muss. Das Lachen kommt von der Übermüdung.
CELINE
(deutet auf den Koffer) Schöne Farbe.
CLAUDIA
Ja, ich mag türkis auch gerne.
CELINE
Türkis?
CLAUDIA
Das ist türkis.
Pause.
CELINE
(verträumt) Mittelblaugrün. (Pause) Haben Sie schon einmal einen Italiener getroffen, der mittelblaugrüne Augen hat?
CLAUDIA
Einen Italiener?
CELINE
(stolz) Der Vater von Roberto ist ein Italiener.
CLAUDIA
Trägt er Farblinsen? (prustet) Entschuldigung.
CELINE
Der Koffer ist ganz schön schwer. Ich wüsste nicht, womit ich so einen Riesenkoffer voll kriegen könnte.
CLAUDIA
Ich bin schon seit einigen Wochen unterwegs. (versucht das Lachen zu unterdrücken) Und das Klima wechselt von Land zu Land. In Deutschland war es um einiges kälter als in Frankreich. Und hier – Ihr habt hier sogar Schnee.
CELINE
Wir haben hier viel Schnee. Haben Sie noch nie Schnee gesehen?
CLAUDIA
(prustet) Natürlich habe ich Schnee gesehen, aber – Ich meine, nicht in diesem Jahr.
CELINE
Es ist auch bei uns nicht jedes Jahr so, dass es so früh im Winter schneit. Und wenn man so will, ist eigentlich noch Herbst. Jetzt ist doch erst Mitte November, oder?
CLAUDIA
Der siebzehnte November.
CELINE
(atmet laut aus, betrachtet die Stelle, an der das Foto gehangen hat, nickt nachdenklich mit dem Kopf) Der siebzehnte November.
CLAUDIA
Man kann die Stelle erkennen, wo das Foto gehangen hat.
CELINE
Soll ich es zurückhängen? Wo bleibt Roberto so lange? Ich glaube, es ist besser, ich hänge das Foto zurück.
CLAUDIA
Ich weiß es nicht.
CELINE
Doch, ich hänge es zurück. (will raus, um das Foto zu holen)
CLAUDIA
Tragen Sie auch sein Foto in ihrem Portemonnaie? Hinter der Klarsichtfolie?
CELINE
(zögert) Nein.
CLAUDIA
Ich finde es immer so unangenehm, wenn Frauen an der Supermarktkasse ihre Portemonnaies aufmachen, und man wird gezwungen, auch wenn man es überhaupt nicht möchte, deren ganzen Haufen Elend mitzuerleben: den harmlosen Ehemann, die vernünftigen Kinder, die süßen Enkelkinder, den schlauen Hund, die kuschelige Katze. Auch wenn das nur eine Minute lang, nur eine halbe Minute lang dauert, fühle ich mich für den Rest des Tages missbraucht.
CELINE
Ich hole das Foto.
CLAUDIA
Lassen Sie das mit dem Foto, hängen sie es nicht zurück, wenn sie es schon einmal abgehängt haben.
CELINE
Aber das ist doch was völlig anderes –
CLAUDIA
Die kleinen Fotos hinter der Klarsichtfolie, die man seit zwanzig Jahren mit sich rumträgt, nimmt man genauso wenig wahr wie auch ein Porträtfoto, das zwanzig Jahre an der Wand in der Wohnküche hängt.
CELINE
Um genauer zu sein, seit achtzehn Jahren. Vor achtzehn Jahren habe ich das Foto an dieser Stelle aufgehängt, seitdem habe ich Robertos Vater nicht mehr gesehen.
CLAUDIA
Für einen selbst ist es völlig egal, ob das Foto an der Wand hängt oder nicht, weil man es nicht wahrnimmt. Schon nach einem Jahr, nach einem Monat, nach einer Woche nimmt man es nicht mehr wahr. Man hängt das Foto an die Wand oder man steckt es hinter die Klarsichtfolie, damit die anderen das sehen. Man hofft, dass die anderen sich dafür interessieren werden. Aber die anderen interessieren sich nicht dafür, weil sie die eigenen Ehemänner, Katzen und Enkelkinder hinter die Klarsichtfolie ihres Portemonnaies gesteckt haben und sie genauso seit zwanzig Jahren nicht mehr wahrnehmen. Man ist im Grunde sowieso immer allein. Ob meine Mutter mich im Personalausweis-Foto-Format mit einem freien Ohr hinter der Klarsichtfolie ihres Portemonnaies mit sich rumträgt oder nicht: Was macht das für mich für einen Unterschied? Was bringt mir das, dass der nächste Kunde, der in der Schlange eines Supermarktes hinter meiner Mutter steht, mein freies Ohr sieht? Ich stehe hier sowieso mutterseelenallein!
CELINE
Leiden Sie unter Depressionen?
CLAUDIA
Ich glaube, ich bin einfach müde.
CELINE
Sie sollten sich untersuchen lassen, ich meine, solch plötzlicher Stimmungswechsel könnte ein Anzeichen für psychische Dysregulation sein.
CLAUDIA
Sind Sie Medizinerin?
CELINE
Nein, seit der Vater von Roberto weggefahren ist, leide ich an akuter psychischer Dysregulation.
CLAUDIA
Seit achtzehn Jahren?
CELINE
(stolz) Seit achtzehn Jahren akut.
CLAUDIA
Wau! Ich glaube nicht, dass ich an akuter psychischer Dysregulation leide.
CELINE
Der plötzliche Stimmungswechsel deutet aber darauf hin.
CLAUDIA
Ich bin einfach müde, die Reise war ziemlich anstrengend.
CELINE
Es geht doch schnell mit dem Zug. Vielleicht leiden Sie an einer latenten psychischen Dysregulation?
CLAUDIA
Ich bin nicht mit dem Zug gekommen, ich bin geflogen.
CELINE
Dann können Sie nicht müde sein. Ich habe gelesen, dass bei Ihnen immer mehr junge Leute unter Depressionen leiden. Und dass sich das Alter der Betroffenen immer weiter nach unten verschiebt. Die werden immer jünger, die jungen Leute, die unter Depressionen leiden.
CLAUDIA
Ich falle bestimmt nicht in die Zielgruppe der Studie, von der Sie gelesen haben, ich bin viel zu alt dafür und außerdem leide ich an nichts.
CELINE
Jeder Mensch leidet an etwas. So was gibt es nicht, dass man an nichts leidet, das glaube ich Ihnen nicht. Auch wenn das nur Männerlosigkeit ist, unter der man leidet, man leidet trotzdem darunter.
CLAUDIA
Bitte was?
CELINE
Das ist das Leiden von Oma Franzi: Männerlosigkeit. Die lateinische Bezeichnung für diese Krankheit kann ich Ihnen leider nicht sagen, die kenne ich nicht. Wenn man an dieser Krankheit leidet, leidet man daran, dass man keinen Mann hat. Klarer kann ich es nicht mehr sagen. Man ist halt männerlos, so wie andere kinderlos sind.
CLAUDIA
Das ist mir schon klar, danke.
CELINE
Warum sagten Sie, dass Sie nicht in die Zielgruppe der Studie fallen, weil Sie zu alt sind?
CLAUDIA
Weil