Astronaut durch das Universum des Wassers und sinkt langsam aus der sichtbaren in die unsichtbare Zone. Während ich schräg über Pergynti auf den Wurzeln einer Fichte knie, versuche ich, sowohl seine Aktionen wie auch die Bewegungen draußen am Gehweg im Auge zu behalten.
Die Stelle, an der wir uns befinden, liegt ungefähr einen Kilometer entfernt von der Langenthaler Stadtgrenze. Hier schlängelt sich der Fluss zwischen Feldern und dem Rand eines Waldes Richtung Aare. Bei meinen Erkundungsgängen habe ich diesen Ort zu unserem ersten Angriffspunkt erkoren. Die knietiefe Kehre ist fischereilich vielversprechend und liegt zumindest so weit vom Gehweg entfernt, dass die Spaziergänger, Jogger und Hundeausführer nicht ohne weiteres auf Gestalten aufmerksam werden, die im Schatten der Bäume am Ufer kauern.
«Biss!», ruft Pergynti und zieht gleichermaßen hektisch wie umsichtig an der dünnen Nylonschnur. Es ist nicht leicht, die abfedernde Funktion einer Fischerstange mit der vergleichsweise kurzen und viel weniger reaktionsschnellen Aktion einer menschlichen Hand zu kompensieren. Besonders bei großen Fischen ist die Chance hoch, dass sie durch einen spontanen, heftigen Ruck vom Haken loskommen.
«Die ist gar nicht so klein», kommentiert Pergynti das noch unsichtbare Gewicht, das in einigen Metern Entfernung panisch über den Sandboden pflügt. «Mindestens Speise!»
Speise, unsere Abkürzung für Speisefischgröße. Ein Tier mit einer Länge von mindestens dreißig Zentimetern. Vor gut fünfundzwanzig Jahren, als wir beide noch in Linz studierten, hatten wir gemeinsam ein Jahr lang eine Fischzucht gepachtet. Von deren Besitzer, einem grobschrotigen Wicht, der, wenn er überhaupt sprach, nur mit Einzelworten oder Nennformgruppen operierte, stammt dieser Begriff. Mit Speise markierte er das endlich vertilgbare Ziel aller fischzüchterischen Bemühungen.
«Wörff?», kläfft ein Hund, der plötzlich neben mir steht. Er ist zu überrascht, um richtig zu bellen, das sieht man an seinem Blick. Hier hinter den Bäumen hat er maximal ein ängstliches Karnickel erwartet. Aber jetzt, mit einem Schlag, steht er vor zwei ausgewachsenen Feuerkobolden, deren Aura in blauen Flammen steht.
«Braver Hund», lobe ich ihn, während Pergynti noch immer damit beschäftigt ist, den Fisch zu drillen. Der Hund sieht nicht wirklich gefährlich aus, aber aus seinem Verhalten spricht der ehrliche Wille, sich hier und jetzt mit der Situation grundlegend vertraut zu machen und, wenn möglich, konstruktive Beiträge zu leisten. Mit seinem um Verständnis und Sachlichkeit bemühten Blick kommt er mir vor wie ein junger Lehrling, der zum ersten Mal im neuen Betrieb erscheint und noch nicht recht einordnen kann, was die beiden älteren Angestellten da tun. Aber er ist mit jeder Faser seines Herzens bereit, seinen Hund zu stellen und mitzuwirken, auch wenn das vorerst nur bedeutet, dass er hier stehenbleibt, mit dem Schwanz wedelt und herzhaft hechelt.
«Brüno!», ruft sein Frauchen von draußen vorwurfsvoll in das Uferdickicht. Ihre Stimme hat ungefähr dreißig Meter Luftlinie zurückgelegt. Wenn überhaupt. Pergynti und ich waren schon dutzende Male in solchen und schlimmeren Situationen. Wirklich gewöhnt habe ich mich nie daran.
«Es ist eine Äsche!», zischt Pergynti voller Entzücken, weil er den Fisch mittlerweile auf wenige Meter an sich herangeführt hat.
«Brüno!», tönt es noch näher als beim ersten Mal.
«Dein Frauchen ruft», flüstere ich und nicke Brüno aufmunternd zu, mit einem verbissenen Grinsen, das er, wenn er nur halbwegs bei Birne ist, als Startschuss für einen möglichst beschleunigten Abgang interpretieren könnte. Brüno, soviel ist spürbar, gerät tatsächlich in einen moralischen Konflikt. Draußen vor der dürren Hecke bewegt sich die Silhouette seiner ahnungslosen Ernährerin auf uns zu, aber hier drinnen am Fluss ist es auch ganz nett. Da befinden sich seine beiden neuen Freunde bei ihrer hochinteressanten Tätigkeit.
«Gleich hab ich sie», mümmelt Pergynti.
Viel zu lange, denke ich. Bis er den Fisch heranführt, mit der Hand fixiert, abschlägt, vom Haken befreit, irgendwo am Ufer versteckt und das Handzeug verstaut, kann Brünos Besitzerin nicht nur ein Foto von uns machen, sondern eine Staffelei aufstellen und uns mit Ölfarben verewigen.
Ich schnappe mir einen in Armgriffweite liegenden Ast, mit dem ich Brüno winke.
«Da schau, Brüno», wispere ich, «was für ein feines Stöckchen. Sieht aus wie eine Salami. Und wie gut und weit die fliegen kann, oho, oho!»
Von der Fichte weg trabe ich am Ufer entlang flussabwärts. Hoffentlich erkennt Brüno diese Einladung als Chance auch sich und seinen dynamischen Hundekörper fortzubewegen. Ungefähr zweihundert Meter vom Ausgangspunkt entfernt, trete ich aus dem Wald auf den Gehweg hinaus und nestle dezent an meiner Jacke. Aufmerksame Wanderwegbenutzer könnten aus dieser Geste lesen, dass ich einem natürlichen Bedürfnis folgend im Wald verschwunden war und jetzt meinen Spaziergang fortzusetzen gedenke. Als ich es endlich wage, meinen Blick zu heben und dorthin zu lenken, wo Brüno im Wäldchen Richtung Fluss verschwunden war, sehe ich, dass er mitten am Gehweg vor seinem Frauchen sitzt und eine pädagogische Nachschulung erhält. Was sie sagt, kann ich nicht verstehen, aber an der nachdrücklichen Art und Weise, wie sie es ihm mit erhobenem Zeigfinger eintrichtert, wird mir klar, dass es sich erstens um ernste Worte handelt und dass er zweitens eine durchaus harsche Verhaltensanweisung erhält.
«Ja, böser Brüno», denke ich zustimmend, «horch genau zu und überleg dir in Zukunft, wen du ankläffst und wie lang du Maulaffen feilhältst, wenn andere tragische Figuren mit heruntergelassener Hose vor dir stehen.»
Während Brüno und sein Frauchen sich wieder in Bewegung setzen, zischt ein junger Mann mit dem Rad vorbei. Der macht mir keine Sorgen. Von Radfahrern geht wenig Gefahr aus. Sie sind zu schnell, zu verbissen, zu fokussiert. Vom Velo aus verdünnt sich die Wirklichkeit zur Kontur einer endlosen Schlange. Nur die Fußgängerwahrheit bietet genug Weite und Gegenwart, um auch ganz besonders heimlichen Kriechern wie Pergynti und mir auf die Spur zu kommen.
Brüno und sein Frauchen marschieren in meine Richtung. Ich gehe ihnen voraus, wobei ich meine Schritte langsam und unauffällig beschleunige. Nach ein paar hundert Metern kommt eine kleine Brücke, die ich überquere, bevor ich auf der anderen Flussseite in den Wald eintrete. Dort bewege ich mich auf einem Forstweg wieder flussaufwärts, zurück ins Einsatzgebiet.
Nachdem ich die Höhe meines Ausgangspunktes erreicht habe, betrete ich eine Fichtenmonokultur. Aus dem Halbschatten, verborgen hinter den Baumstämmen, spähe ich über den Fluss und beobachte Pergynti. In seiner Fokussiertheit bemerkt er nicht, wie ich seine Handgriffe betrachte, seine ungebrochene Emsigkeit, seinen unbeugsamen Willen, diesem Moment alles abzutrotzen, ihn bis auf den letzten Tropfen zu melken.
Im Gegensatz zu mir hat er im Lauf der heutigen Aktion so gut wie kein Adrenalin verbraucht. Die drei Fische, die Pergynti bis jetzt gefangen hat, einer Speise, die beiden anderen deutlich kleiner, reichen für ihn und mich als Abendessen. Oder für Jesus als Basis für ein kleines Wunder. Sie reichen aber mitnichten für den Wolf in Pergynti, der noch unbedingt sein Rudel in Zürich versorgen möchte. Dazu gehören Irina, Pergyntis Frau, und Eos, seine jüngste Tochter. Im Gegensatz zu den beiden erwachsenen Töchtern, die in Österreich leben, geht Eos noch zur Schule. Sie hat viel von Pergyntis Klugheit geerbt, braucht aber dennoch ständig Nachhilfelehrer, die ihr dabei helfen, im Wahnsinn der besten Zürcher Mittelschule am Ball zu bleiben. Bei unserem letzten Gespräch hat Irina die teilweise unkindlichen Anforderungen des schweizerischen Schulbetriebs ausführlich kritisiert, auch um mir zu erklären, warum einer von Eos’ Mitschülern Selbstmord begangen hat. Im Alter von dreizehn Jahren. Eos selbst sei in dieser Hinsicht nicht gefährdet, dafür wäre ihr psychisches Korsett zu stabil. Aber, würden die Nachhilfelehrer nicht ständig mit ihr lernen, dann müsste Eos diese Eliteschule zweifellos aufgeben. Im Gegensatz zu seinen Kindern kann Pergynti mit Druck umgehen. Sonst wäre er nie an die Spitze der wissenschaftlichen Rankings vorgestoßen. Das inkludierte vierzehnstündige Arbeitstage sechs Mal in der Woche nebst Familiensonntagen, die er tapfer durchlächelte, indem er dem kindlichen Um-ihn-herum-Gehopse gutmütige Blicke aus Augen zu schenken versuchte, die sich vor lauter Müdigkeit zu Schlitzen verengten. Gelesen hat er, wenn überhaupt, nur im Flugzeug. Ab und zu ein paar Krimis, bevor er im Sitzen eingeschlafen ist.
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