sie mit gekünstelt sanfter, hoher Stimme. »Komm mal her, lieber Freund!« Dabei streifte sie, gleichsam drohend, ihre Ärmel noch höher auf.
Pierre trat heran und blickte sie durch seine Brille ohne Verlegenheit an.
»Komm nur heran, immer näher, lieber Freund. Auch bei deinem Vater bin ich die einzige gewesen, die ihm die Wahrheit sagte, als er hoch in Gunst stand; und nun fühle ich mich vor Gott verpflichtet, sie auch dir zu sagen.« Sie machte eine kleine Pause. Alle schwiegen in dem Gefühl, daß dies nur die Vorrede gewesen war, und in Erwartung dessen, was noch weiter kommen werde. »Ein nettes Bürschchen, das muß man sagen, ein nettes Bürschchen! Sein Vater liegt auf dem Sterbebett, und er amüsiert sich, indem er einen Reviervorsteher rittlings auf einen Bären setzt! Schäme dich, Verehrtester, schäme dich! Du würdest besser tun, in den Krieg zu gehen.«
Sie wandte sich von ihm weg und schob ihren Arm in den Arm des Grafen, der kaum das Lachen unterdrücken konnte. »Na also, wie ist's? Zu Tisch? Ich glaube, es ist Zeit!« sagte Marja Dmitrijewna.
Voran gingen der Graf und Marja Dmitrijewna; dann folgte die Gräfin, welche der Husarenoberst führte, ein Mann, der für die Familie von hoher Wichtigkeit war, da Nikolai mit ihm zusammen das Regiment einholen sollte; hierauf Anna Michailowna mit Schinschin. Berg hatte Wjera den Arm gereicht; die lächelnde Julja Karagina ging mit Nikolai zu Tisch. Hinter ihnen kamen in langer Reihe, die sich durch den ganzen Saal hinzog, die andern Paare, und ganz zum Schluß, einzeln gehend, die Kinder, der Hauslehrer und die Gouvernante. Die Diener gerieten in Bewegung; mit lautem Geräusch wurden die Stühle gerückt; auf der Galerie setzte die Musik ein, und die Gäste verteilten sich auf ihre Plätze. Die Töne des gräflichen Hausorchesters verstummten dann und wurden abgelöst von dem Klappern der Messer und Gabeln, dem Gespräch der Gäste und den leisen Schritten der Diener. An dem einen Ende des Tisches saß obenan die Gräfin, rechts von ihr Marja Dmitrijewna, links Anna Michailowna; dann schlossen sich daran die andern Damen. Am andern Ende saß der Graf, links von ihm der Husarenoberst, rechts Schinschin; weiterhin die übrigen Herren. An der einen Seite des langen Tisches hatte die schon erwachsene Jugend ihre Plätze erhalten: Wjera neben Berg, Pierre neben Boris; auf der andern Seite saßen die Kinder, der Hauslehrer und die Gouvernante. Der Graf blickte hinter den kristallenen Karaffen und den kristallenen Fruchtschalen hervor hin und wieder hinüber zu seiner Frau und ihrer hohen Haube mit den blauen Bändern; er goß seinen Nachbarn eifrig Wein ein, ohne sich selbst dabei zu vergessen. Die Gräfin warf ebenfalls hinter den prächtigen Ananas hervor, ohne die Pflichten der Wirtin zu vergessen, bedeutsame Blicke zu ihrem Mann hin, dessen Glatze und Gesicht, wie es ihr vorkam, durch ihre Röte immer schärfer von den grauen Haaren abstachen. An demjenigen Ende, wo die Damen saßen, war ein gleichmäßiges Geplauder im Gang; bei den Herren dagegen erschollen die Stimmen immer lauter und lauter, besonders die Stimme des Husarenobersten, welcher, immer röter werdend, so viel aß und trank, daß der Graf ihn schon den andern Gästen als Muster hinstellte. Berg sprach, zärtlich lächelnd, mit Wjera davon, daß die Liebe keine irdische, sondern eine himmlische Empfindung sei. Boris nannte seinem neuen Freund Pierre die am Tisch sitzenden Gäste und wechselte Blicke mit Natascha, die ihm gegenübersaß. Pierre redete nur wenig, betrachtete die neuen Gesichter und aß sehr viel. Von den beiden Suppen (er hatte sich für die Schildkrötensuppe entschieden) und der Fischpastete an bis zu den Haselhühnern ließ er kein einziges Gericht vorübergehen und ebenso keinen der Weine, die der Haushofmeister in sorgsam mit Servietten umwickelten Flaschen geheimnisvoll hinter der Schulter des Tischnachbarn zum Vorschein brachte, indem er dazu »Dry Madeira« oder »Ungarwein« oder »Rheinwein« murmelte. Pierre hielt das erstbeste der vier mit dem Monogramm des Grafen versehenen Kristallgläser hin, die bei jedem Gedeck standen, und trank mit Genuß; und je mehr er trank, mit um so freundlicherer Miene betrachtete er um sich her die andern Gäste. Natascha, die ihm gegenübersaß, blickte Boris so an, wie dreizehnjährige Mädchen eben einen jugendlichen Angehörigen des anderen Geschlechts anblickten, mit dem sie sich kurz vorher zum erstenmal geküßt haben und in den sie verliebt sind. Diesen selben Blick richtete sie mitunter auch auf Pierre, und unter dem Blick dieses lachlustigen, lebhaften jungen Mädchens bekam er selbst Lust zu lachen, ohne zu wissen worüber.
Nikolai saß ziemlich weit von Sonja neben Julja Karagina und unterhielt sich wieder mit ihr über irgend etwas mit demselben unwillkürlichen Lächeln. Sonja lächelte um der Etikette willen, wurde aber offenbar von arger Eifersucht gequält: sie wurde bald blaß, bald rot und strengte ihr Gehör aufs äußerste an, um etwas von dem aufzufangen, was Nikolai und Julja miteinander sprachen. Die Gouvernante blickte unruhig um sich, als ob sie sich zur Gegenwehr bereitmachte, falls jemand sich beikommen ließe, den Kindern etwas zuleide zu tun. Der deutsche Hauslehrer gab sich Mühe, die Namen der einzelnen Gerichte und Weine sowie der verschiedenen Arten von Dessert seinem Gedächtnis einzuprägen, um seinen Angehörigen in Deutschland brieflich alles recht genau schildern zu können, und fühlte sich sehr beleidigt, daß der Haushofmeister mit einer Flasche in der Serviette an ihm vorbeiging. Der Deutsche zog ein finsteres Gesicht und suchte durch seine Miene anzudeuten, es habe ihm eigentlich gar nichts daran gelegen, von diesem Wein zu bekommen; aber es war ihm ärgerlich, bei niemand ein Verständnis für seine Versicherung zu finden, daß er Wein überhaupt nicht trinke, um den Durst zu stillen, nicht aus Gierigkeit, sondern aus reiner Wißbegierde.
XIX
An demjenigen Ende des Tisches, wo die Herren saßen, wurde das Gespräch immer lebhafter. Der Oberst erzählte, daß das Manifest über die Kriegserklärung in Petersburg bereits erschienen und ein Exemplar, welches er selbst gesehen habe, heute durch einen Kurier dem Oberkommandierenden von Moskau zugestellt worden sei.
»Wozu plagt uns denn der Teufel, mit Bonaparte Krieg zu führen?« sagte Schinschin. »Er hat den Österreichern schon ihren Dünkel benommen, und ich fürchte, jetzt kommen wir an die Reihe.«
Der Oberst war ein großgewachsener, stämmiger, vollblütiger Deutscher, offenbar mit Leib und Seele Soldat und ein guter Patriot. Er fühlte sich durch Schinschins Worte verletzt.
»Warum wir das tun, mein Herr?« sagte er; man hörte seiner Aussprache des Russischen den Deutschen an. »Ganz einfach, weil unser Kaiser es will. Er hat in dem Manifest gesagt, er könne der Gefahr gegenüber, welche Rußland bedrohe, nicht gleichgültig bleiben, und durch die Rücksicht auf die Sicherheit und Würde des Reiches und auf die Heiligkeit der Bündnisse ...« (er legte auf das Wort Bündnisse einen ganz besonderen Nachdruck, als ob darin der eigentliche Kern der Sache läge. Und mit seinem unfehlbaren Gedächtnis in Dienstsachen zitierte er den einleitenden Satz des Manifests weiter) »sowie durch den das einzige und unverrückbare Ziel Seiner Majestät des Kaisers bildenden Wunsch, den Frieden Europas auf feste Fundamente zu gründen, sehe er sich heute veranlaßt, einen Teil seiner Kriegsmacht über die Grenze rücken zu lassen und neue Anstrengungen zur Erreichung dieser seiner Absicht zu machen. Sehen Sie: darum, mein Herr!« schloß er, goß zu größerer Bekräftigung ein Glas Wein hinunter und blickte den Grafen an, um diesen zu einer Beifallskundgebung zu veranlassen.
»Kennen Sie das Sprichwort: ›Bleib zu Hause, dann passiert dir nichts‹?« erwiderte Schinschin, indem er die Stirn runzelte und zugleich lächelte. »Das paßt auf uns ganz ausgezeichnet. Ich denke da an Suworow: auch dem ist es schließlich schlimm genug gegangen, und wo haben wir jetzt Heerführer, wie er einer war, frage ich Sie?« sagte er, indem er unaufhörlich vom Russischen ins Französische und vom Französischen wieder ins Russische übersprang.
»Wir müssen kämpfen bis zum letzten Blutstropfen«, erwiderte der Oberst, kräftig auf den Tisch schlagend, »und ster-r-rben für unsern Kaiser; dann wird alles gut werden. Und mit unserm eigenen Kopf urteilen, sollen wir mö-ö-öglichst wenig«, er zog das Wort möglichst unnatürlich in die Länge und wandte sich beim Ende dieses Satzes wieder zum Grafen hin. »So denken wir alten Husaren, und damit basta! Und wie denken Sie darüber, Sie junger Mann und junger Husar?« fügte er, zu Nikolai gewendet, hinzu, der, sobald er hörte, daß vom Krieg die Rede war, das Gespräch mit seiner Nachbarin abgebrochen hatte und mit leuchtenden Augen den Oberst anschaute und jedes seiner Worte verschlang.
»Ich bin vollständig derselben Ansicht wie Sie«, antwortete Nikolai. Er war blutrot geworden, drehte an seinem Teller und stellte seine vier Gläser mit so grimmiger, entschlossener