Joseph Victor von Scheffel

Ekkehard


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Bild und Ornamentenwerk des Grabes Fußboden geschmückt. Es erhub sich ein lebhaftes Gespräch darüber, was all die zerstreuten gewürfelten Steinchen in ihrem Zusammenhang dargestellt haben mochten. Einer, der ein Archäolog war, hob die einzelnen Stücke gegen's Licht und prüfte, ob weißer, ob schwarzer Marmor; ein anderer, der sich mit Geschichtsforschung plagte, sprach gelehrt über Grabdenkmale der Alten – derweil war ein dritter schweigsam auf dem Backsteingemäuer gesessen, der zog sein Skizzenbuch und zeichnete ein stolzes Viergespann mit schnaubenden Rossen und Wettkämpfern und viele schöne jonische Ornamentik darum; er hatte in der Ecke des Fußbodens einen unscheinbaren Rest des alten Bildes erschaut: Pferdefüße und eines Wagenrades Fragmente, da stand das Ganze klar vor seiner Seele, und er warf's mit kecken Strichen hin, derweil die andern in Worten kramten...

      Bei jener Gelegenheit war einiger Aufschluß zu gewinnen über die Frage, wie mit Erfolg an der geschichtlichen Wiederbelebung der Vergangenheit zu arbeiten sei.

      Gewißlich nur dann, wenn einer schöpferisch wiederherstellenden Phantasie ihre Rechte nicht verkümmert werden, wenn der, der die alten Gebeine ausgräbt, sie zugleich auch mit dem Atemzug einer lebendigen Seele anhaucht, auf daß sie sich heben und kräftigen Schrittes als auferweckte Tote einherwandeln.

      In diesem Sinn nun kann der historische Roman das sein, was in blühender Jugendzeit der Völker die epische Dichtung: ein Stück nationaler Geschichte in der Auffassung des Künstlers, der im gegebenen Raume eine Reihe Gestalten scharfgezeichnet und farbenhell vorüberführt, also daß im Leben und Ringen und Leiden der einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraumes sich wie zum Spiegelbild zusammenfaßt.

      Auf der Grundlage historischer Studien das Schöne und Darstellbare einer Epoche umspannend, darf der Roman auch wohl verlangen, als ebenbürtiger Bruder der Geschichte anerkannt zu werden, und wer ihn achselzuckend als das Werk willkürlicher und fälschender Laune zurückweisen wollte, der mag sich dabei getrösten, daß die Geschichte, wie sie bei uns geschrieben zu werden pflegt, eben auch nur eine herkömmliche Zusammenschmiedung von Wahrem und Falschem ist, der nur zu viel Schwerfälligkeit anklebt, als daß sie es, wie die Dichtung, wagen darf, ihre Lücken spielend auszufüllen.

      Wenn nicht alle Zeichen trügen, so ist unsere Zeit in einem eigentümlichen Läuterungsprozeß begriffen.

      In allen Gebieten schlägt die Erkenntnis durch, wie unsäglich unser Denken und Empfinden unter der Herrschaft der Abstraktion und der Phrase geschädigt worden; da und dort Rüstung zur Umkehr aus dem Abgezogenen, Blassen, Begrifflichen zum Konkreten, Farbigen, Sinnlichen, statt müßiger Selbstbeschauung des Geistes Beziehung auf Leben und Gegenwart, statt Formeln und Schablonen naturgeschichtliche Analyse, statt der Kritik schöpferische Produktion, und unsere Enkel erleben vielleicht noch die Stunde, wo man von manchem Koloß seitheriger Wissenschaft mit der gleichen lächelnden Ehrfurcht spricht wie von den Resten eines vorsündflutlichen Riesengetiers, und wo man ohne Gefahr, als Barbar verschrien zu werden, behaupten darf, in einem Steinkrug alten Weines ruhe nicht weniger Vernunft als in mancher umfangreichen Leistung formaler Weisheit.

      Zur Herstellung fröhlicher, unbefangener, von Poesie verklärter Anschauung der Dinge möchte nun auch die vorliegende Arbeit einen Beitrag geben, und zwar aus dem Gebiet unserer deutschen Vergangenheit.

      Unter dem unzähligen Wertvollen, was die großen Folianten der von Pertz herausgegebenen »Monumenta Germaniae« bergen, glänzen gleich einer Perlenschnur die sanktgallischen Klostergeschichten, die der Mönch Ratpert begonnen und Ekkehard der Jüngere (oder, zur Unterscheidung von drei gleichnamigen Mitgliedern des Klosters der Vierte benannt) bis ans Ende des zehnten Jahrhunderts fortgeführt hat. Wer sich durch die unerquicklichen und vielfältig dürren Jahrbücher anderer Klöster mühsam durchgearbeitet hat, mag mit Behagen und innerem Wohlgefallen an jenen Aufzeichnungen verweilen. Da ist trotz mannigfacher Befangenheit und Unbehilflichkeit eine Fülle anmutiger, aus der Überlieferung älterer Zeitgenossen und den Berichten von Augenzeugen geschöpfter Erzählungen, Personen und Zustände mit groben, aber deutlichen Strichen gezeichnet, viel unbewußte Poesie, treuherzige brave Welt- und Lebensansicht, naive Frische, die dem Niedergeschriebenen überall das Gepräge der Echtheit verleiht, selbst dann, wenn Personen und Zeiträume etwas leichtsinnig durcheinandergewürfelt worden und ein handgreiflicher Anachronismus dem Erzähler gar keinen Schmerz verursacht. Ohne es aber zu beabsichtigen, führen jene Schilderungen zugleich über die Schranken der Klostermauern hinaus und entrollen das Leben und Treiben, Bildung und Sitte des damaligen alemannischen Landes mit der Treue eines nach der Natur gemalten Bildes.

      Es war damals eine vergnügliche und einen jeden, der ringende, unvollendete, aber gesunde Kraft geleckter Fertigkeit vorzieht, anmutende Zeit im südwestlichen Deutschland. Anfänge von Kirche und Staat bei namhafter, aber gemütreicher Roheit der bürgerlichen Gesellschaft – der aller späteren Entwickelung so gefährliche Geist des Feudalwesens noch harmlos im ersten Entfalten, kein geschraubtes, übermütiges und geistig schwächliches Rittertum, keine üppige unwissende Geistlichkeit, wohl aber ehrliche grobe Gesellen, deren sozialer Verkehr zwar oftmals in einem sehr ausgedehnten System von Verbal- und Realinjurien bestand, die aber in rauher Hülle einen tüchtigen, für alles Edle empfänglichen Kern bargen – Gelehrte, die morgens den Aristoteles verdeutschen und abends zur Erholung auf die Wolfsjagd ziehen, vornehme Frauen, die für das Studium der Klassiker begeistert sind, Bauern, in deren Erinnerung das Heidentum ihrer Vorväter ungetilgt neben dem neuen Glauben fortlebt – überall naive, starke Zustände, denen man ohne nationalistischen Ingrimm selbst ihren Glauben an Teufel und Dämonenspuk zugute halten darf. Dabei zwar politische Zerklüftung und Gleichgültigkeit gegen das Reich, dessen Schwerpunkt sich nach Sachsen übertragen hatte, aber tapferer Mannesmut im Unglück, der selbst die Mönche in den Klosterzellen stählt, das Psalterbuch mit dem Schwert zu vertauschen und gegen die ungarische Verwüstung zu Feld zu rücken – trotz reichlicher Gelegenheit zur Verwilderung eine dem Studium der Alten mit Begeisterung zugewandte Wissenschaft, die in den zahlreich besuchten Klosterschulen eifrige Jünger fand und in ihren humanen Strebungen an die besten Zeiten des sechzehnten Jahrhunderts erinnert, leises Emporblühen der bildenden Künste, vereinzeltes Aufblitzen bedeutender Geister, vom Wust der Gelehrsamkeit unerstickte Freude an der Dichtung, fröhliche Pflege nationaler Stoffe, wenn auch meist in fremdländischem Gewand. Kein Wunder, daß es dem Verfasser dieses Buches, als er bei Gelegenheit anderer Studien über die Anfänge des Mittelalters mit dieser Epoche vertraut wurde, erging wie einem Manne, der nach langer Wanderung durch unwirtsames Land auf eine Herberge stößt, die, wohnsam und gut bestellt in Küche und Keller, mit liebreizender Aussicht vor den Fenstern, alles bietet, was sein Herz begehrt.

      Er begann, sich häuslich drin einzurichten und durch mannigfaltige Ausflüge in verwandtes Gebiet sich möglichst vollständig in Land und Leute einzuleben.

      Den Poeten aber ereilt ein eigenes Schicksal, wenn er sich mit der Vergangenheit genau bekannt macht.

      Wo andere, denen die Natur gelehrtes Scheidewasser in die Adern gemischt, viel allgemeine Sätze und lehrreiche Betrachtungen als Preis der Arbeit herausätzen, wachsen ihm Gestalten empor, erst von wollendem Nebel umflossen, dann klar und durchsichtig, und sie schauen ihn ringend an und umtanzen ihn in mitternächtigen Stunden und sprechen: Verdicht uns!

      So kam es auch hier. Aus den naiven lateinischen Zeilen jener Klostergeschichten hob und baute es sich empor wie Turm und Mauern des Gotteshauses Sankt Gallen, viele altersgraue ehrwürdige Häupter wandelten in den Kreuzgängen auf und ab, hinter den alten Handschriften saßen die, die sie einst geschrieben, die Klosterschüler tummelten sich im Hofe, Horasang ertönte aus dem Chor und des Wächters Hornruf vom Turme. Vor allen anderen aber trat leuchtend hervor jene hohe gestrenge Frau, die sich den jugendschönen Lehrer aus des heiligen Gallus Klosterfrieden entführte, um auf ihrem Klingsteinfelsen am Bodensee klassischen Dichtern eine Stätte sinniger Pflege zu bereiten; die schlichte Erzählung der Klosterchronik von jenem dem Virgil gewidmeten Stilleben ist selbst wieder ein Stück Poesie, so schön und echt, als sie irgend unter Menschen zu finden.