Geschmack der Freiheit (Video, Festplatten und DVD )
Wer sich Ende der 70er Jahre vom Diktat des linearen Fernsehens befreien und sich einen Videorekorder zulegte, musste sich zwischen drei sehr unterschiedlichen Anbietern entscheiden. Wie so viele andere technologische Formate begann der Siegeszug in einem Wettstreit der Systeme. Dadurch wurde die Einführung massiv erschwert, weil die Verunsicherung groß war, auf das falsche Pferd zu setzen.
Während die japanischen Unternehmen Sony mit den Betamax Rekordern und JVC mit VHS (Video Home System) an den Start gingen, kam aus Europa Video 2000. Ich hatte mich damals für ein Gerät mit dem Betamax-System entschieden, auch weil die Qualität des Bildes eindeutig besser war, und zudem waren die Kassetten von Video 2000 gefühlt so groß wie eine Schuhschachtel. Ein weiterer Grund lag für mich darin, dass die Videothek meines Fachbereichs an der Universität ebenfalls mit Betamax von Sony arbeitete. Ich konnte die dort vorhanden Videos mit nach Hause nehmen und in Ruhe die alten Filme von Frederico Fellini studieren. Natürlich kaufte ich auch unzählige Leerkassetten und bespielte sie mit Kinofilmen, die im Fernsehen liefen. Ein paar Jahre später besaß ich eine Auswahl von über hundert Werken der Filmgeschichte. Schon bald verabschiedete sich Video 2000 vom Markt. Ich bedauerte die armen Kunden, die nun nicht mehr viel mit ihren Rekordern anfangen konnten.
Aber Sony vergab für die Produktion keine Lizenzen an andere Firmen. Es war ein geschickter Schachzug von JVC, dass fremde Unternehmen Geräte herstellen durften und zum Teil um einiges billiger anboten als der Erfinder. Dies war einer der Gründe, warum Betamax sich in dem ungefähr fünf Jahre dauernden Kampf um die Vorherrschaft gegen VHS nicht durchsetzte. Ab ca. 1985 war das System von JVC für die nächsten zwei Jahrzehnte Standard. So besaß ich ein veraltetes Gerät und viele bespielte Kassetten, während die Welt um mich herum Filme aus den Videotheken auslieh, mit denen mein Rekorder nichts anfangen konnte.
Videorekorder hatten zwei Funktionen: das Aufnehmen und zeitversetzte Anschauen von Sendungen des linearen Fernsehens und das Abspielen von gekauften Kassetten mit Filmen oder Serien. Durch die neue Technologie besaß der Zuschauer zum ersten Mal in der Geschichte die Möglichkeit, sich vom Programm der Sender zeitlich unabhängig zu machen. Insofern ist sie ein Vorläufer der heutigen Mediatheken. Allerdings gab es viele Einschränkungen und die Handhabung war nicht gerade einfach. Die Programmierung der Aufnahme war kompliziert, und im Allgemeinen war auf den Kassetten auch nur Platz für einen Film. Wer also während seines Urlaubs mehrere Sendungen aufnehmen wollte, der konnte nur eine oder maximal zwei davon auswählen.
Zwar war es möglich, aufgenommenes Material dauerhaft zu archivieren – Video hat nicht lange genug überlebt, um festzustellen, wann sie ihre Daten verloren hätten – und es ähnlich wie Bücher zu sammeln, doch die Kassetten waren nicht billig und nahmen viel Platz ein.
Eine weitere Neuerung lag darin, dass die Zuschauer ab Anfang der 80er Jahre Spielfilme auf Videokassetten kaufen konnten. Von dem neuen System profitierten auch die Filmemacher von Kinofilmen, denn während eine Zweitauswertung durch das Fernsehen meist erst nach zwei Jahren rechtlich möglich war, erschienen Filme auf Video schon nach einem halben Jahr und wurden gekauft oder gemietet und brachten so Geld in die Kasse. Für die Filmproduktionen bedeutete dieser Markt eine zusätzliche Einnahmequelle. Oft hatte das Publikum sogar zweimal dafür bezahlt. Zum ersten Mal an der Kinokasse und später erneut für das Video.
Zudem entstand eine neue Form der Verwertung. »Straight to video« hieß sie und besagte, dass diese Werke gar nicht mehr im Kino liefen, sondern gleich auf Videokassette zum Verkauf oder in der Videothek angeboten wurden. Oftmals ließ die künstlerische Qualität der Produktionen erahnten, dass sich die Ausgaben für Werbung, Herstellung der Filmkopien und Vertriebskosten für die Verleiher und Produzenten nicht rentierten.
Manchmal wurde aber von Anbeginn bewusst auf diese Art der Auswertung gesetzt, da es sich um spezifische Genres handelte, die nur ein kleines Publikumssegment ansprachen. Es war insbesondere bei Horrorfilmen (und auch Sexfilmen) ein profitabler Weg, um auf spezielle Zielgruppen einzugehen. Durch Video wurde also ein vollkommen neuer Markt geschaffen, der bis zu diesem Zeitpunkt nicht existiert hatte.
Und es entstand ein eigenes Genre, das es vorher noch nicht gegeben hatte. Anleitungsvideos waren ein sehr lukratives Geschäft und zu den bekanntesten Vertretern gehörten die Yogavideos von Jane Fonda, die vor allem Frauen dazu brachten vor dem Fernsehen mehrmals in der Woche Übungen mithilfe der prominenten amerikanischen Schauspielerin durchzuführen.
Da der Kauf von Kassetten allerdings teuer war, zogen die meisten Nutzer vor, sie zu leihen. Es war der Beginn der zahlreichen Videostores, die nun aus dem Boden sprossen. Die Zuschauer konnten hier für einen günstigen Preis Videos zu einer Tagesrate ausleihen. Wer den Film weitere Tage behalten wollte, zahlte eine Verspätungsgebühr.
Videotheken hielten mehrere Tausend Kassetten bereit und boten den Kunden eine bisher nicht gekannte Auswahl an Abendunterhaltung. Der Zuspruch zu dieser neu gewonnenen Freiheit bildete sich in den immer weiter steigenden Zahlen der Videotheken ab. Sie waren tatsächlich so etwas wie die Vorreiter der heutigen Streamingdienste. Die Bezeichnung für diese Plattformen »Video on Demand« war letztendlich schon damals mit den Läden zutreffend, die hunderte von Filmen bereithielten.
DVDs kamen wie der Videorekorder in einem Krieg der Systeme auf den Markt. Unterschiedliche Hersteller hatte an der Technik gearbeitet und waren zu verschiedenartigen Lösungen gekommen. Wieder standen in den Regalen der Elektronikhändler Geräte, die mehr oder weniger das Gleiche konnten. Aber wofür sollte sich der Kunde entscheiden? Auch hier erschwerte der Kampf um die Markthoheit die Einführung massiv. Es war dann der Druck der Filmindustrie, die die Kosten für mehrere Formate scheute, die die konkurrierenden Konzerne zwangen, sich 1995 auf einen gemeinsamen Standard zu einigen.
Die ersten Geräte dienten im Gegensatz zur Videokassette jedoch nur zum Abspielen und nicht zum Aufnehmen von Fernsehsendungen. Da die DVDs aber äußerlich ein echter Zugewinn waren (schicke silberne Scheiben in schlanker Verpackung), wuchs der Markt rasant. Die Anwender, die bereits die Freiheit des heimischen Videoabspiels kennengelernt hatten, nutzten zunehmend die Möglichkeit, Filme zu besitzen und sie im Bücherregal ständig zur Verfügung zu haben.
Es waren nicht nur Einzelstücke, sondern auch Serien, die nun über den Ladentisch gingen. VHS war zwar dafür geeignet, Kinofilme für den Fernseher anzubieten, aber es war nicht ideal eine Serie zu vertreiben. Je nach Anzahl der Folgen waren mehr als drei Kassetten notwendig, um eine gesamte Staffel unterzubringen. Die Größe machte es schlicht unbequem, diese als Box zu verkaufen.
Erst die DVDs boten die Gelegenheit, die Staffel einer Serie in einer Verpackung aufzunehmen. Dass sich die Hersteller schon bald in der künstlerischen Gestaltung ihrer Boxen überboten, war ein weiterer Aspekt. Die gesamte amerikanische Serie Six Feet Under, die über ein Beerdigungsinstitut erzählt, befindet sich in einem Kasten, der die Form eines Grabsteins hat. Die sieben Staffeln der Science-Fiction-Produktion Star Trek Voyager wiederum wurde in einem funktionsfähigen Mini-Kühlschrank verkauft.
Mit der Einführung der DVD veränderte sich ein weiteres Mal das Sehverhalten. Das »Binge Watching« (‚Serienmarathon’) nahm hier seinen Anfang. Wer eine komplette Staffel aus der Videothek geliehen hatte, wollte die Folgen möglichst schnell hintereinander schauen, um nicht horrende Summen für die Miete auszugeben. Aber auch wer kaufte, konnte dem Suchtfaktor der Serie kaum widerstehen.
Entscheidend war in der Entwicklung, dass durch Video und DVD die Zuschauer zum ersten Mal selbst bestimmten, was auf ihren Bildschirmen lief. Das Fernsehgerät wurde befreit vom Diktat der linearen Sender.
Die Nutzer genossen, dass sie die Zeit bestimmen konnten, wann und wie lange sie den Film oder die Serie anschauen wollten. Dies galt auch für jene, die über einen Festplattenrekorder verfügten, der es erlaubte das aufgenommene Fernsehprogramm zu einem ihnen passenden Moment anzuschauen. Allerdings setzten sie eine vorherige Ausstrahlung im TV voraus sowie die aktive Programmierung. Die Geräte hatten sich überraschenderweise nicht wirklich durchgesetzt. Was sicher auch daran lag, dass sie in der Bedienung äußerst kompliziert waren und es des Öfteren vorkam, dass die Aufzeichnung kurz vor Ende abgebrochen wurde. So habe ich nie erfahren, ob E.T. in sein Raumschiff