von Menschen und nicht von Engeln bewohnt; wir sind nicht vollkommen.«
»Sie haben recht,« antwortete Benassis. »Ich für meine Person habe die Fähigkeit, Fehler zu begehen, tüchtig missbraucht... Müssen wir aber nicht nach Vollendung streben? Ist nicht Tugend für die Seele ein schönes Ideal, das man unaufhörlich wie ein himmlisches Vorbild betrachten muss?«
»Amen,« sagte der Offizier. »Man gibt Ihnen zu, der tugendhafte Mensch ist etwas Schönes; räumen Sie aber auch ein, dass die Tugend eine Gottheit ist, die sich in allen Ehren ein klein bisschen Konversation gestatten darf.«
»Ah, mein Herr,« sagte der Arzt mit einer Art bitterer Melancholie lächelnd, »Sie besitzen die Nachsicht derer, die in Frieden mit sich leben, während ich streng wie ein Mensch bin, der die Flecke, die aus seinem Leben zu entfernen sind, deutlich sieht ...«
Die beiden Reiter waren bei einer am Rande des Wildbachs gelegenen Hütte angelangt. Der Arzt ging hinein. Genestas blieb an der Türschwelle und betrachtete nacheinander das Schauspiel, das die frische Landschaft bot, und das Innere der Hütte, in der sich ein Mann im Bette befand. Nachdem er seinen Kranken untersucht hatte, rief Benassis plötzlich:
»Ich habe nicht nötig, hierherzukommen, meine gute Frau, wenn Ihr nicht tut, was ich sage. Ihr habt Eurem Manne Brot gegeben. Wollt Ihr ihn denn töten? Himmel Schimmel! Wenn Ihr ihn jetzt etwas anderes als sein Queckenwasser zu sich nehmen lasst, setze ich keinen Fuß mehr über Eure Schwelle, und Ihr könnt einen Arzt suchen, wo Ihr wollt.«
»Aber, mein lieber Monsieur Benassis, der arme Alte schrie vor Hunger, und wenn ein Mensch seit vierzehn Tagen nichts in den Leib gekriegt hat ...«
»Ei was! Wollt Ihr auf mich hören? Wenn Ihr Euren Mann einen einzigen Mund voll Brot essen lasst, ehe ich ihm das Essen erlaube, werdet Ihr ihn töten. Hört Ihr?«
»Man wird ihm alles entziehen, mein lieber Monsieur... Geht's besser?« fragte sie, dem Arzte folgend.
»Aber nein; Ihr habt seinen Zustand dadurch, dass Ihr ihm zu essen gabt, verschlimmert. Kann ich Euch denn nicht überzeugen, Halsstarrige, die Ihr seid, dass man Leute, die Diät halten müssen, nichts essen lassen darf? – Die Bauern sind unverbesserlich!« fügte Benassis, sich an den Offizier wendend, hinzu. »Wenn ein Kranker einige Tage über nichts gegessen hat, meinen sie, er muss sterben und füllen Suppe und Wein in ihn hinein. Dies unglückliche Weib hier hat ihren Mann beinahe umgebracht!«
»Meinen Mann mit einem armseligen, in Wein getauchten kleinen Zwieback umbringen!«
»Gewiss, liebe Frau. Ich bin erstaunt, ihn noch am Leben zu finden nach dem eingetauchten Zwieback, den Ihr ihm gereicht habt! Vergesst nicht, genau zu tun, was ich Euch gesagt habe!«
»Oh, mein lieber Herr, lieber will ich selber sterben, als dagegen handeln.«
»Nun, das werd' ich ja sehen. Morgen Abend will ich ihn zur Ader lassen. – Gehen wir zu Fuß den Bach entlang,« sagte Benassis zu Genestas, »von hier nach dem Hause, wohin ich mich begeben muss, gibt's keinen Weg für die Pferde. Der kleine Junge der Leute hier wird auf unsere Tiere aufpassen. – Bewundern Sie unser schönes Tal ein wenig,« fuhr er fort, »ist's nicht ein englischer Garten? Wir kommen jetzt zu einem Arbeiter, der untröstlich ist über den Tod eines seiner Kinder. Sein noch junger Ältester hat während der letzten Ernte wie ein Mann arbeiten wollen, da hat das arme Kind seine Kräfte überspannt und ist Ende Herbst an Entkräftung gestorben. Es ist dies das erstemal, dass ich einem so stark entwickelten väterlichen Gefühle begegne. Gewöhnlich bedauern die Bauern in ihren gestorbenen Kindern den Verlust einer nützlichen Sache, die einen Teil ihres Vermögens vorstellt; das Bedauern wächst im Verhältnis zu dem Alter. Wenn ein Kind einmal erwachsen ist, wird's ein Kapital für seinen Vater. Dieser arme Mann aber liebte seinen Sohn wirklich. ›Nichts tröstet mich über den Verlust,‹ hat er mir eines Tages gesagt, als ich ihn in einer Wiese aufrecht und unbeweglich stehen sah, seine Arbeit vergessend und sich auf seine Sense stützend, in der Hand seinen Schleifstein haltend, den er genommen hatte, um sich seiner zu bedienen, und dessen er sich doch nicht bediente. Nie hat er wieder von seinem Schmerz zu mir gesprochen, aber er ist schweigsam und schwermütig geworden. Heute ist eines seiner kleinen Mädchen krank ...«
Indem sie so plauderten, waren Benassis und sein Gast bei einem kleinen Hause angekommen, das auf dem Wege zu einer Lohmühle gelegen war. Dort unter einer Weide sahen sie einen etwa vierzigjährigen Mann stehen, der mit Knoblauch eingeriebenes Brot aß.
»Nun, Gasnier, geht's der Kleinen besser?«
»Ich weiß es nicht, Herr,« sagte er mit düsterer Miene, »sehen Sie sie sich an, meine Frau ist bei ihr. Trotz Ihrer Fürsorge habe ich rechte Angst, der Tod möchte bei mir eingekehrt sein, um mir alles fortzuholen.«
»Der Tod nimmt bei niemand Wohnung, Gasnier, er hat keine Zeit. Verliert nur den Mut nicht.«
Benassis ging, vom Vater gefolgt, ins Haus. Eine halbe Stunde später kam er in Begleitung der Mutter heraus und sagte zu ihr:
»Beunruhigt Euch nicht; tut, was ich Euch gesagt habe, sie ist gerettet ... Wenn Sie all das langweilt,« sagte der Arzt dann, das Pferd wieder besteigend, zu dem Offizier, »könnte ich Sie auf den Weg nach dem Flecken bringen und Sie würden dorthin zurückkehren.«
»Nein, meiner Treu, ich langweile mich nicht!«
»Aber Sie werden überall Hütten sehen, die einander ähnlich sind; nichts ist scheinbar monotoner als das Land.«
»Reiten wir,« sagte der Offizier.
Einige Stunden lang eilten sie so durchs Land, durchquerten den Bezirk in seiner Breite und kamen gegen Abend in den Teil zurück, der dem Flecken benachbart war.
»Jetzt muss ich da unten hingehen,« sagte der Arzt zu Genestas, ihn auf einen Punkt hinweisend, wo sich Ulmen erhoben. »Die Bäume sind vielleicht zweihundert Jahre alt,« fügte er hinzu. »Dort wohnt jene Frau, um derentwillen gestern Abend ein Bursche im Augenblicke des Essens kam und mir sagte, dass sie weiß geworden sei.«
»War's gefährlich?«
»Nein,« sagte Benassis, »eine Wirkung der Schwangerschaft. Die Frau ist in ihrem letzten Monate. Während dieser Periode bekommen manche Frauen häufig Krämpfe. Vorsichtshalber muss ich immerhin nachsehen, ob nichts Beunruhigendes eingetreten ist. Ich will die Frau selber entbinden. Übrigens werd' ich Ihnen da eine unserer neuen Industrien, eine Ziegelei, zeigen. Der Weg ist schön, wollen Sie galoppieren?«
»Wird Ihr Tier mir folgen?« fragte Genestas, seinem Pferde »Hott, Neptun!« zurufend.
In einem Nu wurde der Offizier hundert Schritte weit fortgetragen und verschwand in einer Staubwolke; trotz der Schnelligkeit seines Pferdes aber hörte er den Arzt immer an seiner Seite. Benassis sagte ein Wort zu seinem Pferde und überholte den Major, der ihn erst bei der Ziegelei in dem Augenblicke einholte, wo der Arzt sein Pferd ruhig an dem Pfosten eines Reisigzauns anband.
»dass Sie der Teufel hole!« rief Genestas, indem, er das Pferd ansah, das weder schwitzte noch schnaufte. »Was haben Sie denn da für ein Tier?«
»Ach!« antwortete lachend der Arzt, »Sie haben's für einen alten Klepper gehalten. Für den Moment würde uns die Geschichte dieses schönen Tieres zuviel Zeit fortnehmen; möge es Ihnen genügen, zu wissen, dass Rustan ein veritabler, vom Atlas gekommener Berber ist. Ein Berberross wiegt einen Araber auf. Meines erklimmt die Berge im schnellen Galopp, ohne dass sein Fell feucht wird, und trabt sicheren Fußes Abgründe entlang. Es ist übrigens ein auf hübsche Weise gewonnenes Geschenk. Ein Vater glaubte mir so das Leben seiner Tochter zu bezahlen, einer der reichsten Erbinnen Europas, die ich sterbend auf dem Wege nach Savoyen angetroffen habe. Wenn ich Ihnen sagen wollte, wie ich die junge Person geheilt habe, würden Sie mich für einen Quacksalber halten ... Ei, ei, ich höre Pferdeschellen und Wagenlärm auf dem Pfade: wir wollen schauen, ob es zufällig Vigneau selber ist, und sehen Sie sich den Mann gut an!«
Bald bemerkte der Offizier vier schwere Pferde, aufgeschirrt wie jene, welche die wohlhabendsten Bauern der Brie besitzen. Die wollenen Quasten, die Schellen, das Lederzeug waren von einer gewissen großartigen Sauberkeit.