langen Jahren voller großer Taten endlich gewürdigt worden, Martern zu erdulden und den Märtyrertod für den Glauben zu sterben. Als aber die Kirche, die ihn bereits für einen Heiligen hielt, seinen Leib bestatten wollte, habe sich bei dem Ausruf des Diakonus: »Die noch nicht in die Gemeinschaft der Christen Aufgenommenen mögen hinausgehen!« der Sarg mit dem Leib des Märtyrers plötzlich von der Stelle bewegt und die Kirche verlassen, und das dreimal. Schließlich habe man erfahren, daß dieser heilige Dulder das Gelübde des Gehorsams gebrochen hatte, daß er von seinem Starez weggegangen war und daher ohne dessen Zustimmung keine Verzeihung finden könne, trotz seiner großen Taten. Erst nachdem der herbeigerufene Starez ihn von der Pflicht des Gehorsams entbunden hätte, habe seine Bestattung erfolgen können. Das ist freilich nur eine uralte Legende; doch es gibt da auch einen weniger weit zurückliegenden Vorfall. Ein Mönch, der übrigens heute noch lebt, hatte in einem Kloster auf dem Berg Athos Zuflucht gefunden. Eines Tages befahl ihm plötzlich sein Starez, er solle den Athos, den er als Heiligtum und stillen Zufluchtsort aus tiefster Seele liebte, verlassen, nach Jerusalem gehen, um an den heiligen Stätten zu beten, und dann nach Rußland zurückkehren, und zwar in den Norden, nach Sibirien. »Dort ist dein Platz, nicht hier«, sagte der Starez. Zutiefst erschrocken und bekümmert begab sich der Mönch nach Konstantinopel zum Obersten Patriarchen und bat um die Freisprechung von dem Gebot; doch der Kirchenfürst antwortete, nicht nur er, der Oberste Patriarch, auch jegliche andere Macht auf Erden sei außerstande, ihn von einem Gebot zu entbinden, das ihm der Starez auferlegt habe – mit Ausnahme des Starez selbst. So ist die Institution des Starez mit einer Macht ausgestattet, die in gewissen Fällen unbegreiflich und schrankenlos ist. Das ist der Grund, weshalb in vielen Klöstern bei uns das Starzentum anfangs heftig befehdet wurde. Das Volk dagegen erwies den Starzen gleich von Anfang an große Hochachtung. Beispielsweise strömten einfache Leute und vornehme Persönlichkeiten scharenweise zu den Starzen unseres Klosters, um vor ihnen niederzuknien, ihre Zweifel, ihre Sünden und Leiden zu beichten und sich Rat und Belehrung zu holen. Als die Gegner der Institution das sahen, schrien sie neben anderen Beschuldigungen, hier würde das Sakrament der Beichte eigenmächtig und leichtsinnig verletzt – obgleich das ständige Beichten eines Untergebenen oder eines Laien vor dem Starez durchaus nicht in den Formen des Sakramentes vor sich geht. Die Sache endete damit, daß sich die Institution des Starez behauptete und nun allmählich in den russischen Klöstern durchsetzte. Allerdings kann dieses erprobte tausendjährige Werkzeug, geschaffen, den Menschen aus moralischer Knechtschaft zu Freiheit und sittlicher Vollkommenheit zu führen, wohl auch ein zweischneidiges Schwert werden, insofern es manchen statt zu Demut und Selbstüberwindung zum teuflichsten Stolz führt, das heißt in Ketten und nicht in die Freiheit.
Der fünfundsechzigjährige Starez Sossima entstammte einer Gutsbesitzerfamilie, er war in frühester Jugend beim Militär gewesen und hatte im Kaukasus als Oberleutnant gedient. Ohne Zweifel hatte er durch irgendeine besondere seelische Eigenschaft die Bewunderung Aljoschas erregt. Dieser wohnte mit in der Zelle des Starez, der ihn sehr liebgewonnen und zu sich genommen hatte. Er war aber zu der Zeit, da er im Kloster lebte, noch nicht gebunden, konnte ausgehen, wann er wollte, sogar ganze Tage, und wenn er eine Kutte trug, so tat er es freiwillig, um nicht vor den anderen Klosterinsassen aufzufallen.
Er fand aber auch selbst Gefallen daran. Vielleicht machten die geistige Kraft des Starez und der Ruhm, der ihn ständig umgab, auf Aljoschas jugendliche Phantasie einen starken Eindruck. Von dem Starez Sossima erzählten viele, er habe schon jahrelang alle zu sich gelassen, die in der Beichte ihr Herz ausschütten, seinen Rat einholen und seine Trostworte vernehmen wollten; so habe er viele Bekenntnisse, Geständnisse und Äußerungen der Reue zu hören bekommen und schließlich ein so feines Gefühl erlangt, daß er beim ersten Blick ins Gesicht eines Unbekannten errate, in welcher Absicht er gekommen war, was er brauchte und welche Qualen sein Gewissen peinigten; manchmal versetze er einen Ankömmling dadurch, daß er sein Geheimnis kenne, bevor noch ein Wort gesprochen war, in Staunen, Bestürzung, ja in Furcht. Dabei bemerkte Aljoscha fast immer, daß viele, ja beinahe alle, die sich zum erstenmal voll Angst und Unruhe bei dem Starez zu einem Gespräch unter vier Augen einfanden, später, wenn sie herauskamen, helle, freudige Mienen hatten; das finsterste Gesicht war dann in ein glückliches verwandelt. Auch erregte es Aljoschas Erstaunen, daß der Starez durchaus nicht ernst und streng war, sondern im Gegenteil stets geradezu heiter im Umgang. Die Mönche sagten, sein Herz gehöre in erster Linie den schlimmen Sündern; wer am meisten sündige, der sei ihm der liebste. Unter den Mönchen gab es sogar noch in seinen letzten Lebensjahren einige, die ihn beneideten und haßten; aber es waren nur wenige, und diese wenigen schwiegen, obgleich sich unter ihnen sehr angesehene und bedeutende Persönlichkeiten des Klosters befanden, zum Beispiel einer der ältesten Einsiedler, einer, der wenig redete und ungewöhnlich viel fastete. Die überwiegende Mehrzahl stand unzweifelhaft auf seiten des Starez Sossima, und viele von ihnen liebten ihn heiß und aufrichtig, von ganzem Herzen. Einige hingen ihm beinahe fanatisch an und sagten ohne Umschweife, wenn auch leise, er sei ein Heiliger, und da sie sein nahes Ende voraussahen, erwarteten sie unverzüglich Wunder von ihm und in der allernächsten Zukunft großen Ruhm für das Kloster. Auch Aljoscha glaubte widerspruchslos an die wundertätige Kraft des Starez wie an die Geschichte von dem Sarg, der aus der Kirche geflogen war. Er sah, daß viele, die mit kranken Kindern oder erwachsenen Verwandten kamen und den Starez baten, er möge seine Hände auf sie legen und ein Gebet über sie sprechen, sehr bald zurückkehrten, manche gleich am nächsten Tag, weinend vor ihm niedersanken und ihm für die Heilung der Kranken dankten. Ob es tatsächlich eine Heilung war oder nur eine natürliche Besserung im Krankheitsverlauf, das war für Aljoscha keine Frage; er glaubte fest an die geistige Kraft seines Lehrers, dessen Ruhm gewissermaßen sein eigener Triumph war. Besonders erbebte sein Herz und strahlte sein Gesicht, wenn der Starez zu der am Tor der Einsiedelei wartenden Menge von Pilgern aus dem einfachen Volk trat, die eigens zu dem Zweck aus ganz Rußland zusammengeströmt waren, den Starez zu sehen und sich von ihm segnen zu lassen. Sie knieten, in Tränen ausbrechend, vor ihm nieder, küßten seine Füße und die Erde, auf der er stand, und stießen Rufe der Bewunderung aus; Frauen hielten ihm ihre Kinder hin und führten ihm Schreikranke zu. Der Starez redete mit ihnen, sprach über sie ein kurzes Gebet, segnete sie und entließ sie. In der letzten Zeit war er infolge seiner Krankheitsanfälle manchmal so schwach, daß er die Zelle nicht verlassen kannte; dann warteten die Pilger mitunter tagelang auf sein Erscheinen.
Aljoscha hatte keinen Zweifel, warum sie ihn liebten, sich vor ihm niederwarfen und vor Rührung weinten, sobald sie sein Antlitz erblickten. Oh, er begriff sehr wohl, daß es für die gedemütigte, durch Arbeit und Kummer, durch stete Ungerechtigkeit und Sünde – eigene wie fremde – zermürbte und zermarterte Seele des einfachen Russen kein stärkeres Bedürfnis und keinen besseren Trost gibt, als ein Heiligtum oder einen Heiligen zu finden, vor ihm niederzufallen und sich vor ihm zu beugen: »Wenn bei uns auch Sünde, Unwahrheit und Versuchung herrschen so lebt doch hier und da auf Erden ein Heiliger, ein Höherer, der die Wahrheit besitzt und die Wahrheit kennt. Also stirbt sie nicht auf dieser Erde, sondern wird einmal auch zu uns kommen und auf der ganzen Erde herrschen, wie es verheißen ist.« Aljoscha wußte, so fühlt und urteilt das Volk; dafür hatte er Verständnis. Und daß gerade in den Augen dieses Volkes sein Starez ein solcher Heiliger und Bewahrer der göttlichen Wahrheit war, bezweifelte er selbst ebensowenig wie die weinenden Bauern und ihre kranken Frauen, die dem Starez ihre Kinder entgegenstreckten. Die Überzeugung, der Starez werde nach seinem Tode dem Kloster außerordentlichen Ruhm bringen, beherrschte Aljoscha wohl stärker als sonst irgendwen im Kloster. Überhaupt entbrannte in dieser letzten Zeit immer mehr eine tiefe, innere Begeisterung in seinem Herzen. Und es beirrte ihn dabei keineswegs, daß dieser Starez nur als ein einzelner vor ihm stand. Das ändert nichts, er ist ein Heiliger, in seinem Herzen ruht das Geheimnis der Erneuerung für alle, die Macht, die endlich die Wahrheit auf Erden errichten wird; und alle werden heilig sein und einander lieben, und weder Reiche noch Arme wird es mehr geben, weder Hohe noch Niedere, alle werden sie sein wie Kinder Gottes, und das wahre Reich Christi bricht an. Das war es, wovon Aljoscha im tiefsten Innern träumte.
Die Ankunft seiner beiden Brüder, die er bisher nicht gekannt hatte, schien starken Eindruck auf Aljoscha zu machen. Seinem Bruder Dmitri Fjodorowitsch schloß er sich schneller und enger an als dem anderen, seinem leiblichen Bruder Iwan, obgleich der erstere später eingetroffen war. Es reizte ihn sehr, seinen Bruder Iwan kennenzulernen; aber sie waren sich immer noch nicht nähergekommen,