Über die Telefonauskunft bekam Fee die Nummer von Leonie von Lüding, aber es meldete sich nur der Anrufbeantworter. Die Stimme sagte, daß sie erst am Montag wieder zu erreichen wäre.
»Wie wollen wir verbleiben?« fragte Daniel. »Sollen wir die Verlegung nach München schon veranlassen?«
»Ihr Zustand ist stabil, und im Interesse der Patientin wäre es mir recht, wenn sie in eine Klinik käme, die modern ausgestattet ist. Bei uns sind Sonderbehandlungen ja nicht möglich.«
»Dann werde ich mit Ihrer Zustimmung den Transport veranlassen und Frau Corelli mit einem Sanitätsflugzeug holen lassen, sobald die klinische Unterbringung gesichert ist. Bis Montag wird es allerdings dauern.«
»Das ist schon in Ordnung. Vielleicht erwacht sie bis dahin doch aus dem Koma, wenn es jetzt auch noch nicht danach aussieht. Dann aber könnte sie selbst entscheiden und uns weiterhelfen.«
Fee blickte wieder auf das Gesicht hinab, das ohne Leben schien und doch soviel ausdrückte, soviel Schmerz und – was zeichnete sich da noch ab? Abwehr, Zorn, Widerwillen? Was war geschehen, was hatte man ihr angetan? Wo war ihr Mann? War sie entführt worden, aber warum hatte er dann nichts unternommen? Oder hatte er das, und die Polizei der verschiedenen Ländern arbeitete wieder einmal aneinander vorbei?
Als sie sich von Dr. Brankow verabschiedeten, sagten sie, daß sie morgen anrufen würden. Vielleicht konnten sie in München auch schon etwas in Erfahrung bringen, oder einen oder den anderen Kontakt aufnehmen.
Fee streichelte Violas Hände. »Wir holen dich nach Haus, du armes Geschöpf«, sagte sie leise. »Du bist nicht verlassen.«
*
Die Kinder hatten sich nicht gelangweilt, aber sie hatten auch Unmengen verdrückt. Fee und Daniel tranken noch einen Kaffee und aßen Apfelstrudel. Daniel war in Gedanken. »Bis zur Schweizer Grenze sind es etwa dreißig Kilometer, und da ist auch das Dreiländereck«, sagte er.
»Was für drei Länder, Papi?« fragte Anneka.
»Österreich, Schweiz und Italien«, erwiderte er. »Die Grenzen sind in den Bergen verwischt.«
»Es nützt nichts, wenn wir Vermutungen anstellen«, meinte Fee. »Wir müssen recherchieren.«
»Mal wieder ein aufregendes Wochenende. Hatten wir nicht gerade erst eins?«
»Diesmal ist es ja was ganz anderes. Sie könnte tot sein, Daniel. Ich bekam einen gewaltigen Schrecken, als ich sie erkannte.«
»Ich aber auch.«
»Von wem redet ihr eigentlich?« fragte Danny.
»Von Viola von Lüding, erinnerst du dich noch an sie?«
»Wo die riesige Hochzeit war, bei der Gucki Blumen gestreut hat? Sie redet immer noch davon.«
Gucki war eine Schulfreundin von ihm. Wie sie richtig hieß, wußte Fee immer noch nicht, aber ihre Eltern gehörten zum Adel. Von Dellbrügg hießen sie.
»Da können wir einhaken«, sagte Fee.
»Wo, meinst du?« fragte Daniel.
»Bei den Dellbrüggs, sie waren mit den Lüdings befreundet. Danke, Danny, daß du mich darauf gebracht hast.«
»Was ist denn mit Viola, sag doch endlich«, drängte der Junge.
»Sie hatte einen Unfall und liegt hier im Koma. Aber wir wollen sie nach München holen.«
»Das finde ich aber schrecklich traurig«, sagte Danny. »Da wird Gucki auch traurig sein.«
»Unfälle passieren jeden Tag«, sagte Felix, »da kann man sich nicht immer aufregen, wenn man die Leute gar nicht kennt.«
»Aber wir kennen Viola«, sagte Fee verweisend.
»Tut mir ja auch leid«, brummte Felix.
Sie traten wieder die Heimfahrt an, wollten unterwegs an einem schönen Ort Pause machen und etwas Kräftiges essen.
Hier konnten sie doch nicht mehr erfahren, als sie nicht schon von Dr. Brankow wußten.
Die Zeit war schnell vergangen, und zu spät wollten sie auch nicht heimkommen.
»Auf dem Heimweg könnten wir eigentlich bei Frau von Lüding anhalten. Vielleicht läßt sie sich nur nicht telefonisch sprechen und ist doch zu Hause«, sagte
Fee.
»Wenn es kein großer Umweg ist«, meinte Daniel.
»Ist es nicht. Du kannst mich ans Steuer lassen, ich kenne mich in der Gegend aus.«
»Wieso denn das?«
»Weil ich während des Studiums dort gewohnt habe.«
»Das ist es? Aber keine besonders vornehme Gegend.«
»Ein Stück Alt-München. Es hat Atmosphäre. Frau von Lüding ist Malerin und Illustratorin.«
Sie wohnte in einem wunderschönen renovierten Altbau aus der Gründerzeit. Das gefiel Daniel auch. Fee versuchte es allein, und siehe da, der Türöffner summte.
»Geh nur schon«, sagte Daniel, »ich bleibe bei den Kindern.«
Die Wohnung lag im zweiten Stock, und es gab keinen Lift. Oben stand ein hübsches junges Mädchen, das Fee verblüfft ansah. »Ich dachte, Tante Lex kommt«, sagte sie. »Wollen Sie denn zu ihr?«
»Mein Name ist Fee Norden, und ich möchte zu Frau von Lüding«, sagte Fee.
»Sie ist aber nicht da, sie ist ein paar Tage in der Schweiz«, erwiderte das Mädchen. »Ich bin Sissi Heyken, eine Schülerin von Tante Lex. Ich wohne auch bei ihr. Leider habe ich Ihren Namen noch nicht gehört.«
»Wir sind Bekannte von Viola, und ich wollte fragen, wann Frau von Lüding zum letzten Mal Nachricht von Viola hatte.«
»Warum fragen Sie? Wegen Viola ist Lex doch in die Schweiz gefahren«
»Um sie zu treffen?«
»Weil sie telefonisch nicht in Klosters zu erreichen war. Viola war krank, deswegen ist Lex besorgt.«
»Ist Violas Mann auch in Klosters?«
»Der ist in Kapstadt, soviel ich weiß. Aber sprechen Sie lieber mit Lex. Sie wollte morgen zurückkommen.«
»Dann sagen Sie ihr bitte, daß ich sie dringend sprechen möchte. Dies ist meine Karte, sie möchte mich doch bitte anrufen, wenn sie zurück ist.«
»Gern, Frau Dr. Norden«, sagte Sissi, nachdem sie einen Blick auf die Karte geworfen hatte. Sie war sichtlich verwirrt, aber Fee war froh, daß sie keine Fragen mehr stellte.
»Hast du was erreicht?« fragte Daniel.
»Eine junge Dame war da. Sissi Heyken heißt sie. Frau von Lüding ist in der Schweiz. Viola scheint in Klosters gewesen zu sein.«
»Dann führt die Spur doch in die Schweiz, aber wieso dann nach Landeck?«
»Mich mußt du nicht fragen, mein Schatz. Ich zerbreche mir schon genug den Kopf.«
»Und ihr Mann?« meinte Daniel düster.
»Der soll in Südafrika sein. Es ist schon sehr merkwürdig.«
»Und vielleicht gibt es eine ganz einfache Lösung.«
»Aber welche?«
»Daß sie sich getrennt haben«, erklärte Daniel.
Fee sah ihn mit großen Augen an. »Du meinst, daß er Viola verlassen hat? Nach dieser kurzen Zeit?« Sie hielt den Atem an. »Und sie könnte verzweifelt gewesen sein?« fuhr sie fort. »Nein, das glaube ich nicht, das kann ich nicht glauben!«
»Haben sie eigentlich schon ein Kind?« setzte Daniel den Dialog nach kurzem Überlegen fort.
»Das hätten wir doch sicher