n>
Etwa dreißig Kinder saßen an langen Tischen im Schatten der alten Bäume. Sie kannten sich nicht, diese Kinder, und waren deshalb zunächst recht schüchtern. Ihre Mütter, Väter und Tanten waren gebeten worden, im Haus zu bleiben, um die Kleinen nicht zu beeinflussen.
Ohne Ausnahme waren sie dieser Bitte nachgekommen, denn hier ging es um die Auswahl kleiner Stars für Film, Fernsehen, Modebranche und Werbespots. Viele ehrgeizige Eltern waren der Ansicht, daß es das höchste Glück für ihre Kleinen bedeutete, ausgewählt zu werden.
Kaum ein kleiner Junge oder eines der niedlichen Mädchen waren sich darüber klar, was diese Auslese bedeutete, denn Nico Berdons Gäste waren zwischen einem und sechs Jahre alt.
Es war ein ›Casting‹ für Kleinkinder, das er und seine Partnerin Shanice heute durchführten. Dasselbe veranstalteten sie regelmäßig auch für Schulkinder und Teenager, denn die Werbeagenturen hatten einen enormen Bedarf an fotogenen Knirpsen, die sich werbewirksam verhielten.
Schon vor zwei Jahren hatte Nico seine »Kids-Agentur« gegründet. Vor einem Jahr war Shanice dazugekommen. Da sie zuvor als Sekretärin arbeitete, erledigte sie alle kaufmännischen Arbeiten. Sie verstand sich aber auch ausgezeichnet mit den kleinen Leuten und wurde so für Nico zu einer unentbehrlichen Partnerin. Die Kids-Agentur ging gut, und inzwischen hatte Nico fast zweitausend Kinder in seiner Kartei. Bei Bedarf griff er auf diese Daten zurück, je nachdem, welcher Kinder-Typ gerade verlangt wurde.
Bei Kleinkinder-Castings brauchte Nico eine Schar von Hilfskräften zur Betreuung und Bewirtung. Meistens beschäftigte er für diese Jobs Studentinnen, die gern einen Nachmittag opferten, um etwas Geld zu verdienen.
»Du befaßt dich wie immer mit den Kleinen, ich kümmere mich um die größeren Kinder«, raunte Nico seiner Partnerin zu.
»Ich glaube, diesmal sind einige brauchbare Kids dabei.« Stolz ließ Nico den Blick über die Kinder schweifen, die sie auf Grund der zuvor eingereichten Bewerbung eingeladen hatten.
Shanice nickte lächelnd. Sie war neunundzwanzig Jahre alt, wirkte aber wesentlich jünger und fand deshalb rasch Kontakt zu den Kindern. Von ihr ließen sie sich völlig ungezwungen fotografieren, was in diesem Fall sehr wichtig war.
Neben dem Fotoapparat, mit dem Shanice sowohl Filme, als auch Bilder machen konnte, schnappte sie sich einige Handpuppen. Den freundlich wirkenden Teddybär stülpte sie sich über die Finger
und ging zu dem Tisch, um den
fünf hohe Kinderstühle standen, selbstverständlich nach neuestem Sicherheitsstandard. Zwei Mädchen waren darum bemüht, die künftigen Stars bei Laune zu halten. Trotzdem weinten drei der Kleinen, während die beiden anderen mit großen, kugelrunden Augen neugierig das Geschehen beobachteten.
»Hallo, warum weint ihr denn?« ließ Shanice den Teddy fragen. Dabei verstellte sie die Stimme und bewegte zwei Finger, um das Mäulchen des Stofftiers zu öffnen und zu schließen.
Auf die kleinen Schreier machte das keinen Eindruck. Sie brüllten nur noch lauter.
»Das hat keinen Sinn, sie werden jedes Mal weinen, wenn sie in eine fremde Umgebung kommen. Würdest du sie bitte zu ihren Eltern zurückbringen?« wandte sich Shanice an eine Studentin, die sie von früheren Kinderpartys kannte. Gleichzeitig befaßte sie sich mit den restlichen Schnullerknirpsen. Mit Hilfe der Handpuppe brachte Shanice die Kleinen zum Lachen. Sie verzichteten auf ihren Gummitröster und entwickelten jenen Charme, der sie für die Werbung so wertvoll machte.
Die Augen in den pausbäckigen Gesichtchen strahlten, und die Mündchen mit den wenigen Zähnen verzogen sich zu einem fröhlichen Lachen.
Shanice machte einige Aufnahmen und nahm dabei auch das jeweilige Namensschild der Kleinen ins Bild. Die Fotos wurden aufbewahrt und irgendwann auf Anforderung den Agenturen vorgelegt.
Die junge Frau mit den glatten blonden Haaren und den klugen grauen Augen nahm sich Zeit für diese Arbeit, denn die Fotos sollten möglichst viel über den Typ des Kindes, sein Verhalten und seine Belastbarkeit aussagen.
Danach wandte sie sich den 3-5jährigen zu. Inzwischen waren sie nicht mehr schüchtern, sondern tobten bereits unbekümmert durch den Garten, der zu Nicos Elternhaus gehörte. Zwei kleine Buben stritten sich um einen bunten Ball, während ein dritter sie mit einer Wasserpistole bedrohte. Eine Vierjährige stopfte sich einen Schokokuss nach dem anderen in den Mund und war deshalb rundum verschmiert. Zwei Mädchen mit langen Haaren zerlegten einträchtig ein elektronisches Spielzeug in seine Einzelteile.
Es wurde gerufen, gekreischt und lauthals geschrien. Blechtrompeten tuteten, Trillerpfeifen übertönten die Laute anderer Musikinstrumente. Das alles war normal, denn die Kinder sollten ja nicht zurückhaltend brav, sondern in spielerischer Aktion gezeigt werden. Deshalb gab es bei diesen Kinderpartys nicht nur klebrige Bonbonlutscher, sondern auch Spielzeug für jeden Geschmack. Am Ende dieser Feten wirkte der Garten oft wie ein Schlachtfeld, und Nico war froh, daß seine Eltern die mutwillige Zerstörung nicht sahen. Sie hatten es vorgezogen, den Ruhestand im sonnigen Spanien zu verbringen.
Während sich einige Kinder bereits mit ihren Altersgenossen angefreundet hatten und die anderen sich mit Süßigkeiten oder Spielzeug vergnügten, saß ein kleiner Junge teilnahmslos am Tisch. Er beteiligte sich weder an der Kuchenschlacht noch interessierten ihn die Spielsachen. Ruhig, scheinbar interesselos beobachtete er das Geschehen.
Dieses Kind war Shanice Sternberg sofort aufgefallen. Jetzt konnte sie gar nicht anders, als sich um den kleinen Außenseiter zu kümmern. Eigentlich wäre es ihre Aufgabe gewesen, die fröhlich spielenden Kinder zu filmen, doch das stellte sie zurück.
»Na, du, gefällt es dir nicht?« erkundigte sie sich mit liebvoll klingender Stimme. Dabei schaute sie auf das Namenskärtchen, das der Kleine, wie auch alle anderen Kinder, um den Hals trug. Nach diesen Angaben war er vier Jahre alt.
Der Junge mit dem lieblos kurzgeschorenen blonden Haar gab keine Antwort. Mißtrauisch musterte er Shanice. Dabei spiegelte sich Furcht in seinen dunklen Augen. Er schien mit Fremden schlechte Erfahrungen gemacht zu haben.
Shanice tat, als bemerke sie das nicht. »Wie heißt du denn?« fragte sie lächelnd. Sie hatte den Namen längst auf dem Kärtchen gelesen, doch sie wollte gern mit dem kleinen Kerl ins Gespräch kommen.
Wieder schwieg er.
»Ich bin Shanice, und du kannst dich bei mir beschweren. Mir kannst du alles sagen, was dir nicht gefällt«, ermunterte sie das Kind. »Bist du mit der Mami hier oder mit dem Papi?«
»Ich… ich hab’ keine Mami. Und der Papi is weg, ganz weit weg.«
Shanice ließ sich ihr Erschrecken nicht anmerken. Dieses Kind hatte keine Eltern. Deshalb benahm es sich so anders. Sofort hatte sie Mitleid, denn ihr Schicksal war ähnlich. Ihr Vater verunglückte, noch bevor sie zur Welt kam. Ihre Mutter heiratete schon bald wieder, weshalb sie bei den Großeltern aufwuchs. Trotz aller Fürsorge hatte sie stets die Kameraden beneidet, die Eltern hatten.
»Und wer hat dich gebracht?« forschte Shanice vorsichtig.
»Tante Anita.«
»Magst du sie? Ist sie lieb?« Shanice versuchte, sich ein Bild von der Umwelt des Kleinen zu machen.
Der Junge schüttelte den Kopf. »Sie sagt, ich bin bockig wie meine Mami. Nur wenn der Papi kommt, is sie lieb zu mir. Dann sagt sie Jaki und sonst immer Jakob.« Der Kleine schnupfte ein bißchen.
»Du bist wohl nicht gern hierher gekommen?« Zärtlich legte Shanice den Arm um ihren kleinen Schützling.
»Tante Anita hat gesagt, wenn ich brav bin, bekommt sie ganz viel Geld… Und dann… dann kauft sie mir einen Roller. So einen wie der Erik hat. Der Erik ist mein Freund im Kindergarten.« Jakob nickte ernsthaft.
Shanice zog die Augenbrauen hoch. Die Tante hatte wohl etwas falsch verstanden, denn nicht fürs Bravsein zahlten die Agenturen, sondern für kindliche Ungezwungenheit.
Nico kam vorbei und blieb am Tisch sitzen. »Shanice, was ist los mit dir? Du verpaßt die beste Gelegenheit zu einmaligen Aufnahmen.« Mit einer leichten Handbewegung wies Nico Berdon auf einige Jungs, die sich