Jascha Bending

Eine Woche Probezeit | Bekenntnisse einer Nymphomanin


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      Sarah stellt sich vor Henry hin. Er blickt in ihre großen Augen, als würden sich seine tausend Fragen darin spiegeln. Das seichte Licht des Mondes lässt ihn zunächst glauben, er befände sich in einem Traum. Aber er ist es nicht. Und erst recht nicht, als er ihre Lippen auf seinen spürt, sie sich enger umarmen und kurze Zeit später sich auch ihre Zungen begegnen. Seine Gefühle fahren Achterbahn, und der Abend nimmt eine Entwicklung, von der er immer geträumt hat. Aber daran geglaubt hat er nie. Und jetzt ist es tatsächlich Sarah, die ihn küsst. Nicht umgekehrt. Seine Welt steht kopf. Und er will sie. Und wie er sie will. Doch wie soll er ihr begreiflich machen, dass sein bisheriges Leben als Eremit einen Grund hat? Sein Traum scheint sich zu erfüllen, doch seine Probleme fangen jetzt offensichtlich erst richtig an. Er behält es aber für sich, denn der Zeitpunkt für ein Outing scheint ihm denkbar ungünstig. Außerdem ist der Augenblick zu schön, um ihn gleich wieder der Gefahr auszusetzen, zerstört zu werden.

      So kehren sie als Paar zurück zur Feier, lassen es sich aber noch nicht anmerken. Doch auch wenn Henrys Herz strahlt, so liegt eine Sorge auf seiner Seele.

      Den Rest des Abends verbringen beide zumeist gemeinsam auf der Tanzfläche, bis schließlich eine gute Stunde nach Mitternacht die Feierlichkeit für beendet erklärt wird. Eigentlich hatte Henry vor, selbst noch nach Hause zu fahren. Doch aufgrund der aktuellen Ereignisse sind aus dem Ziel, maximal ein oder zwei Biere zu trinken, einige mehr geworden. Darum steht er plötzlich vor einem Problem.

      »Hat einer von euch eine Ahnung, wo ich hier ein Taxi bekomme? Fahren ist heute wohl nicht mehr.«

      »Ich kann dich nach Hause fahren«, hört er Sarah sagen. Und zwar so, dass es so klingt, als hätten sie nicht gerade erst vor zwei Stunden versucht, ihre Zungen zu verknoten. Bisher hat noch niemand eine Ahnung, was sich heute zwischen den beiden abgespielt hat, und sie versuchen auch darauf zu achten, dass es so bleibt.

      So steigen sie in Sarahs Mini, wobei Henry unsicher ist, ob er sich gerade wohlfühlen soll oder nicht. Vielleicht wäre die Fahrt mit dem Taxi besser gewesen, um mehr Zeit zur Sortierung seiner Gedanken zu haben. Aber dafür ist es jetzt zu spät, denn ablehnen wollte er Sarahs Angebot auch nicht.

      Während der Fahrt sprechen sie nicht viel. Wenn Schmetterlinge im Bauch ein Zeichen für Gefühle sein sollen, dann sind es bei Henry ganze Schwärme. Aus den Lautsprechern dröhnt Enjoy The Silence. Auch passend, denkt er sich. Aber was macht er in fünf Minuten, wenn sie bei ihm zu Hause ankommen? Jedes ehrliche Wort könnte jetzt verkehrt sein. Also sagt er lieber nichts. Wie gern würde er sie mit in sein Haus bitten. Aber ist das zu aufdringlich? Und selbst wenn sie mitkommt, was dann? Soll er ihr die Wahrheit über sich erzählen? Oder soll er schweigen und es später bereuen?

      Dann ist es zu spät für weitere Gedankenspiele, denn sie sind da. Was soll er machen? Aussteigen, Danke sagen und sich verabschieden? Doch die Entscheidung wird ihm abgenommen. Sarah macht den Motor aus, löst ihren Gurt, beugt sich zu Henry rüber und küsst ihn. Doch diesmal ist Henry vorbereitet und erwidert sofort.

      Einen kurzen Moment später schauen sie sich in die Augen. Sein Blick muss so offen sein wie ein Buch, in dem steht, dass etwas ganz und gar nicht stimmt.

      So bleibt Sarah nicht verborgen, dass Henry etwas bedrückt, und sie ist sich plötzlich unsicher. Vielleicht ist es doch nicht der richtige Weg gewesen, ihn derart zu überrumpeln. Aber sie ist immer noch fest davon überzeugt, seine Signale der letzten Wochen und auch Monate richtig interpretiert zu haben, dass er mehr für sie empfindet, als es unter Kollegen üblich ist. Doch endgültig bewusst wurde es ihr erst, als es mit Brian nicht mehr so lief, wie es eigentlich hätte laufen sollen.

      Die fehlende Aufmerksamkeit und den Schwung, durch das Leben zu gehen, bekam sie tagsüber, wenn sie Henry gegenübersaß und mit ihm über die Ereignisse der Welt sprach oder sie einfach nur völligen Quatsch redeten und gemeinsam darüber lachten. Sie fühlt sich in seiner Nähe wohl und, was sie immer deutlicher spürt, zu ihm hingezogen.

      Aber jetzt sucht sie kurzfristig den emotionalen Rückzug. »Tut mir leid, wenn ich … ich … ich wollte nicht …!«

      Henry unterbricht sie sanft. »Nein, nein. Sag nichts. Es ist alles in Ordnung.« Er versucht seine Gedanken zu ordnen, bekommt aber die richte Reihenfolge nicht hin. »Es ist alles nur so … so … so kompliziert.«

      Er fühlt sich wie ein in die Enge getriebener Krimineller auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Aber eigentlich will er gar nicht flüchten. Vielleicht ist heute endlich der Tag gekommen, an dem alles, was er sich je gewünscht hat, in Erfüllung geht. Er atmet tief durch.

      »O Mann«, beginnt er, »du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich von diesem Tag geträumt habe.« Dabei schaut er ihr in die Augen und streichelt ihr mit dem Handrücken über die Wange.

      Sie lächelt ihn an. »Aber trotzdem hast du doch irgendwas«, entgegnet sie.

      Er holt tief Luft, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Vielleicht ist es doch gut, dass er mehr Alkohol zu sich genommen hat als geplant. Zum einen sitzt er deshalb jetzt mit ihr im Auto, und zum anderen ist die Hemmschwelle, seine Gedanken zu verbalisieren, niedriger als gewöhnlich.

      »Es hat rein gar nichts mit dir zu tun. Es liegt an mir.« Dabei wirkt er sehr verhalten und würde vor Scham am liebsten im Boden versinken. »Wir kennen uns jetzt schon so lange. Und du weißt bereits so viel über mich, offensichtlich auch, dass ich dich … liebe. Und das nicht erst seit gestern.«

      Dabei muss er schmunzeln und auch Sarah wiegt zustimmend den Kopf. Er macht eine kurze Pause.

      »Aber dennoch weißt du nicht alles. Denn es gibt etwas, das sich im Laufe einer Beziehung zu einem Problem entwickeln kann, wenn es vorher nicht bereits geklärt worden ist.«

      Die Pause scheint ewig zu dauern, und die Stille dröhnt förmlich in seinen Ohren.

      Sarah bricht das Schweigen. »Redest du über Sex?«

      Henry zuckt innerlich zusammen. »Nun … äh … ich denke schon«, beginnt er. »Das soll aber nicht heißen, dass ich es will. Also wollen schon … aber nicht jetzt. Also … anders … also …!«

      Verzweifelt wendet er sich von Sarah ab. »Herrje, wie komme ich denn da jetzt wieder raus. Du musst mich für einen totalen Idioten halten.«

      »Hm«, macht Sarah. »Leider habe ich immer noch keine Ahnung, was du mir eigentlich sagen willst.«

      Henry versucht, sich zu sammeln. Und immerhin hat ihn Sarah bis jetzt noch nicht rausgeworfen. Er rafft seinen ganzen Mut zusammen. »Ich hatte mal eine Beziehung«, setzt er erneut an. »Und die ist aus dem Grund gescheitert, weil … weil … na, weil ich nicht von Anfang an gesagt habe, was ich … nun ja … was ich mir vom intimen Teil einer Beziehung wünsche.« An diesem Punkt hält er inne, um Sarahs Reaktion zu erkunden, und ob er überhaupt weiterreden soll. Ob er weiterreden darf. Sie sitzt aber nur wortlos da. Also liegt es immer noch an ihm.

      »Und ich habe mir damals geschworen, es beim nächsten Mal anders zu machen. Jetzt hat dieses ‚nächste Mal’ allerdings einige Jahre gedauert. Bis heute, um es genau zu sagen, und es trifft mich wie der berühmte Blitz aus heiterem Himmel. Darum rede ich mich gerade wohl auch um Kopf und Kragen.«

      Noch immer blickt Sarah ihn unverändert an. »Bis jetzt weiß ich ja immer noch nicht, worum es eigentlich geht«, erwidert sie.

      »Bitte denke nichts Falsches von mir. Versprich mir das bitte.« Dabei schaut er ihr in die Augen. »Bitte.«

      »Wie soll ich dir etwas versprechen, wenn ich keine Ahnung habe, worum es geht? Außer, dass es offensichtlich etwas mit Sex zu tun hat.«

      Da ist was dran. Gerade noch schwebt er auf Wolke Sieben, als er ihre Lippen auf seinen spürt, und kurze Zeit später hält sie ihn womöglich für einen irren Psychopathen.

      »Also gut«, atmet er aus. »Sex ist für mich eine Sache größten Vertrauens. Insbesondere für das, was ich mir unter Sex vorstelle. Für mich ist Sex nicht nur das Ergebnis der körperlichen Befriedigung. Für mich ist Sex auch der Weg dorthin. Und besonders dann, wenn ich dafür sorgen darf, dass du dorthin