Walter J. Dahlhaus

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung


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erschwerte Urinausscheidung bedingt.

      Joseph, ein 23-jähriger Bewohner mit einer Autismus-Spektrum-Störung, zeigte bei ihm bisher nicht bekannte Spannungs- und Erregungszustände, eine Schlafbeeinträchtigung und zum Teil erhebliche fremdaggressive Verhaltensweisen. Der Einsatz des Neuroleptikums Melperon verbesserte die Symptomatik nur geringfügig und oberflächlich. Eine dann akute Symptomatik, mit Erbrechen und darauf folgendem Kreislaufzusammenbruch, führte zu einer akuten Krankenhauseinweisung unter der notärztlichen Diagnose eines lebensbedrohlichen Schockzustandes. Im Krankenhaus wurde eine schwere Obstipation (Verstopfung) diagnostiziert, die diesen Schockzustand verursacht hatte. Auslöser für die Unruhe war die Obstipation, die durch das Neuroleptikum noch verstärkt wurde.

       differenzierte Tests

      Zur Objektivierung von Verhaltensbesonderheiten werden in einzelnen Krankenhäusern, Zentren und spezialisierten Praxen auch differenzierte Tests angewendet. In der Hand von erfahrenen Untersuchern können diese Tests helfen, eine Situation einzuschätzen, und dementsprechend eine differenzierte Therapie unterstützen.15

       Anamnese

      In die diagnostische Einschätzung und Klärung fließt ganz zentral eine gründliche Anamnese ein. Zunächst eine generelle Anamnese – also eine Bildgestaltung über die bisherige Entwicklung des zu untersuchenden Kindes, Jugendlichen oder Erwachsenen. Eine Bildgestaltung, die nicht alleine die zur Frage stehende Symptomatik berücksichtigt, sondern möglichst breite Felder von Kognition, Emotionalität und Motorik mit einbezieht. Hier ist jede hilfreiche Aussage wertvoll – die der Eltern, Großeltern, Geschwister, die früherer Lehrer, Sozialarbeiter, Therapeuten oder früher behandelnder Ärzte.

      Eine gründliche Anamnese entspricht manchmal einem komplexen Puzzle: Erst wenn alle Teile zusammengetragen wurden, zeigt sich das gültige Gesamtbild. Bevor ein solchermaßen umfassendes Bild erstellt wurde, sollte möglichst nichts abschließend festgelegt, bewertet, beurteilt werden.

       systemische Ansätze integrieren

      Ein solches Bild ermöglicht es auch, wichtige systemische Ansätze zu integrieren – also mit einzubeziehen, inwieweit sich in dem Verhalten der Betroffenen (aus systemischer Sicht auch »Indexpatient« genannt) Fragestellungen spiegeln, die ursächlich einem anderen Glied dieses Systems (Familie, aber möglicherweise auch Mitglieder der Wohngruppe oder Ähnliches) zugehören.

      Kai war ein zehnjähriger Schüler, der in die dritte Klasse einer Schule für Erziehungshilfe ging. Bei einem Test wurde eine Normalintelligenz im unteren Bereich festgestellt – erwies aber ein ausgeprägt kontrollierendes, stark angstgetöntes, sich und andere kontrollierendes Zwangsverhalten auf, das den Unterrichtsablauf zunehmend beeinträchtigte und sein Lernverhalten nachhaltig blockierte. Bei der Exploration des Elternhauses stellte sich heraus, dass der Vater an einer schweren Zwangsstörung litt. Die Eltern willigten nach mehreren Gesprächen ein, dass Kai in einer stationären Jugendhilfemaßnahme untergebracht wurde. Im Verlauf von zwei Jahren besserte sich seine Zwangssymptomatik erheblich; er konnte später in eine Waldorfschule wechseln, die er gut bewältigte. Der Kontakt zum Elternhaus konnte gerade dadurch, dass das tägliche Zusammenleben beendet wurde – was letztlich als eine Entlastung erlebt und benannt werden konnte –, langfristig gefestigt werden.

       Umgebungsbedingungen

      Es ist wichtig, nicht nur die Symptomatik einer psychischen Erkrankung selbst genau wahrzunehmen, sondern auch die Umgebungsbedingungen zu ermitteln, die zu der jeweiligen Erkrankung geführt haben. In diesem Sinne kann man an der jeweiligen Situation ausgerichtete Fragen stellen:

      •Wann hat sich der Zwang entwickelt, welche Umgebungsbedingungen haben bestanden?

      •Was ging einer paranoiden Entwicklung voraus?

      •Wann kommt es jeweils zu aggressiven Verhaltensweisen?

      •Treten die neu beobachteten Schreiattacken jeweils in ähnlichen Situationen auf?

      Evelin, eine lebhafte und temperamentvolle Bewohnerin mit Fragilem-X-Syndrom, zeigte die ausgeprägte Symptomatik einer Grippe-Erkrankung. In deren Folge trat eine Lungenentzündung auf. Die Gesamterkrankung zog sich über gut zwei Monate hin. Im Anschluss daran kam es zu einer Veränderung der sonst so ansteckend anregenden Stimmung. Evelin machte einen antriebslosen und depressiven Eindruck, was im Zusammenhang mit einem Erschöpfungssyndrom gesehen wurde. Die Regeneration unterstützende Maßnahmen führten zu einer zunehmenden Kräftigung und verbesserten letztlich die Stimmungsveränderung gänzlich, sodass sie zu ihrer früheren emotionalen Stärke zurückfand.

      Johann, ein 37-jähriger Bewohner mit einem Down-Syndrom, litt an einer zunehmenden Angstsymptomatik in Form von Vergewisserungszwängen, nächtlichen Kontrollgängen und Auffälligkeiten, die an eine paranoid bedingte Angst erinnerten. Bei der Klärung des Umfeldes wurde deutlich, dass im zurückliegenden Jahr zwei Bewohner der Einrichtung verstorben waren, beide hatte er aus der Werkstatt gekannt. Außerdem war sein Vater schwer an Krebs erkrankt, was die Familie aber nicht kommunizierte. Einfühlsam wurde mit Johann psychotherapeutisch gearbeitet, indem das Thema »Tod als Verwandlung« aufgegriffen wurde. Heileurythmische Maßnahmen unterstützten den Prozess, sodass im Rahmen einer mehrmonatigen Begleitung wieder eine Stabilität erreicht werden konnte.

       »professionelles Handeln« ist nie »fertig«

      Eine professionell-respektvolle Diagnostik geht zunächst vom Einzelnen aus. In einem zweiten Schritt können dann alle Erfahrungen reflektiert werden, die der Untersucher bisher im Zusammenhang mit diesem Krankheitsbild bzw. den Entwicklungsbeeinträchtigungen gemacht hat. Im Weiteren versucht man, bei dem konkreten Menschen Übergeordnetes wiederzuerkennen – um dann bereichert von den Erfahrungen und Gesetzmäßigkeiten wieder beim Einzelnen anzukommen und auf ihn zugeschnittene, individuelle Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Darin besteht »professionelles Handeln«, das außerdem nie »fertig« ist, das nie müde wird, sich um weitere übergeordnete Erkenntnisse zu bemühen.

       Diagnostische Klassifikation

      Eine psychiatrische Diagnose wird nach Maßgabe der WHO nach einem Schlüssel – dem sogenannten ICD-Code (Internationale Klassifikation der Krankheiten) – eingeordnet. Der derzeit weltweit gültige Code ist der ICD-10. Im Anschluss an jedes folgende Kapitel wird dieser Code angeführt (zum Beispiel bei der Paranoiden schizophrenen Psychose: ICD-10 F 20.0).

       Menschenkundliche Diagnostik

      Denn darauf kommt es an, dass man es in seiner Macht hat, sich herauszureißen aus der einen Welt und sich hineinzufinden in die andere Welt. Und das ist überhaupt der Anfang alles Aufrufens innerer Kräfte.

       Rudolf Steiner16

      Anthroposophisch orientierte Heilpädagogik und Sozialtherapie verstehen sich als Erweiterung der Verstehens- wie der therapeutischen Zugänge. Hinsichtlich der Diagnosefindung wollen sie keine Alternative zu dem bisher Beschriebenen sein. Aber sie beziehen wesentliche weitere Ebenen mit ein.

       Existenz eines »unkrankbaren Wesenskerns«

      Grundlage dieses Ansatzes ist die Existenz eines individuellen »unkrankbaren« Kerns, eines »Wesenskerns«, eines Ichs des Menschen. Dieser Kern ist geistiger Natur. Heilpädagogisches Tun in all seinen Facetten ist bemüht, diesen Kern zur Entfaltung zu bringen.

       vertiefte Persönlichkeitsentwicklung

      Es liegt im Wesen einer durch Anthroposophie erweiterten Diagnostik, dass diese sich nicht an äußeren Kriterien orientiert, sondern erweiterte Erkenntniszugänge beim Untersucher voraussetzt. Entsprechend einem Wort von Johann Wolfgang von Goethe kann »das Gleiche […] nur vom Gleichen erkannt werden«.17 Das bedeutet, dass ich als Untersucher mit meinen sinnlich