Königin der Rosen, das lebende Wahrzeichen des Hauses, in die er sich an demselben Tage, an dem er, zwei Monate vor du Tillet, bei Birotteau eingetreten war, verliebt hatte. Beim Hinaufgehen musste er stehen bleiben, so sehr schwoll ihm und so stark schlug ihm das Herz; bald kam er mit Cölestin, dem ersten Kommis Birotteaus, zurück. Anselm und sein Chef gingen nun, ohne ein Wort zu reden, nach den Tuilerien. Popinot war jetzt einundzwanzig Jahr alt, in welchem Alter sich auch Birotteau verheiratet hatte. Anselm sah daher hierin kein Hindernis für seine Heirat mit Cäsarine, obgleich das Vermögen des Parfümhändlers und die Schönheit des Mädchens der Verwirklichung so ehrgeiziger Wünsche sehr bedenklich entgegenstanden; aber die Liebe wiegt sich gern in den größten Hoffnungen und je ausschweifender sie sind, um so mehr glaubt sie an ihre Verwirklichung; je ferner daher seine Geliebte ihm zu stehen schien, desto lebhafter begehrte er sie. Glückliches Kind, das in einer Zeit der allgemeinen Gleichmacherei, wo alle dieselben Hüte tragen, noch eine Distanz zwischen einem Parfümhändler und sich, dem Nachkommen einer alten Pariser Familie, anerkennen zu müssen glaubte! Aber trotz aller Zweifel, aller Unruhe war er glücklich; er saß ja alle Tage bei Tisch neben Cäsarine! In der Art, wie er sich den Geschäften des Hauses widmete, bewies er einen Eifer und eine Begeisterung, die der Arbeit jede Bitterkeit nahmen; da er alles für Cäsarine tat, war er niemals müde. Bei einem Jüngling von zwanzig Jahren lebt die Liebe von der Hingebung.
»Der wird mal ein richtiger Kaufmann, der kommt in die Höhe«, hatte Cäsar von ihm zu Frau Ragon gesagt, als er Anselms Tüchtigkeit im Fabrikgeschäft und sein Verständnis für die Finessen der Kunst rühmte und seinen Arbeitseifer beim Expedieren erwähnte, wo der Hinkende mit aufgekrempelten Ärmeln und bloßen Armen mehr Kisten packte und zunagelte als die übrigen Kommis.
Die bekannte und kundgegebene Bewerbung Alexander Crottats, des ersten Notariatsschreibers bei Roguin, das Vermögen seines Vaters, eines reichen Pächters aus der Brie, legten dem Siege des Verwaisten starke Hindernisse in den Weg; aber das waren nicht die stärksten Schwierigkeiten, die zu überwinden waren; Popinot trug tief im Herzen noch ein trauriges Geheimnis begraben, das die Entfernung zwischen Cäsarine und ihm noch vergrößerte. das Vermögen der Ragons, auf das er hätte rechnen können, war stark erschüttert; er war glücklich, zu ihrem Lebensunterhalt mit beitragen zu können, indem er ihnen sein bescheidenes Gehalt überließ. Und trotz alledem glaubte er an seinen Erfolg! Mehrmals hatte er Blicke aufgefangen, die Cäsarine mit offenbarem Stolz auf ihn geworfen hatte: in der Tiefe ihrer blauen Augen hatte er eine heimliche Regung voll süßer Hoffnungen lesen zu können gemeint. So schritt er dahin, erregt von seiner augenblicklichen Hoffnung, zitternd, schweigsam und tief bewegt, gleich all den Jünglingen in ähnlicher Lage, für die das Leben noch im Aufblühen ist.
»Popinot,« sagte endlich der Kaufmann zu ihm, »geht es deiner Tante gut?«
»Jawohl, Herr Birotteau.«
»Sie erscheint mir aber seit einiger Zeit so sorgenvoll, gibt es etwas, das sie bedrückt? Höre, mein Sohn, du brauchst vor mir nicht den Geheimnisvollen zu spielen, ich gehöre doch gewissermaßen