Walter J. Dahlhaus

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung


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Irritation der Eltern führen, die vom Kind nicht eingeordnet werden und den Grad einer Traumatisierung erreichen kann.

       Folgen einer Traumatisierung bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung

       Verhalten als »Sprache«

      Immer wieder müssen wir uns in diesem Zusammenhang verdeutlichen, dass wir immer differenzierter lernen müssen, dass das Verhalten eines Menschen selbst als »Sprache« verstanden werden kann, insbesondere bei erheblicher kognitiver Einschränkung der sprachlichen Kommunikationsfähigkeit. So muss der Blick stärker auf das Gesamtverhalten gerichtet werden und außerdem auf körperlich-somatische Phänomene wie Erregung, Erstarrung, taktile Über- oder Unterempfindlichkeit, erhöhte Krankheitsanfälligkeit, auffällig intensives oder geringes Schmerzempfinden oder auch Erbrechen.

      Bei einer 42-jährigen Bewohnerin einer Einrichtung (Down-Syndrom, ausgeprägte Intelligenzminderung, nur sehr eingeschränkte sprachliche Kommunikationsfähigkeit) treten heftigste Durchfälle auf. Eingehende körperliche Untersuchungen und Stuhlproben geben keinen Hinweis auf die Ursache. Die Beeinträchtigung tritt über ein Jahr auf, nicht nachvollziehbar immer im Zusammenhang einer anstehenden Busfahrt. Nach dem Suizid des früheren Busfahrers werden sexuelle Übergriffe durch ihn bekannt. Mit größter Wahrscheinlichkeit war auch die Bewohnerin davon betroffen, ohne dass sie dies hinreichend verbalisieren konnte. Der Durchfall war ihre »Sprache«.

       Symptome

       Es gilt verstärkt wahrzunehmen:

      •das Verhalten in sozialen Beziehungen, beispielsweise Bindungsstörungen,

      •eine verminderte Fähigkeit zur Affektregulation,

      •ausgeprägte Ängste vor Unbekanntem,

      •Kontaktvermeidung und Rückzugsverhalten,

      •ausgeprägtes Verweigerungsverhalten,

      •sexualisierte Verhaltensweisen, generell ungewöhnliche Kontaktgestaltung,

      •regressive, d. h. auf frühere Entwicklungsstufen zurückfallende Phänomene,

      •schwere aggressive und selbstverletzende Verhaltensweisen.

      Auch eine Verstärkung der Anfallsfrequenz bei Epileptikern kann vor diesem Hintergrund gesehen werden.

      Lea, 27 Jahre alt, weist nach einem Sauerstoffmangel unter der Geburt einen Zustand nach frühkindlicher Hirnschädigung (FKHS) mit einer mittelgradigen Intelligenzminderung auf. Weitere Folge der FKHS sind eine Lähmung im Sinne einer Tetraspastik sowie eine fokale Epilepsie mit Neigung zur Generalisierung mit schweren Grand-mal-Anfällen. Im Elternhaus machte sie bis zur Heimaufnahme zur Zeit der Pubertät schwere Gewalterfahrungen. Vor anstehenden Besuchswochenenden zeigte sie eine deutliche Stress-Symptomatik, dabei vor allem eine ausgeprägt erhöhte Anfallsbereitschaft.

       verschiedene Ursachen möglich

      Selbstverständlich können alle hier genannten Phänomene auch durch andere Umstände oder Ursachen bedingt sein. Sollte aber eine Mehrzahl dieser Phänomene beobachtet werden und ist deren jeweilige Ursache nicht erkenntlich, auch nicht einfühlbar, muss an eine Traumatisierung als Mitbedingung gedacht werden.

       Reflexion

       Symptome als Selbstheilung

      Meines Erachtens reicht es nicht aus und ist es auch nicht sinnvoll, die oben geschilderten Symptome ausschließlich als »krank« oder als »Defizite« zu beschreiben. Natürlich ist das Erleben dieser Symptomatik mit Leiden, oft schwerstem Leiden verbunden, das soll in keiner Weise infrage gestellt werden. Dennoch: Ich halte es für berechtigt, manche dieser Symptome auch unter dem Aspekt einer allerersten »Selbstheilung« zu sehen. Zumindest aber können wir hinter den Symptomen einen – wenn auch unbewussten – Versuch der Betroffenen erkennen, die schweren Folgen einer Traumatisierung für das alltägliche Leben bewältigbar zu machen und damit ein »Überleben« zu ermöglichen. Hier meine ich gerade Aspekte wie Vermeidung, Übervorsichtigkeit, Amnesie, Schlafbeeinträchtigung und auch eine begrenzte Gefühlstiefe, eine eingeschränkte Emotionalität. Auch wenn dies vorläufige »Lösungen« sind, ermöglicht dies vielleicht den Menschen, die Schwere ihres Lebens zu ertragen.

      Ein Jugendlicher, der ohne Begleitung durch seine Eltern oder vertraute Personen eine lange, gefährliche und extrem belastende Flucht aus Afghanistan geschafft hat, verbrachte in den ersten Monaten, die er in Deutschland lebte, die Nächte damit, angekleidet in seinem Bett zu sitzen und immer wieder nur kurz einzunicken. Ein Schlafmittel lehnte er ab. Es war deutlich, dass es ihm darum ging, seine Aufmerksamkeit und Kontrolle aufrechtzuerhalten, die ihm letztlich dazu verholfen haben, die Flucht zumindest äußerlich heil zu überstehen.

       Übervorsichtigkeit

      Ein seelisch verletzter Mensch, der in der Überforderung und Überwältigung der Traumatisierung ohnmächtig war, zeigt in dem vielleicht als übervorsichtig oder auch vermeidend oder überkontrolliert empfundenen Verhalten, dass die Situation dadurch für ihn im Moment beherrschbarer erscheint.

       Sicht von innen oder der Versuch, sich in einen traumatisierten Menschen hineinzuversetzen

      Ein Versuch, wie er hier angestrebt wird, ist immer und prinzipiell einer großen Verunsicherung ausgesetzt: Nie bin ich wirklich und definitiv am inneren Ort des anderen. Trotzdem soll hier das Indianerwort »Wer den anderen verstehen will, muss in seinen Mokassins gehen« konkret werden. Anders gesagt: Es sind des anderen Schuhe, nicht seine Füße, in die wir probeweise schlüpfen.

       Bereitschaft, die eigene Einschätzung zu ändern

      In diesem Sinne wird das nun Folgende eine vorläufige Einschätzung, eine Hypothese sein, die immer aufs Neue ergebnisoffen geprüft werden muss. Es ist wie gesagt als Versuch anzusehen, immer in der Bereitschaft, meine Haltung und Einschätzung zu ändern. Dahinter steht auch das Wort Søren Kierkegaards: »Wenn ich wirklich einem anderen helfen will, muss ich zuallererst begreifen, was er verstanden hat.«45 Dennoch: Bei Menschen, die nicht in der Lage sind, sich verbal zu artikulieren, ist der Versuch wesentlich, sich die Situation vorzustellen und sie so zu schildern, als würde der andere sich aussprechen. Vielleicht mag es sich so anfühlen, vielleicht würde es ein Betroffener so formulieren, oder auch anders, ganz anders – die Formen des Erlebens sind so vielfältig!

      Immer und immer wieder diese Verunsicherung. Abgrundtief, bodenlos. Worauf, auf wen kann ich mich verlassen? Ich kann mich ja nicht auf mich selbst verlassen. Ich nehme mir etwas vor, verabrede mich, will etwas unternehmen – und muss dann spüren, dass meine Kraft nicht reicht. Spüre, wie die Beine weich werden oder zittern.

      Ja, zittern, immer diese Angst. Eigentlich macht alles Angst. Mit anderen zusammen sein macht Angst, was wollen sie von mir, kann ich ihnen genügen, lassen sie mich am Ende alleine oder stellen sie mich bloß – oder ich verstehe nicht, was sie wollen oder meinen oder denken – oder ich bekomme dann wieder diese merkwürdigen Zustände, wo ich nichts mehr blicke, rein gar nichts. Dann mache ich verrückte Dinge, sage etwas, was ich nicht sagen will, oder sage gar nichts, weil mir keine Worte einfallen oder keine Gedanken da sind.

      Oder wo ich meinen Körper nicht mehr spüre: Sitzen, stehen, alles fühlt sich so fremd an.

      Ich habe Angst, mit anderen zusammen zu sein. Aber alleine sein macht auch Angst.

      Ich finde kein Vertrauen mehr, zu nichts und niemand. Gerade habe ich Vertrauen zu jemand aufgebaut, bin ich unsicher: Meint es dieser Mensch denn wirklich ernst? Oder verlässt er mich bei nächster Gelegenheit