Menschen in uns tragen. Er beschreibt damit das Spannungsfeld zwischen Individuation und sozialer Integration, in das jeder Mensch sich auf die ihm gemäße Weise eingliedern kann und muss. Riemann unterscheidet vier Grundtendenzen individueller psychosozialer Entwicklung: Die Fähigkeit, sich einem Größeren eingliedern zu können, steht der Fähigkeit gegenüber, im Sinne einer Individuation die eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und verfolgen zu können. Und die Fähigkeit, Dauer und Beständigkeit im eigenen Leben zu entwickeln, steht in einem Spannungsverhältnis zu der Fähigkeit, sich zu verändern und zu wandeln.
Letztlich sind es gerade diese scheinbaren Widersprüche, deren jeweilige Integration Entwicklung ermöglicht: Die Angst vor Selbsthingabe, die Angst vor Selbstwerdung, die Angst vor Notwendigkeit und Endgültigkeit und die Angst vor Wandlung entwickelt und beschreibt Fritz Riemann als die »Grundformen der Angst«. Jeder Mensch trägt diese Ängste in unterschiedlicher Gewichtung in sich.
Die Lösung und damit die Voraussetzung zur persönlichen Freiheit sieht er in der Akzeptanz unserer menschlichen Begrenztheit, in der Annahme von Abhängigkeit in unserem Leben, anders ausgedrückt: darin, sich vertrauensvoll dem Fremden zu öffnen. Weitere Aspekte sind die Annahme von Einsamkeit, also die Akzeptanz, dass ein Verlust an Geborgenheit Teil der persönlichen Entwicklung sein kann, sowie die Akzeptanz eigener Schwächen. Und letztlich ist auch die Annahme von Vergänglichkeit von Bedeutung, also den Tod als Teil des Lebens, die Notwendigkeit von Abschied zu akzeptieren.33
Diese grundlegenden Aspekte von Angst können als wesentliche Bestandteile einer gesunden persönlichen Entwicklung gesehen werden.
altersgebundene Ängste von Kindern und Jugendlichen
Einen weiteren Bereich von Ängsten, die Teil einer normalen Entwicklung sind, stellen die altersgebundenen Ängste des Kindes und der Jugendlichen dar. So zeigen Kinder in unterschiedlichen Entwicklungsstufen Angst vor Gewitter, Gespensterangst und Dunkelangst. Fremdenangst, Trennungsangst, Angst vor Einbrechern oder ein »Pavor nocturnus«, die Angst vor Nacht und Dunkelheit, sollten nicht generell als pathologisch erachtet werden, sondern als naturgegebener Aspekt biografischer Entwicklung.
Eine charakteristische Angst von Jugendlichen in der Pubertät ist das angstvolle Betrachten des sich verändernden Körpers und die Frage nach Normalität. Dies sind keine pathologischen Ängste, sie begleiten vielmehr die Entwicklung. Es gilt hier darauf zu achten, dass diese Ängste nicht über ein im Sinne der Angst adäquates Alter hinausgehen bzw. dass das Maß dieser Ängste andere Entwicklungsschritte nicht überschattet.
Es kann vielleicht verallgemeinernd gesagt werden: Ob und wieweit eine seelische Situation als Krankheit angesehen werden muss, liegt immer auch daran, wie die Angst individuell bewältigt werden kann, und letztlich auch, ob ein Mensch daran leidet. Hier sind die Grenzen sehr fließend: Was der eine Mensch verarbeiten kann oder vielleicht sogar als positive Herausforderung erlebt, kann für den anderen unerträglich sein.
Fähigkeit zur Individuation fördern
Die Unterstützung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung bzw. Assistenzbedarf in diesen Fragen gehört zu herausragenden Aufgaben einer heilpädagogischen bzw. sozialtherapeutischen Begleitung. Diese unsere Begleitung muss der Fähigkeit zur Individuation jedes Einzelnen dienen, also auf dem Bemühen gründen, einem anvertrauten Menschen ein selbstbestimmtes, d. h. ein auf Selbstfindung aufgebautes Leben zu ermöglichen. So können gerade die hier geschilderten Aspekte der Angst als einer möglichen Hemmung vor anstehenden Entwicklungsschritten entweder der persönlichen Reifung dienen – oder Ausgangspunkt einer die Entwicklung beeinträchtigenden Angstsymptomatik darstellen.
Selbstbestimmungsrecht achten
Aber auch dies: Wir haben kein Recht, von außen einem Menschen abzuverlangen, einen Schritt zur Bewältigung von Angst zu gehen. Immer müssen wir die individuelle Freiheit und das damit einhergehende Selbstbestimmungsrecht achten.
In der Begleitung von Menschen mit Unterstützungsbedarf obliegt es dem Begleiter, gerade dafür ein Gefühl zu entwickeln und gegebenenfalls Hilfen bzw. Bewältigungsstrategien (sogenannte Coping-Strategien) anzubieten.
Angst ist eine Herausforderung – deshalb sollten immer, wirklich immer in der Begleitung eines Menschen unsere Fragen sein: »Willst du da herangehen?« – »Willst du, dass ich dir dabei helfe?« – »Kann ich dir helfen, an diese Angst heranzugehen?« – »Meinst du, wir können zusammen da herangehen?« usw. Da gibt es viele möglichen Formen, immer getragen von der Achtung der Freiheit des anderen. Aber niemals dürfen wir vermitteln: »Du musst da durch!«
Dann kann – wie für jeden Menschen – die Bewältigung bzw. Überwindung einer Angst ein tiefes Entwicklungspotenzial bedeuten.
frei gewählte innere Entwicklung
Neben dieser »not-wendigen« Angst beschreibt Jakob Böhme (1575–1624), der in Görlitz als Philosoph und Mystiker lebte, eine ganz andere Form. Hier wird Angst in einen ganz anderen Zusammenhang gestellt. Es geht ihm um Angst als Begleitung einer frei gewählten inneren Entwicklung. Er sagt: »Es wird kein Leben, es zerbreche denn dasjenige, daraus das Leben gehen soll. Es muss alles in die Angstkammer ins Centrum eingehen, und muss den Feuerblitz in der Angst erreichen, sonst ist keine Anzündung, wiewohl das Feuer mancherlei ist, also auch das Leben; aber aus der größten Angst urständet auch das größeste Leben, als aus einem rechten Feuer.«34
In dieser uns heute fremd anmutenden Sprache weist Jakob Böhme auf Bedingungen der inneren Entwicklung und der Meditation. Gemeint ist, dass Menschen auf einem inneren Weg durchaus vor Situationen der Angst vor der Tiefe des Erlebten stehen können. Das Durchgehen durch diese Angst ermöglicht dann eine vertiefte innere Entwicklung: »… aus der größesten Angst urständet auch das größeste Leben …«.
Angst als begleitendes Symptom seelischer Erkrankungen
Angst begleitet fast alle wesentlichen seelischen Erkrankungen und stellt dabei oft ein zentrales Symptom dieser jeweiligen Erkrankung dar. Angst tritt aber auch bei körperlichen Erkrankungen auf und als Teil von Syndromen von Menschen mit einer intellektuellen Einschränkung.
umfassendes Symptom bei jeder seelischen Erkrankung
Im Einzelnen wird dies bei den jeweiligen Krankheitsbildern beschrieben und vertieft abgehandelt. Hier soll nur kursorisch und mit entsprechenden Hinweisen angeführt werden, dass Angst ein umfassendes Symptom ist, das bei jeder seelischen Erkrankung eine wichtige Rolle spielt.
Psychose
So kann ein Mensch im psychotischen Erleben schwere wahnhafte Ängste erleiden, insbesondere paranoide, also Verfolgungsängste. Eine solche Angst kann Teil der erlebten »Grenzauflösung« sein. Dies bedingt dann einen zunehmenden und letztlich umfassenden Verlust an Schutz durch Abgrenzung.
Das für unsere Sicherheit so grundlegende Wissen »Hier bin ich und dort ist der andere, hier bin ich und dort ist die Welt« kann für den Betroffenen verloren gehen. Ein psychotisch erlebender Mensch kann sich ungeschützt und elementarsten Kräften ausgeliefert erleben. In der akuten Psychose können schwerste Ängste auftreten, bis hin zu einer Todesangst und tiefster Isolation: ein letztlich absolutes Bedroht-Sein. »Der Mensch, das Selbst, die Person, der andere, die Welt haben keine Grenzen mehr bzw. die Grenzen verschwimmen.«35
Depression
In der Depression kann ein Mensch mit den Urängsten menschlichen Erlebens konfrontiert sein. Mit der Angst, Schuld auf sich geladen oder sich »versündigt« zu haben, mit der Angst vor Verarmung oder schwerer unerkannter Erkrankung. Mit der Angst, ausgestoßen zu sein und damit vereinsamen zu müssen, und letztlich der Angst, nicht geliebt zu werden.
Die Angst ist stark mit der Depression verbunden – sie kann so im Vordergrund stehen, dass die Depression dahinter nicht