Jutta Walberg trat mit einem schmerzlichen Ausdruck ans Fenster. Der Blick ihrer sanften Augen huschte verloren über die Felder und Wiesen, die Gut Hoheneichen umgaben. Es war Erntezeit. Jutta konnte das Geräusch der Traktoren bis zu ihrem Platz hören. Vor kurzem hatte sie hier als Gutsfrau Einzug gehalten. Zuvor war sie Sekretärin auf dem nahe gelegenen Staatsgut gewesen. Als sie dem vierundvierzigjährigen Gutsbesitzer und Witwer Richard Walberg begegnet war, hatte sie sofort gewusst, dass sie den Mann ihres Lebens kennengelernt hatte. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass sie sich mit ihren neunundzwanzig Jahren auf den ersten Blick derart würde verlieben können. Und doch war es geschehen.
Dass ihre Zuneigung auch noch Erwiderung gefunden hatte, war ihr wie ein herrlicher Traum vorgekommen. RichardWalberg hatte lange unter dem frühen Tod seiner Frau gelitten. Bettina war eine perfekte Gutsherrin, eine glänzende Gastgeberin und eine sehr charmante Frau gewesen. Aus der Ehe mit ihr stammte Mirja. Dieses jetzt schon vierzehnjährige Mädchen vermisste die Mutter sehr und konnte nicht verstehen, dass ihr Vati wieder geheiratet hatte. Die Hoffnung, dass sich das Kind an die zweite Mutter gewöhnen würde, hatte sich bis jetzt nichterfüllt.
Jutta wandte sich mit einem tiefen Seufzer vom Fenster ab. Wie wunderbar könnte es hier sein, dachte sie, wenn Mirja sich nicht derart in ihren Hass verbohrt hätte, wenn meine Ehe nicht darunter leiden würde. Richard versucht zwar, das Problem durch sein heiteres Wesen zu überspielen. Doch es ist dadurch nicht gelöst. Auch der Entschluss, Mirja in das Kinderheim Sophienlust zu geben, hat die Situation nicht gebessert. Im Gegenteil! Ohne dass darüber gesprochen wird, steht diese Tatsache trennend zwischen mir und Richard.
Jutta ging in die geräumige Gutsküche und stellte das zweite Frühstück für das Gesinde zusammen. Sorgsam legte sie alles in den großen Picknickkorb und stellte Wasser in eine Kühltasche. Richard würde gleich hier sein, um alles abzuholen. Doch als sie sein Auto vorfahren hörte, war es nicht ihr Mann, sondern dessen Schwägerin Erika Lauheim.
Über Juttas offene Züge lief ein Schatten. Ihre Lippen pressten sich voller Abwehr zusammen. Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie das Tuch über den Korb breitete. Denn sie wusste genau, dass die Schwester von Mirjas verstorbener Mutter das Kind in ihrem Hass ungünstig beeinflusste. Erika Lauheim wäre selbst gern hier die neue Gutsfrau geworden. Sie kam zwar nicht oft vorbei, doch wenn sie kam, stiftete sie Unfrieden.
So fiel die Begrüßung zwischen den beiden Frauen auch reichlich kühl aus. Erika Lauheim hielt mit dem Grund ihres Kommens nicht lange zurück.
»Was musste ich hören?«, begann sie aufgebracht. »Ihr habt Mirja aus dem Haus gejagt und in ein Heim für Waisenkinder gesteckt! Ist es denn nicht genug, dass Sie sich auf Hoheneichen breitgemacht haben? Musste nun auch noch das Kind meiner Schwester entfernt werden?«
»Sie irren sich!«, erwiderte Jutta so ruhig wie möglich, »wenn Sie annehmen, dass Sophienlust ein Waisenhaus ist. Es ist ein exklusiv geführtes Heim für reiche und arme Kinder, die der liebenden Hilfe bedürfen. Richard hat sich bestens über Sophienlust orientiert. Wir haben sogar Zeitungsberichte gelesen, die begeistert berichten, dass sich die Besitzerin des Heimes Denise von Schoenecker zusammen mit ihren Mitarbeitern in selbstloser Weise für die Kinder einsetzt.«
Erika Lauheim lachte spöttisch auf: »Ein Heim für Kinder, die der liebevollen Hilfe bedürfen! Es ist ja wirklich die Höhe, wenn Sie annehmen, dass die arme kleine Mirja die Hilfe fremder Menschen nötig hat. Sie haben das Kind seinem Vater entfremdet und meinen Schwager gegen sein eigenes Fleisch und Blut aufgehetzt. Sie allein sind schuld daran, dass Mirja ihr Elternhaus verlassen musste. Meine Schwester würde sich im Grabe herumdrehen, wenn sie das wüsste!«
Juttas sanfte Augen wurden um einen Schein dunkler. Es lag ihr ein rasches Wort auf den Lippen, doch sie überwand ihren aufsteigenden Zorn und entgegnete besonnen: »Richard und ich sind der Überzeugung, richtig entschieden zu haben. Eines Tages wird Mirja mich nicht mehr ablehnen. Sie wird fühlen, dass ich sie liebhabe und dass ich ihr die Mutter ersetzen möchte, die sie so schmerzlich vermisst. Oh, bitte, ich möchte noch etwas hinzufügen. Sophienlust ist gerade für Kinderprobleme der richtige Ort. Frau von Schoenecker hat vor allem mit Problemkindern großen Erfolg. Sophienlust ist kein Heim im üblichen Sinne, das müssen Sie mir glauben. Es ist ein alter Familienbesitz.«
Mit einer abfälligen Handbewegung und harten Worten wurden Juttas Argumente hinweggefegt. »Wie dem auch sei«, meinte Erika Lauheim schließlich, »Mirja ist erst durch Sie ein schwieriges Kind geworden. Nach dem Tod meiner Schwester hat sie durch ihren Vater und durch mich Trost in ihrem Kummer gefunden. Erst als Sie auf Hoheneichen Einzug hielten, entstanden diese unerfreulichen Probleme.«
Jutta nickte leicht hilflos, als sie gestand: »Das kann ich nicht abstreiten. Aber weder ich noch Richard konnten dies vorausahnen. Sie müssen doch verstehen, dass Hoheneichen wieder eine Gutsfrau brauchte, dass Mirja wieder eine sorgende Mutter haben sollte und Richard eine Frau.«
Erika Lauheim lachte schallend auf. »Von Ihrer Warte aus gesehen, ja. Sie haben meinem Schwager eingeredet, dass er Sie auf Hoheneichen braucht. Sie mögen als Gutssekretärin unentbehrlich gewesen sein, doch hier werden Sie auf die Dauer gesehen auf verlorenem Posten stehen, denn Richard hängt an Mirja. Wenn er Sie und Ihre spekulativen Absichten erst durchschaut haben wird …«
»Aber Erika!« Richard Walberg stand groß und stattlich in der Tür. Mit einem liebevollen Lächeln ging er nun auf seine Frau zu und legte ihr den Arm um die Schulter. »Erika meint es gut«, sagte er schlichtend. »Sie vergreift sich nur manchmal im Ton.«
»Ich vergreife mich im Ton, weil das Recht auf meiner Seite ist!«, warf Erika Lauheim beißend ein. »Mirja ist das Kind meiner verstorbenen Schwester. Ich lasse nicht zu, dass sie freudlos in einem Heim aufwachsen soll. Dagegen werde ich mit allen Mitteln einschreiten, umso mehr, als in Gut Hoheneichen auch das Vermögen meiner Schwester steckt, das Mirja zusteht und sonst niemandem.«
Richard erblasste. Seine Hand drückte sich fest auf Juttas Arm. Es sollte eine schützende Geste sein. In seinen Augen blitzte Zorn auf, als er antwortete: »Jutta und ich haben aus Liebe geheiratet. Unsere Liebe zueinander wird stark genug sein, Mirjas Vertrauen und Zuneigung zurückzugewinnen. Wir haben Mirja nicht nach Sophienlust gegeben, um sie von uns zu entfernen, um sie loszuwerden, sondern um ihr zu helfen.«
»Ich weiß, was du damit sagen willst!« Erika Lauheim hob empört den Kopf. »Du wolltest Mirja meinem Einfluss entziehen. Aber ist es gerecht, das Kind zwingen zu wollen, die geliebte Mutter zu vergessen? Dir ist es leichtgefallen, deine Frau aus deinem Gedächtnis zu streichen. Aber bei Mirja wirst du kein Glück haben! Ein vierzehnjähriges Mädchen ist kein kleines Kind mehr. Mirja ist klug. Sie fühlt, dass dir deine Frau etwas vorgaukelt, um sich hier breitmachen zu können.« Erika Lauheim eilte zur Tür. Sie wollte keine Gegenrede mehr hören. Mit einer energischen Bewegung presste sie ihre Krokohandtasche an sich. »Du bist auf eine schöne Fassade hereingefallen, weiter nichts!«
Mit Genugtuung sah sie, dass ihr Schwager unter der tiefbraunen Haut grau wie Asche geworden war. Es war ihr unerträglich, ihn so nahe bei dieser Frau stehen zu sehen, den Arm fest um sie gelegt. Das hätte ihr Platz sein sollen. Aber sie war nicht so jung und nicht so raffiniert wie diese Person. Ihr Mund verzerrte sich, als sie bösartig zischte: »Ich bin es meiner Schwester schuldig, mich um Mirja zu kümmern. Du hast sie aus deinem Herzen und aus Hoheneichen verstoßen. Das soll dir schlecht bekommen, lieber Schwager!«
Der heiße Sommertag trieb die Kinder von Sophienlust in ihrer Freizeit an den Forellenbach oder an den See, der in der Nähe lag und ein geliebtes Badeziel war. Dominik von Wellentin-Schoenecker, der künftige Besitzer von Sophienlust, ließ es sich nicht entgehen, möglichst oft von Gut Schoeneich nach Sophienlust herüberzukommen. Dominik, auch zärtlich Nick genannt, stammte aus der ersten Ehe seiner Mutter, Denise von Schoenecker. Er war noch sehr klein gewesen, als seine Mutter den alten Familienbesitz der Grafen von Wellentin in ein Heim für solche Kinder verwandelt hatte, die vom Schicksal schwer geprüft waren. Damit hatte sie das Vermächtnis der Gräfin Sophie von Wellentin erfüllt, die ihren Urenkel Dominik als Erben eingesetzt hatte. Denise, die laut Testament das Gut Sophienlust und ein recht beträchtliches Vermögen bis zu Dominiks einundzwanzigstem Lebensjahr verwaltete, hatte es nicht versäumt, ihren Sohn von klein auf mit seinen künftigen Aufgaben vertraut zu machen. So fühlte