Walter J. Dahlhaus

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung


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      Weiterhin kann es zu feineren oder auch tieferen Stimmungsveränderungen kommen. Konkrete depressive Zustände sind möglich, auch eine Dysphorie, eine bedrückte, gereizte Stimmungslage vielleicht mit Missmut oder einer anderen Form der Gefühlsabflachung verbunden. Das kann bis zu einer tiefen Hoffnungslosigkeit traumatisierter Menschen führen. Aber auch Impulsivität oder schwer einfühlbares aggressives Verhalten kann im Rahmen einer solchen Stimmungsveränderung auftreten.

      Die Beziehung zum Partner einer 25-jährigen Frau mit erlittener schwerer sexueller Traumatisierung war durch immer wieder plötzlich aufbrechende Stimmungsveränderungen, aggressive Reizbarkeit und hohe Verletzlichkeit erheblich belastet. In wiederholten Paargesprächen konnte insbesondere dem tief verunsicherten Partner vermittelt werden, nicht ursächlich für diese Stimmungseinbrüche verantwortlich zu sein, wie er vermutete. Er musste nun nicht mehr – bedrängend – nach dem jeweiligen Grund fragen. Er konnte zum einen besser für sich sorgen, zum anderen signalisieren, dass er »da sei«, wenn sie seine Nähe suchte. Die Entspannung vertiefte das Vertrauen in die Beziehung.

       Angst

      Ein alles übergreifendes Phänomen ist die Angst. Die hirnorganischen Veränderungen, die durch frühe, schwere und anhaltende Traumatisierungen bewirkt werden können, haben wir bereits oben ausgeführt (siehe Seite 88 f.).

      All dies führt dazu, dass von einer Traumatisierung betroffene Menschen eine erhöhte Angstbereitschaft haben, sehr leicht erschrecken, sich schlecht auf nahe Beziehungen zu anderen Menschen einlassen können und ihr Leben oftmals um die Vermeidung ihrer Ängste herum konstruieren müssen.

      Eine 52-jährige Frau hat lange Kinderjahre mit emotionaler Deprivation (siehe Seite 86 f.) und anhaltenden Gewalterfahrungen durchlitten. Dennoch hat sie ein eigenes Leben aufbauen können, ist sowohl in eine Beziehung wie auch beruflich gut integriert. Sie lebt stark in Befürchtungen, erwartet immer »das Schlimmste« und traut sich nur sehr wenig zu. Hinter jeder aufkommenden Freude liegt die Befürchtung, dass ihr diese rasch wieder genommen werden könnte.

      Ein Leben in ständiger Angstbereitschaft ist schrecklich. Wie viel schrecklicher aber ist es, wenn die eigentlichen Ursachen der Angst nicht im Hier und Jetzt gefunden und damit auch nicht wirksam angegangen werden können.

       Traumatisierte Kinder

       größere seelische Verletzlichkeit

      Neben Erwachsenen, die Zeichen und Folgen einer frühen Traumatisierung tragen, begegnen uns auch traumatisierte Menschen im Kindesalter. Kinder sind seelisch verletzbarer und ungeschützter. Kinder tragen aber auch immer wieder eine große Fähigkeit in sich, mit ihrer Lebendigkeit und ihrem Hunger nach Leben dennoch ihr eigenes Leben aufzubauen. Und das insbesondere, wenn sie nicht in ihren primären Bindungen beeinträchtigt wurden, sondern anfänglich eine Resilienz entwickeln konnten. Der Kinder- und Jugendpsychiater und Traumaforscher Andreas Krüger beschreibt diese Kinder als »Löwenzahn-Kinder« – die trotz allem, selbst durch dichten »Asphalt« hindurch, zum Licht, d. h. zu ihrem eigenen Leben durchbrechen.42 Beide scheinbar sehr widersprüchlichen Aspekte können wir bei Kindern erleben.

       Bedeutung des Lebensalters

      Wie ein Kind auf ein Trauma reagiert, hängt auch wesentlich damit zusammen, in welchem Alter es traumatisiert wurde. Ist ein erstes Lebenskonzept, ein Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse erworben, sind allererste Bewältigungsstrategien schon möglich? Je früher die Traumatisierung erfolgt, desto stärker wird sie ein Kind auch im Sinne einer Gedeihstörung bis ins körperliche Wachstum hinein beeinflussen. Besonders gravierend wirkt sich eine Traumatisierung im sogenannten »präverbalen« Alter aus, vor allem im ersten und zweiten Lebensjahr, wenn Kinder noch keine Worte für das Geschehene haben.

      Ein knapp dreijähriges Kind musste miterleben, wie der Vater seine Mutter ermordete – und zwei Tage lang alleine neben der getöteten Mutter ausharren, bis man auf die Situation aufmerksam wurde. Trotz vielfältiger intensiver wie behutsamer therapeutischer Maßnahmen verblieb es über Jahre in einer tiefen Erstarrung mit zutiefst eigeschränkter Kommunikationsfähigkeit sowie einer ausgeprägt gehemmten Kontaktfähigkeit. Das Bild erinnerte lange an eine ausgeprägte Autismus-Spektrum-Störung.

       Symptome in verschiedenen Altersstufen

      Je älter ein Kind ist, werden die Folgen umso stärker vorrangig in seelischen Phänomenen zu finden sein. Was sich beim Kind im ersten Lebensjahr noch mehr als Gedeihstörungen zeigt, äußert sich dann bei einem Kind in den ersten Lebensjahren in anklammerndem Verhalten, Sprachlosigkeit, immer stärker auch in einer Hyperaktivität und angespannter Wachsamkeit – einer Hypervigilanz.

      Ein Kind im höheren Kindergartenalter wird wie erstarrt wirken oder die traumatischen bzw. traumatisierenden Erlebnisse mit Spielsachen nachspielen, es wird vielleicht eine rückläufige Sprachentwicklung zeigen und schon erlangte soziale Fähigkeiten wieder verlieren. Zunehmend fällt dann auch eine Überanpassung, Misstrauen, regressives Verhalten (siehe Seite 152), vielleicht auch aggressives Verhalten auf, was auch bei einem Schulkind verstärkt auftritt. Hier kann es auch zu Einnässen und vor allem Einkoten kommen. Auch depressiv erscheinende Stimmungen bis hin zur Suizidalität sind zu beobachten, bis beim älteren Jugendlichen schließlich eine umfassende Symptomatik der Posttraumatischen Belastungsstörung auftreten kann.

      Gerade auch Jugendliche sind empfänglich dafür, eine eigene Schuld im traumatischen Geschehen zu erleben. Die Position von Täter und Opfer kann hier verschoben werden – eine fatale Entwicklung, in der Jugendliche dringend klärender Unterstützung bedürfen. Schwere Ängste, insbesondere Zukunftsängste (»Steht mir denn eine Zukunft zu?«) können die Folge sein.

       fehlende Fähigkeit zu Wut und Empörung

      Bedrückend für Begleiter kann es sein, bei traumatisierten Kindern deren fehlende Fähigkeit zu Wut und Empörung zu erleben. Ein wichtiges Therapieziel ist es dann, diesen Kindern den Zugang zu dem Affekt der Wut zu eröffnen: »Ja, du darfst wütend sein, du darfst dich wehren – du musst kein Opfer mehr sein!«

       Traumatisierungen bei Menschen mit Intelligenzminderung

      Alle geschilderten Ursachen und Folgen einer Traumatisierung betreffen auch Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung. Wir müssen aber davon ausgehen, dass wir im Bereich der Menschen mit Assistenzbedarf durch deren Voraussetzungen und ihre erhöhte Verletzbarkeit der Symptomatik einer PTBS sehr häufig begegnen.

       eingeschränkte kognitive Verarbeitungsprozesse

      In der bereits genannten Definition von Luise Reddemann (siehe Seite 40) wird hervorgehoben, dass es zu einer Traumatisierung kommt, wenn »die Situation überwältigend ist und dazu führt, dass man sich extrem ohnmächtig und hilflos fühlt«. Gerade die mangelnde Fähigkeit, Situationen oder Handlungen adäquat einzuordnen, senkt gewissermaßen die Schwelle dieser Ohnmacht und Hilflosigkeit. Diese Menschen haben behinderungsbedingt Einschränkungen der kognitiven Verarbeitungsprozesse, oft verbunden mit einer Beeinträchtigung des Selbstbewusstseins und einer damit einhergehenden Ich-Schwächung. Sie sind schneller »überwältigt« von einer Situation, in ihrer eigenständigen Handlungsfähigkeit abhängiger (»ohnmächtiger«) und somit hilfloser.

      Wir müssen davon ausgehen, dass Verhaltensweisen, die wir heute als Phänomene oder Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung ansehen, lange als »Verhaltensstörungen« verkannt wurden, wodurch den Betroffenen wichtige Therapiemöglichkeiten vorenthalten wurden. Insofern