Susan Hastings

Fürstenkrone Classic 40 – Adelsroman


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title>Fürstenkrone Classic – 40 –

      Manchmal, wenn ich allein bin, denke ich an jene Nacht in Ahrgau zurück. Ich sehe wieder das schwarzweiße Muster der Fliesen in der Halle, durch die ich schlich, ich höre das Knarren eines Fensterflügels, seltsam eintönig, melodisch, ähnlich dem Klang der Windharfe, und ich fühle mein Herz schlagen, dumpf und hart.

      Und dann blickte ich wieder in Tatjanas Augen, die dunkel und glänzend und tief in den Höhlen liegen, die schönsten Augen, die ich jemals sah, und ich sehe die nackte Angst in ihrem Blick. Angst wovor?

      Es sollte einen ganzen Sommer lang dauern, bis mir diese Frage beantwortet und dieses Rätsel gelöst wurde. Einen Sommer, der atemberaubend schön hätte sein können, ja, sein müssen, wenn nicht diese Augen gewesen wären und diese Angst und ein paar andere merkwürdige, unerklärliche Dinge, mit denen ich nicht gerechnet hatte, als ich die Einladung nach Schloß Ahrgau annahm.

      »Tatjana«, flüsterte ich in jener Nacht und schob mich so nah an sie heran, daß ich den schwachen Duft ihres herben Parfüms atmen konnte, »wovor fürchten Sie sich denn? Das Schloß ist voll von Personal. Ihr eigener Mann schläft ruhig in seinem Bett, und Sie geistern durchs Treppenhaus auf der Suche… ja, auf der Suche nach was?«

      Der Ausdruck ihrer schönen Augen änderte sich nicht. Sie lächelte ein vages, fernes Lächeln, und ich sah zum erstenmal einen Abglanz der Schwermut auf ihrem schmalen Gesicht, die es später zeichnen sollte wie eine fremde Maske.

      »Das frage ich mich auch«, erwiderte sie leise, halb scherzhaft, halb vieldeutig. »Ich frage mich schon lange, wonach ich überhaupt im Leben je gesucht habe.«

      Die Antwort befriedigte mich nicht im geringsten. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt, und abgesehen von einer Schwärmerei für den Schloßherrn, dessen Gast ich in diesem Sommer war und die längst der Vergangenheit und Jugendzeit angehörte, fühlte ich mich als durchaus realistisches Mädchen. Auf eine klare Frage erwartete ich eine klare Antwort. Tatjana war mir diese Antwort schuldig geblieben, und das verübelte ich ihr ein bißchen.

      Gerade wollte ich sie die breite geschwungene Treppe wieder hinaufführen, als das ferne eintönige Singen der Windharfe wieder erklang, und diesmal gefror mir das Blut in den Adern.

      Ich starrte in Tatjanas weit aufgerissene Augen und konnte mich von ihrem beschwörenden Blick nicht mehr lösen.

      »Was um alles in der Welt«, begann ich so leichthin wie möglich, aber die Stimme gehorchte mir nicht ganz, »jetzt hält mich nichts mehr zurück, ich gehe nachsehen. Das kann nur ein offenes Fenster sein, das im Nachtwind hin und her pendelt. Entweder Sie kommen mit oder…«

      »Nein«, preßte sie wild hervor und umkrampfte meinen Ellenbogen mit einer Kraft, die man ihr nie zugetraut hätte. »Sie sehen nicht nach! Sie bleiben hier, und ich bleibe auch hier. Wir gehen jetzt beide hinauf und trinken einen Tee in meinem Salon, oder auch einen Gin oder einen Whisky, ganz wie Sie wollen.« Der Griff um meinen Ellenbogen lockerte sich zwar noch nicht, aber ihr Gesicht nahm wieder ein wenig Farbe an. »Ich für meine Person«, fügte sie hinzu und brachte ein Lächeln zustande, »nehme am liebsten einen Barac. Wie ist es, halten Sie mit?«

      Es war Mitternacht vorbei. Aber ich war so hellwach, als sei es früher Vormittag, und ein Blick in die dunkle Tiefe des unbeleuchteten Treppenhauses ließ mich leicht erschauern. Nein, ich war ebensowenig ein Held wie Tatjana von Ahrgau.

      Dicht nebeneinander stiegen wir die Stufen wieder hinauf, gingen auf Zehenspitzen durch den Flur im ersten Stock des Schlosses und ignorierten die düsteren Ahnenbilder, die beiderseits die Wände schmückten.

      Ich zog unwillkürlich eine Grimasse, als ich die bleichen, von den Jahrhunderten ausgeblaßten Gesichter im Schein des kleinen Notlichts betrachtete, das Tatjana angeknipst hatte, bevor sie ihre Tür öffnete.

      »Kommen Sie herein, Lillian, hier finden wir alles, was wir brauchen: Licht und Wärme und Ruhe und Geborgenheit und jedes Getränk, das Sie sich wünschen.«

      Ich nickte ihr zu, aber bevor ich die Tür hinter mir schloß, hörte ich fern, melodisch und unsagbar melancholisch, das Lied der Windharfe, die keine Windharfe war.

      »Hören Sie«, sagte ich zu meiner Gastgeberin, noch bevor ich mich auf einen ihrer blaßgelben Chintzsessel setzte, »konnten Sie sich nie dazu durchringen, Constantin, Ihren Mann, hier wegzulocken? Es mag ja in den Augen Außenstehender ein wunderschöner Besitz sein, aber ich weiß, seitdem ich hier logiere – und Sie wissen es noch besser als ich ­–, daß es ein alter Plüschkasten mit viel zu vielen Zimmern, altmodischer Heizung, vergilbten Bildern und alles in allem viel zu vielen Erinnerungen ist. Dieses Schloß ist – entschuldigen Sie – ein Alptraum.«

      Tatjana sah mich mit einem verwirrten, um nicht zu sagen fassungslosen Lächeln an.

      »Wie meinen Sie das, Lillian? Ein Mann gehört dahin, wo er herkommt. Er hat immer hier gelebt, er wird immer hier leben. Ich finde das ganz normal, und nie käme ich auf die Idee, ihn aus seinem Elternhaus zu verjagen, nur weil ich meinen Launen und Stimmungen gelegentlich zu sehr nachgebe. Nein, nein, das würde ich nie von ihm verlangen.«

      »Wissen Sie«, murmelte ich und trank einen Barac mit einem Zug aus, »wissen Sie, Tatjana, daß Sie viel zuwenig von ihm verlangen? Warum zum Kuckuck sind Sie immer so verflixt unterwürfig und mit allem einverstanden? Warum wehren Sie sich nicht ab und zu gegen Dinge, die Ihnen hier mißfallen? Wenn Sie ihm schon seinen Willen mit dem Schloß lassen, dann ändern Sie es doch wenigstens nach und nach in Ihrem Sinne ein bißchen um. Warum denn nicht? Es ist vorsintflutlich in mancher Beziehung, es ist viel zu weitläufig, zu unübersichtlich. Kein Mensch kennt sich genau darin aus, nicht mal Constantin selbst. Wenn sogar mich das kalte Gruseln packt – und ich bin weiß Gott kein Mensch, der leicht aus der Fassung zu bringen ist –, dann stimmt doch irgend etwas nicht. So, wie es jetzt ist, fühlt sich anscheinend keiner hier richtig wohl, nicht mal Bodo.«

      »Bodo?« Sie griff den Namen ihres Schäferhundes auf.

      »Ja, Bodo. Er schleicht genauso unglücklich herum wie wir beide vorhin im Treppenhaus. Ich hatte Sie übrigens nicht sofort gesehen und dann auch nicht gleich erkannt. Daher mein Erschrecken.«

      »Ich auch nicht«, murmelte sie, »ich hatte dieses Gespräch gehört, Sie wissen schon.«

      »Ich weiß. Und was mich eben wundert, ist die Tatsache, daß Bodo dieses Geräusch offenbar nicht gehört hat. Denn angeschlagen hat er nicht. Das finde ich komisch. Constantin hat mir erzählt, wieviel Zeit und Mühe auf seine Dressur verwendet worden ist. Er hätte doch Krach schlagen müssen nach Noten.«

      Tatjana seufzte leicht. Sie zuckte die Schultern und trank dann endlich ihren Barac aus.

      »Möglich«, sagte sie vage, »aber vielleicht hört man unten, wo er liegt, dieses Geräusch nicht so sehr.«

      »Unmöglich!« entfuhr es mir. »Der Ton kam von unten!«

      Sie sah mich lange an.

      »Ja«, murmelte sie, »er kam von unten. Und Bodo hat ihn nicht gehört. Er hat überhaupt nicht darauf reagiert. Worauf läßt das schließen.«

      Ich dachte kurz und angestrengt nach.

      »Daß er daran gewöhnt ist«, erklärte ich schließlich.

      Tatjana nickte. Dann schloß sie die Augen und lehnte ihren Kopf an die Sessellehne. Sie sah aus wie ein Mensch, der so müde ist, daß er sich kaum mehr auf den Beinen halten kann. Aber ihre Müdigkeit schien nicht nur körperlicher Art. Sie schien von innen zu kommen.

      »Bitte«, flüsterte ich, »sagen Sie mir, wovor Sie Angst haben. Ich werde Sie nicht verraten. Ich schwöre es Ihnen! Ich werde Ihnen helfen, wenn ich kann!«

      Sie öffnete die Augen und maß mich mit einem langen Blick.

      Als sie sprach, klang ihre Stimme verloren und tonlos: »Merkwürdig, Sie wären der einzige Mensch, dem ich mich anvertrauen würde, obwohl Sie Constantins alte Liebe sind.«

      »Unsinn!« unterbrach ich sie heftig. »Ich bin nicht seine alte Liebe. Wir haben mal zusammen auf einem Studentenfest gefeiert, Sie wissen, wie so was geht. Und dann haben wir uns ein paar Wochen lang regelmäßig getroffen. Ich spielte damals auf der Studentenbühne, und er half beim Einstudieren.