des Kaplans wurden von einer heftigen Übelkeit unterbrochen, die sich wie eine Welle vom Magen den Hals hinaufarbeitete, um in der Kehle stecken zu bleiben. Der Geistliche hustete und hielt sich den Bauch. Der Wagen stand nur ein paar Schritte entfernt. Erleichtert ließ er sich auf den Fahrersitz fallen. Die Übelkeit ebbte ab. Seine Muskeln schmerzten.
Wenige Minuten später hatte er die Dorfkirche erreicht. Der Haupteingang war verschlossen. Dem jungen Priester zitterten die Knie. Der Kragen seines Hemdes war nass geschwitzt. Er kramte nach dem Schlüssel. Das Türschloss verschwamm vor seinen Augen, egal wieviel er blinzelte. Endlich sprang die Tür auf. Still und dunkel lag der Kirchenraum vor ihm. Der Geistliche stützte sich auf die Kirchenbänke, hielt sich den schmerzenden Magen und japste nach Luft. Er musste Christopher treffen!
Aus der offenstehenden Kellerluke schien ein matter Glanz in den dunklen Raum.
2
Benedikt saß im Zug und hatte die Stöpsel seines Smartphones in den Ohren. Omas neue Playlist war ihm gut gelungen. Die könnte sie beim nächsten Jugendclub verwenden. Er musste bis dahin nur endlich ihr neues Notebook aufgesetzt haben.
Während der Zug über die Rheinbrücke ratterte, betrachtete Benedikt die Schiffe, die hinter der nächsten Flussbiegung verschwanden, und wippte mit dem Kopf zum Takt der Musik. Er grinste vor sich hin und dachte an die mitleidigen Mienen seiner Schulkollegen, als sie hörten, dass er die Ferien bei seiner Oma auf dem Land verbringen würde. Er hatte nur mit den Schultern gezuckt. Für ihn war Oma echt mega. Sie gurkte mit ihrem apfelsinenfarbenen Hollandrad durchs Dorf, stimmte im Sommer die Farbe ihrer Zehennägel auf ihr aktuelles Halstuch ab, färbte eine Strähne ihres Ponys auch schon mal lila, pflückte Holunder an den Dorfhecken und probierte neue Marmelade-Kreationen aus. Letztes Jahr war das Holunder-Chili-Gelee sein Favorit gewesen. Allerdings war Marmelade das Einzige, was Oma Kati wirklich hervorragend kochen konnte. Mittlerweile überließ sie die Küche lieber ganz Opa Jo. Und der verwendete Chili nicht nur für seine Spezial-Burger.
Benedikt wischte über sein Smartphone, um zu sehen, wie spät es war. Der nächste Halt war Köln-Hauptbahnhof. Dort musste er in die S-Bahn umsteigen, die alle 30 Minuten fuhr, um 8 und um 38. Wenn die Bahn keine wesentliche Verspätung hatte, wäre er wie geplant um drei Minuten vor halb vier am Bahnhof, wo Oma Kati ihn mit dem Auto abholen würde. Er hätte auch den Bus genommen, aber davon wollte Oma nichts hören.
»Viel zu umständlich«, hatte sie abgewunken. »Damit bist du ewig und drei Tage unterwegs. Und wohin mit deinem Gepäck?«
Das bestand hauptsächlich aus Smartphone, Notebook, Headset und Ladekabeln, die er mit ein paar Wäschestücken abgepolstert hatte. Jetzt griff er nach der Tasche, die zu Schulzeiten seine Sportsachen beherbergte, und verließ den Zug. Die S-Bahn stand schon auf dem Gleis gegenüber und wartete. Benedikt stieg in den gut gefüllten Wagen und blieb an der Tür stehen. Vorfreude kribbelte in seinem Magen, als die Bahn sich in Bewegung setzte. Zwei wundervolle Wochen ohne Schule, die darauf warteten, genutzt zu werden …
Das Laub der Bäume am Horizont leuchtete in Gold-, Rot- und Brauntönen. Davor endlose Felder wie braune und grüne Teppiche. Und mittendrin die Autobahn, ein Wurm aus Beton und Blech, der sich durch die Felder fraß. Die vorbeiziehende Landschaft wirkte behäbig und bildete einen eigenartigen Kontrast zur Musik der Rolling Stones, von der sich Benedikt beschallen ließ. Eine Vorliebe, die er mit seiner Großmutter teilte. Keiths Gitarren-Riffs begeisterten ihn immer wieder aufs Neue, während er mit den synthetischen Klängen aus der Dose, die seine Kumpels sich auf die Ohren hauten, nichts anfangen konnte.
Mit nicht nennenswerter Verspätung erreichte die S-Bahn den Bahnhof und schwemmte eine Handvoll Menschen auf den Bahnsteig, die sich nach und nach verliefen. Benedikt blieb allein zurück. Von Oma Kati keine Spur.
3
Hedwig Hamacher hatte die letzte Mitgliederzeitschrift »Frau und Mutter« abgeliefert. Bei den älteren kfd-Frauen kam sie nicht um einen Kaffee herum. Sie freuten sich über jede Abwechslung in ihrem Alltagseinerlei. Und Hedwig hörte, wo der Schuh drückte, wer gefallen war oder ins Krankenhaus musste. Sie hatte nicht nur ein offenes Ohr für die mal mehr, mal weniger rüstigen Seniorinnen, sie kannte auch Wege und Möglichkeiten, effektiv zu helfen. Als sich Elli Neumann die Ferse gebrochen hatte, verdonnerte sie den Schützenzug ihres Mannes kurzerhand dazu, der alten Dame Getränke und Besorgungen in den dritten Stock zu schleppen, während die Schützenfrauen den Fahrdienst zum Arzt und zur Krankengymnastik übernahmen. Deshalb wählten sie sie auch seit Jahren zur Vorstandsvorsitzenden der Pfarrgruppe der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands - kfd. Und deshalb verzieh man ihr auch, dass sie im Dirndl durchs Rheinland lief, was ihrer Üppigkeit schmeichelte und über die Jahre zu ihrem Markenzeichen geworden war.
Sie hatte ihren Peugeot neben der Kapelle geparkt und entdeckte Cilli Wilms an der Tür zur Sakristei.
»Guten Morgen, Frau Wilms«, winkte sie ihr zu und umrundete das Auto. Bildete sie es sich ein oder war die kleine Frau zusammengezuckt?
Cilli Wilms hielt die Klinke in der Hand, der Schlüssel steckte im Schloss. Dann drehte sie sich langsam um, kniff die Augen zusammen und lächelte schmallippig.
»Ach, et Beckers Hettchen. Juten Morjen. Wat meckste denn he?«
»Ich hab die ›Frau und Mutter‹ verteilt. Und Sie? Haben Sie nicht gestern die Sakristei geputzt?«
»Nee, Kink, da bin isch nit zu jekomme. Die ahl Frau Möller ise su erm dran. Da hang isch Höhnerzupp jemaat un vorbi jebraat.«
»Ach, Frau Wilms. Ich glaub, ich muss auch mal krank werden, um in den Genuss Ihrer Hühnersuppe zu kommen.« Hedwig lächelte die alte Frau an. Dabei entging ihr nicht, dass der Faltenrock an manchen Stellen arg dünn war. Der braune Strickpulli, der unter der Wolljacke herauslugte, schlabberte am unteren Ende und die dicken Schuhe waren vorne abgestoßen.
Dass Frau Wilms die Sakristei putzte, war Hedwigs Idee gewesen. Sie hatte mitbekommen, wie Pater Remigius der alten Frau untersagte, bei ihm die Wäsche zu machen. Er war eben das Gegenteil seines Vorgängers.
Zurückgezogen, bescheiden und selbstbestimmt, war ihm seine Privatsphäre heilig. Pech für Cilli Wilms, die dem Vorgänger Pastor Vossen ihr ganzes Leben lang den Haushalt geführt hatte und von sämtlichen Würdenträgern des Erzbistums für ihre Kochkünste gelobt wurde. Nun musste sie sehen, wie sie über die Runden kam.
»Wenn Sie noch putzen wollen«, Hedwig deutete auf die Sakristei, »dann könnte ich …«
»Nee«, unterbrach Cilli Wilms sie schroff, »isch bin fädisch.«
Hedwig hob die Augenbrauen. So ruppig hatte sie die alte Frau noch nicht erlebt. Schließlich nickte sie.
»Okay«, sagte sie und hielt die Hand auf, »ich nehme den Schlüssel direkt mit. Dann haben Sie den Weg zu uns gespart.« Die kleine Person zögerte kurz, zog den Schlüssel ab und rüttelte energisch an der Tür, um sicherzugehen, dass sie verschlossen war. Ohne aufzusehen, ließ sie den Schlüsselbund in Hedwigs Hand fallen.
»Soll ich Sie nach Hause fahren?«
»Nee, Kink, isch möt noch nom Mätzga«, erwiderte Frau Wilms und wandte sich zum Gehen.
»Das trifft sich gut. Ich brauche noch einen Braten für morgen Abend. Wir bekommen Besuch. Kommen Sie. Steigen Sie ein.« Einladend öffnete Hedwig die Beifahrertür.
Wieder zögerte die Alte einen kurzen Augenblick, dann ließ sie sich schnaufend auf den Beifahrersitz plumpsen.
»Nee, wat wor dat hüt morjen füren Jebrüll. Wie em Zirkus. So wat tut ma nit!«
»Was denn?«, erkundigte sich Hedwig und half der Alten, den Sicherheitsgurt anzulegen.
»De ärm Kaplan.« Cilli Wilms seufzte und ließ die Schultern hängen. »Dat Brings Kättchen hätt dem esu die Meinung jejeicht, datt de die Mess nimmi lese kunnt. Stell dich dattens vör.« Entrüstet schüttelte Cilli Wilms den Kopf.
»Sie meinen, Frau Küppers und der Kaplan sind mal wieder aneinander geraten?«