bin.
CELINE
Ich weiß nicht, ob ich mir das erlauben darf, aber ich würde Sie auf Anfang zwanzig schätzen und die Studie umfasste Jugendliche zwischen sechszehn und fünfundzwanzig.
CLAUDIA
Ich werde öfter auf viel jünger geschätzt, als ich in Wirklichkeit bin.
CELINE
Freuen Sie sich nicht darüber?
CLAUDIA
Warum sollte ich mich darüber freuen, dass ich auf Anfang zwanzig geschätzt werde, wenn ich in Wirklichkeit dreißig bin. Wozu habe ich die Jahre gelebt, wenn man sie mir nicht ansieht.
CELINE
Für die innere Reife.
CLAUDIA
Innerlich würde ich mich auf sechzehn schätzen. Das Problem ist, dass ich mich mit jedem Jahr, das dazukommt, immer jünger fühle. Heute fühle ich mich viel jünger als ich mich vor zehn Jahren gefühlt habe.
CELINE
Vielleicht sollten Sie sich doch ärztlich untersuchen lassen. Ich meine es ernst.
CLAUDIA
Meine Diagnose lautet: Alterslosigkeit oder wie? (Pause) Vor zehn Jahren wäre ich nicht auf die Idee gekommen, hierher zu fahren, ich hätte es für unvernünftig gehalten. Jetzt sitze ich in Ihrer Wohnküche.
CELINE
Ich kann Ihnen gerne das Gästezimmer zeigen, aber das hier ist der wärmste Raum in dem ganzen Haus. Finden Sie es hier nicht gemütlich?
CLAUDIA
Doch, doch. Die Luft ist nur ein wenig muffelig.
CELINE
(schnuppert) Man kann hier nicht lüften, die Fenster sind zugenagelt. Oma Franzi hat Angst vor Einbrechern. Ich könnte aber ein wenig Lufterfrischer in den Raum sprühen.
CLAUDIA
Nein, bitte nicht. Die Luft stört mich überhaupt nicht, was ich sagen wollte, dass ich es für eine verrückte Idee von mir halte, hierher zu kommen. Das merke ich erst, wo ich hier, in Ihrer Wohnküche sitze. Nicht, dass ich es hier nicht gemütlich finde, das überhaupt nicht, das wollte ich auch nicht sagen, nur jetzt, wo der ganze Reisestress vorbei ist, merke ich besonders deutlich, dass es verrückt von mir war, so eine Reise zu unternehmen.
CELINE
Das alte Lied: Man fährt nach Spanien, nach Italien, aber um hierher zu kommen muss man ein Verrückter sein.
CLAUDIA
Das muss man wirklich, glaube ich.
CELINE
Und was muss man sein, um hier zu leben? Ein völliger Idiot?
CLAUDIA
Reicht es nicht, dass man hier geboren ist?
CELINE
Und dann ist man automatisch ein Idiot? Das wollten Sie damit sagen.
CLAUDIA
Man ist ein Einheimischer. Das ist etwas völlig anderes als –
CELINE
Als was?
CLAUDIA
Als wenn man nur als –
CELINE
Ach, lassen Sie es!
CLAUDIA
Als wenn man nur als Tourist hierher kommt.
CELINE
Das ist es genau: Alle Touristen sind Menschen und wir sind alles Idioten hier.
CLAUDIA
So habe ich es nicht gemeint.
CELINE
Das ist meine Meinung. Das Schlimmste ist, die meisten merken nicht einmal, dass sie Idioten sind. Was glauben Sie, warum ich mich in einen Italiener verliebt habe? Es sieht scheußlich aus.
(Claudia schaut auf sich runter.)
Die Stelle, an der das Foto gehangen hat, sieht scheußlich aus. Ein hellerer Fleck ist an der Wand geblieben. Den sieht man ganz deutlich. Sehen Sie?
CLAUDIA
Also, scheußlich ist das nicht. Man sieht, dass etwas abgehängt wurde, was jahrelang an der Stelle gehangen hat.
CELINE
Ich glaube, ich hänge das Foto zurück, solange Roberto nicht gesehen hat, dass ich es abgehängt habe.
CLAUDIA
Es sieht überhaupt nicht scheußlich aus. Die Wandfarbe wird sich mit der Zeit ausgleichen.
CELINE
Warten Sie, ich – Ich hole es.
CLAUDIA
Wo ist er jetzt?
CELINE
Roberto?
CLAUDIA
Der Mann von dem Foto, der ist doch nicht tot.
CELINE
Er ist zurück nach Italien.
CLAUDIA
Hat er Sie allein mit dem Kind sitzen lassen?
CELINE
Ich hole es. (ab)
Claudia schaut sich in der Wohnküche um, entdeckt einen Spiegel, stellt sich vor ihn, betrachtet sich einen Moment lang im Spiegel, geht zum Koffer, versucht ihn zu öffnen, der Verschluss klemmt.
CELINE
(kommt zurück mit dem eingerahmten Foto in den Händen, sie hat sich umgezogen: sie hat jetzt schwarze Pumps, einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse an, wie zu Feierlichkeiten, sie liefert auch entsprechend feierliche Stimmung dazu, spricht lauter, heiterer) Wo bleibt denn Roberto so lange? Manchmal frage ich mich, ob ich ihm nicht zu viel erlaube, aber – Kriegen Sie Ihren Koffer nicht auf?
CLAUDIA
Der Verschluss klemmt, ich glaube, er ist verrostet. Der ist schon uralt, der Koffer.
CELINE
Die Lippen hat er von seinem Vater. Eindeutig.
CLAUDIA
Wer jetzt? Roberto oder der Herr auf dem Foto? Wer hat die Lippen von seinem Vater?
CELINE
Roberto. Sie werden es gleich sehen, er sollte jede Minute da sein. Um diese Zeit ist er normalerweise zu Hause – Er hat sicherlich jemanden getroffen und unterhält sich auf der Straße, vor dem Haus. Er hat viele Freunde. (drückt ihr Gesicht an die Fensterscheibe) Man kann leider das Fenster nicht öffnen, so sehe ich nichts. Die Straßen sind so schlecht beleuchtet, vor unserem Haus ist die Lampe schon seit zwei Jahren kaputt, keiner kümmert sich aber darum. (reicht Claudia das Foto) Schauen Sie, solche schwungvollen Lippen hat nicht jeder. Besonders die Oberlippe, die ist besonders schwungvoll. Warum lachen Sie? (schaut auf sich runter, dann auf das Foto) Wie würden Sie solche Lippen beschreiben? Was lachen Sie so? Wegen meiner Bluse? Das ist – Wie Sie schon sagten, wie mit dem Klima: Von Land zu Land unterschiedlich. Bei uns trägt man solche Blusen sehr wohl und –
CLAUDIA
Entschuldigen Sie, ich muss mich beruhigen, sonst – (prustet vor Lachen)
CELINE
(träumerisch) Lachen Sie nur, es ist schön, wie Sie so gesund lachen. (dreht wieder auf) Ich habe drei solche Blusen. Habe ich mir gekauft. In blau, in rot und in weiß. Soll ich Ihnen die anderen zwei zeigen? Die sind schon ähnlich wie diese, aber – Die Knöpfe sind anders, glaube ich. Warten Sie – Nein, die Blaue kann ich Ihnen nicht zeigen, die ist in der Wäsche. Aber die Rote – Warten Sie, wo habe ich sie denn hingelegt – Ach so, hier an der Leine hängt sie, frisch gewaschen. Sehen Sie, die Knöpfe sind ein wenig anders, aber sonst – Der Schnitt ist gleich. Möchten Sie die haben? (reicht Claudia