Walter J. Dahlhaus

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung


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folgenden Zitate mögen die Tiefe und das Spannungsfeld des hier Gemeinten verdeutlichen: »Der Grund der Liebe aber, in der das Unbedingte gegründet ist, ist eins mit dem Willen zur eigentlichen Wirklichkeit. Was ich liebe, von dem will ich, dass es sei. Und was eigentlich ist, das kann ich nicht erblicken, ohne es zu lieben.«29 (Karl Jaspers)

      »Gerechtigkeit. Beständig zu der Annahme bereit sein, dass ein anderer etwas anderes ist als das, was man in ihm liest, wenn er zugegen ist […]. Oder vielmehr in ihm lesen, dass er gewiss etwas anderes, vielleicht etwas völlig anderes ist als das, was man in ihm liest.«30 (Simone Weil)

       wahrhaftiges Interesse

      »Wo man einem anderen Menschen mit innerem Anteil, mit tiefem Verständnis, mit wahrhaftigem Interesse für sein innerstes Seelenleben, für sein ganzes Sichdarleben, entgegentritt, in dem Augenblick wird man […] im gewöhnlichen Leben hellsichtig. Es ist dem Menschen eben nur zugeteilt im gewöhnlichen Leben, in diesem einen Falle hellsichtig zu werden; für die anderen Fälle hat er sich erst auf methodische Weise, auf mühsame Weise die entsprechenden Fähigkeiten anzueignen.«31 (Rudolf Steiner)

      Dies ist ein herausforderndes Wort – es soll keine Überheblichkeit hervorrufen, eher Bescheidenheit. Aber auch ein Vertrauen auf ein eigenes Empfinden, und es knüpft an dem Begriff der Intuition an, der im Heilpädagogischen Kurs entwickelt wird.

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       Angst

       Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.

       Friedrich Hölderlin

       unterschiedliche Erscheinungsformen

      Das Phänomen der Angst umfasst sehr unterschiedliche Aspekte und Erscheinungsformen und begleitet die Menschheit und den einzelnen Menschen immer und überall. Angst weist ein weites Spektrum auf: Sie kann hilfreich sein, indem wir durch sie auf Gefahren aufmerksam werden, aber sie kann auch ein Leben schwer überschatten.

      Seelische Erkrankungen sind ohne Angst nicht zu denken. Angst kann sowohl Hintergrund wie Folge einer seelischen Erkrankung sein. Aus diesem Grund leitet sie die Darstellung seelischer Erkrankungen ein.

       Gegenkräfte der Angst

      An den Anfang dieses Kapitels möchte ich ein Zitat des Psychoanalytikers Fritz Riemann stellen, in dem er den Bogen von der Bedeutung der Angst für die persönliche Entwicklung jedes einzelnen Menschen über die menschheitsgeschichtliche Dimension hin zur Angst als Erkrankung spannt: »Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode. Die Geschichte der Menschheit lässt immer neue Versuche erkennen, Angst zu bewältigen, zu vermindern, zu überwinden oder zu binden. Es bleibt wohl eine unserer Illusionen, zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können; sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeit und des Wissens um unsere Sterblichkeit. Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe. Diese können uns helfen, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinanderzusetzen […].

      Wenn wir Angst einmal »ohne Angst« betrachten, bekommen wir den Eindruck, dass sie einen Doppelaspekt hat: Einerseits kann sie uns aktiv machen, andererseits kann sie uns lähmen. Angst ist immer ein Signal und eine Warnung bei Gefahren, und sie enthält gleichzeitig einen Aufforderungscharakter, nämlich den Impuls, sie zu überwinden. Das Annehmen und das Meistern der Angst bedeutet einen Entwicklungsschritt, lässt uns ein Stück reifen. Das Ausweichen vor ihr und vor der Auseinandersetzung mit ihr lässt uns dagegen stagnieren; es hemmt unsere Weiterentwicklung und lässt uns dort kindlich bleiben, wo wir die Angstschranke nicht überwinden.

       Begleiter von Reifungsschritten

       Neues, Unbekanntes macht Angst

      Angst tritt immer dort auf, wo wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. Jede Entwicklung, jeder Reifungsschritt ist mit Angst verbunden, denn er führt uns in etwas Neues, bisher nicht Gekanntes und Gekonntes, in innere oder äußere Situationen, die wir noch nicht und in denen wir uns noch nicht erlebt haben. Alles Neue, Unbekannte, erstmals zu Tuende oder zu Erlebende enthält, neben dem Reiz des Neuen, der Lust am Abenteuer und der Freude am Risiko, auch Angst. Da unser Leben immer wieder in Neues, Unvertrautes und noch nicht Erfahrenes führt, begleitet uns Angst immerwährend. Sie kommt am ehesten ins Bewusstsein an besonders wichtigen Stellen unserer Entwicklung, da, wo alte, vertraute Bahnen verlassen werden müssen, wo neue Aufgaben zu bewältigen oder Wandlungen fällig sind. Entwicklung, Erwachsenwerden und Reifen haben also offenbar viel zu tun mit Angstüberwindung, und jedes Alter hat seine ihm entsprechenden Reifungsschritte mit den dazugehörenden Ängsten, die gemeistert werden müssen, wenn der Schritt gelingen soll.«32

       Ängste als Teil eines gesunden Seelenlebens

       Angst als Schutzmechanismus

      »Gesunde« Angst beschreibt einen sehr notwendigen, Sicherheit gebenden Schutzmechanismus. Angst können wir in diesem Sinne als sinnvoll und lebensnotwendig, ja, wie ein Alarmsystem verstehen. Wir werden gewissermaßen durch einen »automatischen« Schutzmechanismus in die Lage versetzt, eine Gefahr schnell zu erkennen und darauf zu reagieren. So kann diese Alarmreaktion in plötzlichen Gefahrensituationen – im Straßenverkehr, in der Begegnung mit einem wilden Tier, in Naturkatastrophen, bei Feuer oder Ähnlichem – unser Leben retten. Wir müssen es sogar als pathologisch ansehen, wenn diese Angstreaktion nur begrenzt möglich ist, wie beispielsweise bei manchen Formen des ADHS. Bei der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung fehlt Kindern, durchaus auch betroffenen Erwachsenen, oft ein hinreichendes Gefühl für reale Gefahren.

       Angst als Helfer, Kräfte zu aktivieren

      Angst kann auch helfen, herausfordernde Situationen zu bewältigen. Wir können dabei vor der Angst stehen bleiben und vor ihr zurückweichen oder durch die Angst hindurchgehen – und daran wachsen. Ein charakteristisches Beispiel ist das »Lampenfieber«: die Angst vor einem Konzert, einem Vortrag, einem Referat oder Ähnlichem. Hier kann Angst helfen, Kräfte zu aktivieren. Unterstützend kann dann sein, wenn ich mir sage: »Ich weiß, dass ich das kann«, wenn ich mich also auf die eigene Befähigung besinne, die gestellte Aufgabe zu bewältigen. Es kann hier auch helfen, sich bewusst zu machen: »Es geht nicht um mich, sondern um die Sache, und die Sache ist gut«, wenn es sich um eine Herausforderung handelt, die nicht nur dem persönlichen Interesse dient. Eine vertiefte Motivation kann dazu beitragen, Angst auszuhalten. Ich kann mir auch sagen: »Hier bin ich, und ich werde tun, was ich kann und was in meinen Kräften steht.« Dieses Aufrufen einer inneren Haltung, die Anspannung der eigenen Kräfte trägt häufig dazu bei, dass Unruhe und Angst nachlassen und der Fokus zielstrebig auf die anstehende Aufgabe gerichtet werden kann.

       Vertiefung der Persönlichkeit

      Wenn man sich einer solchen Aufgabe gestellt und sie bewältigt hat, ist dies anschließend oft mit einem tiefen Glücksgefühl, dem Gefühl eines persönlichen Reifeschrittes und damit einer Vertiefung der Persönlichkeit verbunden.

      Fritz Riemann beschreibt die Angst in dem Zitat am Anfang dieses Kapitels auch als einen wesentlichen Aspekt persönlicher Reifung. Jeder Mensch durchläuft diese Schritte. Ein Mensch mit Unterstützungsbedarf benötigt hier unsere Wahrnehmung, wo für ihn möglicherweise angstbesetzte Reifungsschritte anstehen. Er fragt uns gewissermaßen nach Strategien, diesen jeweiligen angstauslösenden Herausforderungen zu begegnen. Gerade auch im Umgang mit Angst wird der Begriff des »Assistenzbedarfs« sehr konkret.

       Grundtendenzen psychosozialer Entwicklung