Ann Druyan

Unser Kosmos. Andere Welten.


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ist, da sind sich alle Legenden und selbst die Historiker einig.

      Nach einigen Jahren sind alle anderen Thronanwärter tot. Seltsamerweise richtet sich Ashokas Wut nun gegen die vielen Obstbäume, die den Palast umgeben. Er befiehlt, sie alle zu fällen. Als sich die Minister dagegen sträuben und auf weitere Beratung drängen, bekommt Ashoka einen seiner berühmten Wutanfälle. »Gut!«, brüllt er die verängstigten Minister an, »lasst uns stattdessen eure Köpfe abschneiden.« Die Wächter zerren sie zur Enthauptung hinaus. Doch das ist erst der Anfang.

      Ashoka lässt sich einen noch prächtigeren Palast mit fünf riesigen Flügeln bauen. Als dieser fertig ist, lädt er die prominentesten Bürger seines Reiches ein. Zum Imperium gehört nun, außer der Südspitze und zwei kleinen Flecken an der Ostküste, der gesamte Subkontinent. Das Entzücken und die Erregung über die eigene Wichtigkeit, die die Eingeladenen überkommt, sind kaum vorstellbar. Welche Ehrfurcht muss sie bei der Pracht des neuen Palastes ergreifen, welch ein Privileg, zu den ersten Besuchern zu gehören.

      

      Dieses tibetisch-buddhistische Gemälde zeigt Ashoka nach seiner Bekehrung. Seine Gesten und Kleidung sind vom Buddha beeinflusst. Da er so viel Hass auslöste, wurden in Indien alle zeitgenössischen Darstellungen von Ashoka zerstört.

      Im großen zentralen Lichthof wird jeder Gast von einem Gastgeber begrüßt, der ihn in einen der fünf Flügel führt. Erst als keine Aussicht auf Entkommen mehr besteht, erfahren die Geladenen, dass jeder Flügel einer der – aus Ashokas Sicht – fünf qualvollsten Todesarten geweiht ist. Als sich das mit der Zeit herumspricht, erhält der Palast den Namen Ashokas Hölle. Ashoka beseitigt so alle potenziellen Rivalen und hinterlässt einen unauslöschlichen Eindruck im Volk. Seine Bosheit kennt keine Grenzen.

      Nur das Volk von Kalinga weiß davon nichts. Die blühende Region an der Nordostküste Indiens hat keinen König. Sie ist ein offenes, kulturelles Zentrum und vermutlich gleicht sie vor dem Hintergrund ihrer Zeit am ehesten einer demokratischen Gesellschaft. Kalinga hat einen freien Handelshafen. An einer Unterjochung durch einen despotischen Sadisten besteht kein Bedarf.

      Bis jetzt entging Kalinga einer Einverleibung in Ashokas Reich. Doch im achten Jahr seiner Herrschaft macht Ashoka Ernst. Die Angegriffenen wissen, dass man mit einem Verrückten keinen Frieden schließen kann. Der mutige Widerstand reizt Ashoka zu abscheulichsten Gräueltaten.

      Ashoka belagert Kalinga mit seiner Armee ein Jahr lang, bevor es ihm gelingt, die Wälle der ausgehungerten und geschwächten Stadt zu stürmen. Es folgt ein brutaler Kampf Mann gegen Mann. Ashokas Männer stecken die Häuser in Brand, ermorden Wehrlose und verüben jede erdenkliche Art von Barbarei. Am Ende sind 100 000 Bürger und Soldaten tot. 150 000 überlebende Kalinga werden deportiert, um eine geschlossene, nach Unabhängigkeit strebende Gruppe in Ashokas Reich zu vermeiden.

      Nun genießt Ashoka seinen Triumph: Gemächlich spaziert er über das Schlachtfeld, auf dem so viele Leichen liegen, dass er und seine Wachen kaum einen Fuß vor den anderen setzen können. Tote, so weit das Auge reicht.

      Aus der Ferne kommt eine zerlumpte Gestalt auf den Sieger zu. Angespannt greifen Ashokas Generäle nach ihren Schwertern. Als der Fremde sich nähert, sehen sie, dass er etwas Kleines in seinen Armen hält. Der Mann scheint seltsam furchtlos zu sein, nicht im Geringsten eingeschüchtert vom Despoten. Die Wachen halten sich bereit, um den Mann zu töten, aber Ashoka befiehlt ihnen, innezuhalten. Der Mut des Mannes erregt seine Neugier, und der Gewaltherrscher weiß, dass von diesem dürren Bettler keine Bedrohung ausgeht. Als dieser vor ihm steht, zeigt er Ashoka, was er in seinen Armen trägt – den leblosen Körper eines Babys, ein Opfer von Ashokas Triumph. Der Bettler hebt das tote Kind dicht vor Ashoka, sieht dem Mörder direkt in die Augen und sagt: »O König, du, der du so mächtig bist, kannst nach Belieben Hunderttausenden das Leben nehmen. Zeig mir, wie mächtig du wirklich bist – gib nur ein Leben zurück, diesem toten Kind.« Ashoka schaut auf die winzige Leiche und die ganze Freude über seinen Sieg ist wie weggeblasen. Der Rausch der Macht, die wie eine Droge für ihn ist, verflüchtigt sich.

      Wer war dieser Bettler, der es wagte, Ashoka mit seinen Verbrechen zu konfrontieren? Wir wissen nur, dass er ein Anhänger des Buddha war, eines damals kaum bekannten Philosophen, der 200 Jahre zuvor gelebt hatte. Der Buddha predigte Gewaltlosigkeit, Bewusstheit und Erbarmen. Seine Anhänger verzichten auf Besitz, ziehen umher und verbreiten die Lehren des Buddha durch ihr Beispiel. Der Bettler auf dem Schlachtfeld soll einer von ihnen gewesen sein. Mit seinem Mut und seiner Weisheit dringt er zum Herzen dieses herzlosen Mannes vor.

      Ashoka starrt auf das Leichenfeld, Abscheu und Reue erfassen ihn. Am Ort seines brutalsten Verbrechens lässt er eine Säule errichten, eine von vielen, an deren Spitze vier Löwen in die vier Himmelsrichtungen blicken. In Brahmi-Schrift ist eines der ersten Edikte Ashokas eingraviert: »Alle sind meine Kinder. Ich wünsche mir für meine Kinder Wohlergehen und Glück, und das wünsche ich mir für alle.«

      

      Um seine revolutionären Ideen in seinem Riesenreich zu verbreiten, ließ Ashoka seine Lehren in Steine und Säulen meißeln. Etwa 150 davon wurden gefunden, wie dieses Stück mit einem Edikt, das in der wichtigen altindischen Schrift Brahmi geschrieben ist.

      In seinem 13. Edikt schreibt er über sein schlechtes Gewissen: »Direkt nach der Annexion Kalingas begann Seiner Heiligen Majestät eifriger Schutz des Gesetzes der Frömmigkeit, seine Liebe zu diesem Gesetz und der Verankerung des Gesetzes. Daher wuchs die Reue Seiner Heiligen Majestät über die Eroberung der Kalinga, da die Eroberung eines Landes Gemetzel, Tod und Verschleppung der Menschen mit sich bringt. Das ist für Seine Heilige Majestät Grund für tiefste Reue und Bedauern.«

      Aber Ashoka erfüllt nicht nur Reue für seine vielen Verbrechen. Ein neuer Anführer kommt zum Vorschein, einer, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat.

      

      Ashoka schließt Friedensverträge mit den kleinen Nachbarländern, die er zuvor bedroht hatte. Er regiert Indien weitere 30 Jahre und nutzt diese Zeit, um Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und sogar Hospize zu bauen. Er führt die Bildung für Frauen ein und öffnet das Mönchswesen für sie. Es gibt eine kostenlose Gesundheitsfürsorge mit Arzneien für alle. Ashoka lässt für Dörfer und Städte Brunnen graben, Bäume pflanzen und entlang den Straßen Unterstände bauen, damit die Reisenden Schutz finden und Tiere Schatten bekommen. Er ordnet die Gleichbehandlung aller Religionen an, außerdem, die Urteile von zu Unrecht Eingesperrten oder streng Bestraften zu überprüfen. Er schafft die Todesstrafe ab.

      Ashokas Empathie umfasst bald alles Lebendige. Er verbietet Rituale mit Tieropfern und jeglichen Jagdsport. Er gründet in ganz Indien Tierkliniken und rät seinen Untertanen, Tiere respektvoll zu behandeln. Ashoka verletzt damit nicht das Gesetz der Verwandtenselektion der Evolutionsstrategie, wonach wir vor allem um das Überleben derjenigen besorgt sein sollen, mit denen wir die meisten unserer Gene teilen. Er bezieht in die Definition, wer mit ihm verwandt ist, einfach alles ein.

      Und Ashoka hat noch eine Idee, die ihrer Zeit 1000 Jahre voraus ist. Ashoka ist nicht der Meinung, dass der Sohn des Königs unbedingt auch König werden muss. Er glaubt, dass die Nation durch die erleuchtetste Person regiert werden sollte, nicht vom Thronfolger.

      Das alles heißt nicht, dass er in seinem Leben nie mehr gewalttätig oder grausam ist. Berichten zufolge kam es gegen Ende seiner 36-jährigen Herrschaft wieder zu Gemetzeln und mörderischen Wutanfällen, wie schon in seiner Jugend. Aber die Belege deuten darauf hin, dass er seine wegweisende aufklärerische Herrschaft weiterführt.

      

      Auf den Säulen mit den Edikten Ashokas befanden sich oft vier Löwen, die auf einem Rad mit 24 Speichen standen. Dieses buddhistische Symbol ziert auch das Zentrum der Flagge des unabhängigen Indien.