Weile später kam sie in Begleitung Jettchens wieder, die mit viel Liebe und Umsicht das kleine Haus und seine wenigen Bewohner betreute. Sie trug ein besetztes Tablett in den Händen, und ein forschender Blick ging zu dem Jüngling hinüber.
»Nun, Heino, wieder einmal zu Hause?« begrüßte sie ihn harmlos, während sie das Geschirr hinstellte und flink den Tisch deckte.
Heino brummte etwas, was wohl einen Gegengruß bedeuten sollte, und starrte unentwegt weiter zu dem Fenster hinaus, an dem er stand. Erst als die Schwester ihn ansprach, fuhr er herum und setzte sich an den Tisch.
Während die Geschwister aßen, ging Iris’ Blick verstohlen zum Bruder hin.
Es war nicht das erstemal, daß er so vor ihr saß, unzufrieden mit sich und seinem Geschick. Aber diesmal schien er besonders verbittert zu sein. Er konnte es eben nicht verwinden, daß er Kaufmann und nicht Landwirt werden sollte; konnte sich nicht damit abfinden, daß nun ein anderer Herr Rotbuchens war, an das er ein heiliges Recht zu haben glaubte.
Daran trug hauptsächlich der Vater die Schuld, der seine beiden Kinder in diesem Geist erzogen hatte. Deswegen war es ihnen doppelt schwergefallen, sich nach dem Zusammenbruch mit dem neuen Leben voll Not und Entbehrung abzufinden.
*
»Ich habe etwas Eiliges zu erledigen«, sagte Uhde, als Iris zu ihm ins Arbeitszimmer trat. »Hoffentlich habe ich Ihre Mittagszeit nicht zu sehr verkürzt?«
»Nein!« antwortete sie ihm mit demselben kühlen Ton in der Stimme.
Dann sprachen sie über geschäftliche Dinge.
Es war mehr als eine Stunde darüber gegangen, als Rechtsanwalt Greißner nach kurzem Klopfen das Zimmer betrat. Sein Gesicht spiegelte peinliche Verlegenheit wider, als er die Privatsekretärin neben dem Gutsherrn gewahrte.
»Willkommen in der Heimat, Olaf!« rief er dann, schnell gefaßt, und schüttelte dem Freund kräftig die Hände. »Laß dich mal anschauen, alter Junge! Potztausend, du bist ja ein Bild von einem Kerl geworden! Ich freue mich unbändig, daß du wieder da bist. Hast auch höllisch lange auf dich warten lassen!«
Iris wollte das Wiedersehen der Freunde nicht stören; sie zog sich unauffällig in das Nebenzimmer zurück, einen mäßig hohen Raum, in dem sie bisher gearbeitet hatte. Sie wußte nicht recht, ob sie gehen oder bleiben sollte. Aber ihre Dienststunden waren ja noch nicht um; da konnte es doch leicht sein, daß Uhde sie noch zu sprechen wünschte.
So machte sie sich denn an die Arbeit, die es ja immer reichlich für sie gab. Leider unterhielten sich die Freunde so laut und lebhaft, daß sie durch die geschlossene Tür jedes Wort verstehen konnte.
Wie peinlich das war! Aber für sie nicht zu ändern; sie mußte während der Dienstzeit auf ihrem Platz verharren. –
»Wieder zu Hause zu sein – was für ein wundersames Gefühl das doch ist!« hörte sie soeben Uhde sagen. »Sämtliche Palmen und Zypressen können mir gestohlen bleiben – jetzt will ich mich wieder einmal an Tannen und Eichen sattsehen!«
»So schlimm war das Heimweh, Olaf?«
»Noch schlimmer, Oskar! Eine wahre Höllenfolter! In der ersten Zeit ließ es sich noch von all dem Neuen, Niegeschauten verdrängen, und dann hielt mich meine Ehe mit tausend Banden fest –«
Er schwieg, und der Freund sah ihn mitleidig an. »Der Tod deiner Gattin ist dir wohl sehr nahe gegangen, du armer Kerl, wie?«
»Allerdings! Wäre meine kleine Stieftochter nicht gewesen, die mit ganzem Herzen an mir hängt, wer weiß – doch so hielt mich noch immer die Verantwortung, die ich dem Kind gegenüber habe. Ich wußte, daß Graziella mit mir alles verlieren würde.«
»Wie lange ist eigentlich deine Frau tot?«
»Fast zwei Jahre.«
»Und warum kamst du da nicht gleich in die Heimat zurück?«
»Zuerst fehlte es mir an der nötigen Willenskraft, um mein Leben zu ändern. Dann fürchtete ich auch, daß meine Tochter das rauhe Klima hier nicht vertragen könnte. Doch als du mir schriebst, daß Rotbuchen verkäuflich sei, da waren alle Bedenken wie weggeweht, da war nur noch der übermächtige Wunsch in mir, auf schnellstem Wege in die Heimat zurückzukehren. Und wenn Graziella unser Klima vertragen sollte, dann will ich diese Ungeduld segnen, jeden Tag aufs neue.«
»Wo ist eigentlich Fräulein Grall geblieben?« fragte Greißner nach einer längeren Gesprächspause.
»Sie wird nach Hause gegangen sein. Warum hast du mir nichts davon geschrieben, daß sie Privatsekretärin in Rotbuchen ist?«
»Weil ich fürchtete, daß dich das am Heimkommen hindern könnte; denn schließlich bist du ja um dieses Mädchens willen ins Ausland gegangen. Ich bin zwar kein Arzt – und ein Seelenarzt schon gar nicht. Aber ich habe mir sagen lassen, daß es nicht guttäte, eine Wunde wieder aufzureißen, weil sie sich dann nie schließe. Und die Wunde, die du damals davontrugst, schien bedenklich schwer zu sein. Wenn ich dir da noch viel über Iris Grall geschrieben hätte, so wäre das eben ein solches Wiederaufreißen der gefährlichen Wunde gewesen.«
»Du bist ein guter Kerl, Oskar«, sagte Uhde warm. »Aber deine Rücksicht wäre nicht nötig gewesen, weil ich bald über meinen damaligen Kummer hinweggekommen bin. Ich habe in Graziellas Mutter so vollkommen mein Frauenideal gefunden, daß ich der Art einer Iris Grall gewiß keinen Geschmack mehr abgewinnen kann.«
»Dann sage ich: Gott sei Dank!« atmete der Freund befreit auf. »Da hätte ich mir bestimmt nicht so schwere Gedanken darüber zu machen brauchen, wie ich dir am geschicktesten beibringen könnte, wer deine Privatsekretärin ist. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte sie ihre Stellung sofort aufgeben müssen; denn ein erquickliches Zusammenarbeiten wird es kaum zwischen euch werden. Die Art, wie sie dich damals abfallen ließ, war doch immerhin so beleidigend, daß ein Mann das kaum jemals ganz verwinden könnte.«
»Du irrst, Oskar. Fräulein Grall ist mir jetzt genauso gleichgültig wie jede andere Sekretärin.«
»Das ist ja großartig! Da hätte ja dann alles wunderbar geklappt, und mein Zittern und Zagen um deine Seelenruhe ist unnötig gewesen. Hat es dich wenigstens überrascht, deine einstige Angebetete als deine Privatsekretärin wiederzusehen?«
»Das kann ich allerdings nicht leugnen. Ich wollte mich nämlich hier gleich tatendurstig in die Arbeit stürzen und vertiefte mich zu dem Zweck sofort in die Akten, die musterhaft geordnet auf meinem Schreibtisch lagen. Trotzdem waren sie mir ein Buch mit sieben Siegeln. Und da ich hörte, daß meine Sekretärin mir darüber genaue Auskunft geben könnte, ließ ich die Dame herrufen – in der ich selbstverständlich niemals Iris Grall vermutet hätte. Ich glaubte sie doch längst mit Almrudt verheiratet. Wie kommt es überhaupt, daß dieses verwöhnte, hochmütige Mädchen Gutssekretärin geworden ist?«
»Das ist in wenigen Worten gesagt, Olaf; denn es ist viel zu bekannt, als daß es noch ein Geheimnis wäre: Zusammenbruch der Finanzen, weil Herr Grall schon immer über seine Verhältnisse gelebt hatte – und sich durch einen reichen Schwiegersohn gesund zu machen hoffte. Da muß er aber doch bei dem Almrudt gründlich vorbeigetippt haben, denn die Heirat kam nicht zustande. Man munkelt sogar, daß Gralls Hände nicht ganz – sauber waren, und daß er in Machenschaften steckte, die große Ähnlichkeit mit – Betrug hatten. Jedenfalls ging er allem, was unweigerlich folgen mußte, aus dem Wege, indem er sich eine Kugel durch den Kopf schoß. Die Frau rührte darüber der Schlag, so daß sie jetzt noch an den Rollstuhl gefesselt ist. Die Hauptleidtragenden waren jedoch entschieden die beiden Kinder. Aus der schönen, vergötterten Iris wurde eine Sekretärin – und der Junge, der auf Wunsch seines Vaters schon als kleiner Knirps von den Gutsleuten als späterer Herr respektiert werden mußte, macht sich jetzt als Kaufmannslehrling recht unbeliebt.
Das alles hat damals – fünf Jahre sind es wohl her – viel Staub aufgewirbelt. Man gönnte allgemein den hochmütigen Leuten ihr trauriges Geschick – hauptsächlich der selbstherrlichen Iris, die erfahren mußte, wie weh es tut, wenn der Bräutigam die Braut kaltlächelnd sitzenläßt, um eine andere zu nehmen,