Walter J. Dahlhaus

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung


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liegt es an ihm, ergänzend an die Begleiter die »richtigen« Fragen zu stellen sowie gegebenenfalls weitere Untersuchungen zu veranlassen. Durch diese unterschiedlichen Blickwinkel und Aspekte wird das Bild gerundet und eine Beurteilung, d. h. Diagnose ermöglicht. Hier kann es wesentlich, ja entscheidend sein, wenn Mitarbeitende in heilpädagogischen wie sozialtherapeutischen Institutionen Grundkenntnisse über Erscheinungsformen seelischer Krankheiten haben.

       vom Einzelnen zum Allgemeinen

      Immer ist es zunächst der Einzelne, von dem all das ausgeht, der Betroffene, seine Symptomatik, sein Leiden. Dann gilt es, diese jeweils individuell erscheinende Symptomatik vor einem übergeordneten Bild zu sehen: Man geht vom Einzelnen zum Allgemeinen. Wenn sich die Symptome des Einzelnen im übergeordneten Bild einer seelischen Erkrankung (einer Psychose, einer PTBS, einer Depression, einer Demenz etc.) wiederfinden, hilft mir das entscheidend auf dem Weg zur Diagnose. Und mit dem Wissen über das Krankheitsbild und die damit zusammenhängenden Therapiemöglichkeiten komme ich dann wieder zum Individuellen zurück und kann einen individuellen Therapieplan entwickeln.

       Ausschlussdiagnose

      Unmittelbar neben der Arbeitsdiagnose steht die Ausschlussdiagnose.

      Die Ausschlussdiagnose beinhaltet auch eine Differenzialdiagnose. Das meint: Ein und dasselbe Symptom kann für unterschiedliche Krankheiten sprechen. Dies führt zu der Frage: Gibt es mögliche Ursachen der Symptomatik, die zunächst ausgeschlossen werden können oder auch müssen?

       Abklärung möglicher körperlicher Ursachen

      Prinzipiell setzt das Stellen einer seelischen Diagnose eine Abklärung möglicher körperlicher Ursachen voraus. Bei Menschen mit einer primären Behinderung, d. h. einer bekannten Entwicklungsbeeinträchtigung, bei denen eine erhebliche seelische (psychische) Symptomatik hinzutritt, gilt dies ganz besonders. Schmerzen oder andere Missempfindungen können oft nicht unmittelbar verstehbar artikuliert werden, können aber das veränderte oder herausfordernde Verhalten verursacht haben. Die eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit ist ein entscheidender Faktor, der hinreichend berücksichtigt werden muss. Eine seelische Veränderung kann aber immer auch durch schwerwiegende Veränderungen im Gehirn (beispielsweise durch einen Tumor oder eine Entzündung) oder durch eine veränderte Stoffwechselsituation verursacht sein. Eine gründliche Abklärung ist also in jedem Fall erforderlich.

       Basisdiagnostik

      So gehört im Allgemeinen das Erstellen einer CT (Computertomografie) oder MRT (Kernspintomografie) des Kopfes zum Ausschluss eines Tumors oder einer entzündlichen Erkrankung im Kopf zur Basisdiagnostik. Ebenso müssen Laboruntersuchungen durchgeführt werden, um eventuelle Stoffwechselstörungen auszuschließen. So es noch nicht erfolgt ist, können oft auch genetische Untersuchungen zum Ausschluss einer genetisch bedingten Ursache einer Diagnosesicherung dienen.

       »körperlich vor seelisch«

      Trotz manchmal beeindruckender Hinweise auf eine wahrscheinlich seelische Ursache von aufgetretenen Symptomen ist es also unabdingbar, generell eine mögliche körperliche Ursache auszuschließen – gemäß dem Satz: »Körperlich vor seelisch.« Dies beinhaltet keine Wertung, aber eine körperliche Ursache bedarf oft eines raschen Eingreifens, die Folgen können schwer sein, wenn eine Behandlung zu spät oder gar nicht vorgenommen wird. Im Zweifelsfall sollte eine stationäre Untersuchung mit den entsprechenden technischen Mitteln ermöglicht werden, auch wenn dies betreuungstechnisch oft schwierig ist.

      Eine 27-jährige Frau ohne Intelligenzminderung wurde bei zunehmender Nahrungsverweigerung und Gewichtsabnahme bis zur Kachexie (also einer extremen, krankhaften Abmagerung) unter der Verdachts- bzw. Arbeitsdiagnose einer Anorexie in eine psychiatrische Klinik aufgenommen. Wenige Wochen vor ihrem Tod wurde als Ursache ihrer Gewichtsabnahme eine Krebserkrankung festgestellt.

      Bernd ist ein 22-jähriger Bewohner mit Down-Syndrom und mittelgradiger Intelligenzminderung. Schon anamnestisch wird eine ausgeprägte Schwäche und Kränklichkeit beschrieben sowie eine Antriebsarmut. Er wird vorgestellt wegen Reizbarkeit und negativer Stimmung unter der Verdachtsdiagnose einer Depression.

      Seine unreine Haut, sein blass-fahles Aussehen sowie ausgeprägt »schlechte« (demineralisierte) Zähne fallen auf. Bei Nachfrage wird ein übel riechender häufig voluminöser Stuhlgang beschrieben. Daraufhin veranlasste weitere Untersuchungen brachten zutage, dass er an Zöliakie litt. Eine daran angepasste Diät führte im Laufe eines Jahres zu einer ausgeprägten Aufhellung der Stimmung und zu einer allgemeinen Kräftigung.

      Bei Ernst, einem ansonsten ruhigen und gewissenhaften Bewohner mit Zustand nach FKHS (frühkindlicher Hirnschädigung) und leichter bis mittelgradiger Intelligenzminderung fielen starke Spannungszustände auf sowie ein zunehmend unwillkürliches Verhalten, Unruhe und Schlafbeeinträchtigung. Weitere Symptome wiesen unmittelbar auf eine paranoid-psychotische Erkrankung hin. Da bisher noch keine radiologische Bildgebung erfolgt war, wurde eine MRT-Untersuchung eingeleitet, die Hinweise auf einen entzündlichen Prozess im Gehirn zeigte. Eine Untersuchung des Liquors (der Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit) durch Lumbalpunktion bestätigte den Verdacht.

      Eine zu frühe neuroleptische Behandlung hätte diesen bedrohlichen Befund verschleiert und die hier entscheidende frühzeitige antibiotische Behandlung verhindert. So konnten die Untersuchungen auf eine physische Ursache der Symptome den Zustand letztlich entscheidend positiv beeinflussen.

       Medikamenteneinnahme

      Auch muss berücksichtigt werden, ob aktuell gegebene Medikamente ursächlich für die seelische Veränderung verantwortlich sein können.

      Prinzipiell kann dies für kein Medikament ausgeschlossen werden, man muss jedes Medikament entsprechend prüfen. Besonders aber muss das bei Antiepileptika, Antibiotika sowie Herzmedikamenten berücksichtigt werden.

      Bei Johanna, einer zehnjährigen Schülerin mit Zustand nach frühkindlicher Hirnschädigung durch einen Ertrinkungsunfall im Kleinkindalter und einer daraus resultierenden sekundär generalisierten Epilepsie traten zunehmend starke Verhaltensauffälligkeiten auf, vor allem erhebliche fremdaggressive Verhaltensweisen. Nach einer Klärung des Umfeldes wurde deutlich, dass diese Verhaltensänderungen nach dem Einsatz eines Medikamentes mit dem Wirkstoff Levetiracetam aufgetreten waren. Eine Veränderung der antiepileptischen Medikation führte zu einer entscheidenden Verbesserung der Symptomatik.

      Manchmal ist es bei der Diagnosestellung gut, wenn wir als Untersucher »blinzeln«. Das bedeutet: Manchmal wird man von der Sonne so geblendet, dass man blinzelt, um noch etwas sehen zu können. Übertragen heißt das: Manche Symptome erscheinen so eindeutig, dass man nicht mehr nach links und rechts schaut, d. h. auch alternative Verursachungen einer Symptomatik nicht mit einbezieht. So kann es generell helfen, durch »Blinzeln« aufmerksam zu sein, ob eventuell doch andere Ursachen bestehen. Wenn das ausgeschlossen ist, kann dann umso beherzter und eindeutiger aufgrund einer bestätigten Diagnose gehandelt werden.

       zu frühe Festlegung vermeiden

      Wichtig ist bei einer Diagnosefindung auch, eine zu frühe Festlegung auf eine Diagnose zu vermeiden. Man muss immer auch die Möglichkeit berücksichtigen, dass – auch wenn vieles dagegen spricht – einmal eine andere Diagnose zutreffen kann.

      Eine 42-jährige Bewohnerin mit einer ausgeprägten Intelligenzminderung wurde zum wiederholten Mal in den Akutbereich einer psychiatrischen Klinik aufgenommen. Bei den häufigen früheren Aufnahmen stand jeweils ein erheblicher Erregungszustand mit Fremdaggressivität und Schreizuständen im Mittelpunkt. Unter der Diagnose einer psychotischen Episode wurde neuroleptisch behandelt, was den Zustand jeweils sehr rasch besserte, sodass die Bewohnerin nach einer Krisenintervention wieder in ihre vertraute Einrichtung zurückkehren konnte. Bei der erneuten Aufnahme zeigte sich grundsätzlich das gleiche Verhalten, dem erfahrenen Stationspfleger fielen nur geringfügige Verhaltensänderungen auf. (»Irgendwie schreit sie diesmal anders.«) Bei der körperlichen Untersuchung wurde ein »akutes Abdomen«