Marc Kayser

Das Phantom vom Pfaffenteich


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Jahre haben die Schweriner Öffentlichkeit, die Medien, das Innenministerium Druck gemacht. Es wühlt die Bevölkerung zu Recht auf, wenn ein so junger Mensch einfach verschwindet, sich quasi in Luft auflöst, keine Zeichen mehr sendet. Und jetzt haben wir die traurige Gewissheit, aber eben nicht ihren Mörder.«

      »Es ist sehr selten, dass nach so vielen Jahren noch der entscheidende Hinweis auftaucht«, gab Eva Lindenthal zu bedenken. »Der Fall klingt danach, als würden der oder die Täter ungeschoren davonkommen.«

      Sie griff erneut nach einem Gebäckstück. Der bittere Rauchgeschmack in ihrem Mund wollte nicht weichen. Sie verzog das Gesicht.

      Timmermanns Augen verharrten jetzt auf der Akte vor sich. Er schlug sie auf.

      »Es gibt diesen Hinweis, und jetzt kommen Sie ins Spiel.« Die Kommissarin äugte Timmermann eine Spur zu auffällig an.

      »Was ist?«, fragte er daraufhin.

      »Wieso soll ich besser sein als die Kollegen, die mit dem Fall seit Jahren vertraut sind?«

      »Weil ich aus Ihrer Vita weiß, dass sie verdeckte Ermittlung können. Einschleusungen, Chimären, Maskenspiele, elektronische Überwachung, Pseudoidentitäten. Das ganze Programm, um einem Verbrecher erst nahezukommen, ihn einzulullen und dann vor Gericht zu stellen.«

      »Das war in den USA«, sagte die Kommissarin in eher zurückhaltender Stimmlage.

      »Ich besorge Ihnen einen staatsanwaltlichen oder richterlichen Beschluss, damit Sie das hier auch können. Einschließlich Funkzellenabfrage, Handyortung, Chats auslesen, Online-Banking-Abfragen, E-Mails abfischen und so weiter.«

      Eva Lindenthal schwieg kurz. »Was wissen wir noch?«, fragte sie eindringlich.

      Timmermann blätterte in den Papieren. »Ich fasse mal kurz zusammen, was die Ermittler, Fallpsychologen, Staatsanwaltschaft und das Gericht zusammengetragen haben. Sie können sich gern weiter bedienen.« Er wies mit der Hand auf den Teller mit dem Gebäck.

      Die Kommissarin nickte knapp.

      3

      Der Nachmittag und der Abend, bevor Mathilda verschwand, verliefen nach einem Muster, das die Pubertierende seit einigen Wochen ganz bewusst pflegte. Sie kam aus der »ecolea«-Ganztagsschule gegen 15.30 Uhr nach Hause, warf sich auf ihr Bett, las im dritten Teil einer Fantasy-Saga. Nebenher pickte sie mit einer Gabel eher lustlos in einem Salat, den ihr ihre Mutter, überdeckt mit einer Folie, im Kühlschrank hinterlassen hatte. Gegen siebzehn Uhr startete sie ihr Notebook. Zwei Anbieter sozialer Netzwerke poppten über Apps auf, ihr E-Mail-Programm, ein Browser, zwei Spielprogramme, ein Nachrichtenmessenger. Und seit sie vierzehn Jahre alt geworden war, traute sie sich in Chatforen, in denen sie sich an anderen Gleichaltrigen spiegeln konnte. Themen wie Liebe, Vertrauen, Eltern, Musik, Modetrends und Schule vermischten sich auf mitunter wundersame Weise und ergaben für die heranwachsende Mathilda dennoch ein Gesamtbild, aus dem sie sich für die langsame Ausformung ihres eigenen Weltbildes gierig bediente. Dabei war Mathilda eher diejenige, die lieber las, was andere schrieben, als dass sie von sich etwas preisgab. Ihre Antworten waren meist kurz, aber oft mit einem Fragezeichen versehen, so dass ihr weibliches oder männliches Gegenüber zu Antworten angestachelt wurde. In einem der beiden Foren mit dem Namen You verbrachte sie beinahe zwei Stunden.

      Gegen neunzehn Uhr löste sie ein paar Mathematikhausaufgaben, schrieb eine kurze Einleitung zu einem Sachtext für das Fach Deutsch und untersuchte dann einen ihrer Hefter auf eine mögliche Zettelnachricht, die ihr Pascal zugesteckt haben könnte. Ich steh total auf dich, war auf den ersten Zettel geschrieben, den sie in ihrem Schulrucksack gefunden hatte. Das war jetzt einige Wochen her. Der zweite folgte kurz darauf: Wollen wir zusammen …?, und lag zwischen der fünften und der sechsten Seite ihrer Mitschriften in Englisch. Mathilda hatte den gleichaltrigen Pascal nach dieser Nachricht auf dem Pausenhof direkt zur Rede gestellt und ihn gefragt, was er mit dieser Botschaft hatte andeuten wollen. Und wie er es schaffen würde, unbemerkt diese Zettelchen in ihre Taschen oder Hefter einzuschleusen. Pascal hatte sich gewunden, betreten gelächelt und geantwortet: »Wo ein Wille, da ein Weg. Wollte dich neugierig auf mich machen und nicht gleich deine Handynummer abgreifen. Könnten ja zusammen nach der Schule ein bisschen chillen und lästern.«

      Sie würde es sich überlegen, hatte sie geantwortet, ihn aber gleichzeitig ermuntert, Vorschläge zu machen. Ihr gefiel, auf welche Art und Weise er vorging. Auch wenn es sich merkwürdig anfühlte, wie nahe Pascal ihr kam, wenn er seine Zettel hinterließ, so empfand sie es dennoch als mutig und verwegen. Aber etwas ganz anderes imponierte ihr viel mehr: Pascal schrieb ihr mit der Hand auf Papier. Schließlich benutzte jeder in der Schule einen Kanal der sozialen Medien, um sich Nachrichten auszutauschen. Selbst wer in Klassenzimmern nebeneinander saß oder sich schon seit Jahren aus dem Kindergarten oder dem Hort kannte, versandte Nachrichten erst digital, bevor man vielleicht persönlich miteinander sprach.

      Seitdem bekam sie von Pascal immer wieder diese kleinen Zettelnachrichten – und fand auch jetzt wieder solch ein handgeschriebenes Exemplar, diesmal in ihrer Federtasche: Morgen um 7 an der Bushalte?

      Unschlüssig hatte sie das kleine, karierte Papier neben sich auf den Schreibtisch gelegt und überlegt, ob sie auf sein Angebot eingehen sollte. Sie war ein eher stilles, zurückhaltendes Mädchen, das mit ihrer sehr schmalen Figur, den kaum sichtbaren Brüsten, ihrem Gesicht und ihren Haaren nur mäßig zufrieden war. Den Spiegel an der Innentür ihres Zimmers empfand sie oft als anmaßend. Mit dem Zettel in der Hand stellte sie sich jetzt etwas ungelenk davor. Sie beäugte ausgiebig ihre zwei Pickelchen auf der Stirn und verzog ihr Gesicht. Auch die blaue Tönung, die sie vor ein paar Tagen in ihre naturblonden Haare partiell eingefärbt hatte, gefiel ihr nicht mehr. Sie befand ihr Gesicht für zu rund, ihre hellen, ins Grünliche changierenden Augen für zu groß und ihre Lippen für zu schmal.

      Der Ruf, zum Essen zu kommen, drang durch ihre Zimmertür. Zeit für das Abendbrot zu dritt, mit ihrer Mutter und Leon, ihrem kleineren Bruder. Sie war noch nicht ganz durch die Tür, als ihr Handy leise fiepte. Eine Textnachricht. Gebannt las sie ihren Inhalt. Rote Flecken überzogen ihr Gesicht, sie atmete etwas schwerer. Dann lächelte sie gelöst, durchquerte fröhlich pfeifend die Wohnung und begrüßte ihren kleinen Bruder beinahe überschwänglich.

      »Nanu, so gut drauf heute?«, bemerkte ihre Mutter erstaunt, eine schlanke Frau von Mitte dreißig mit hellen, hochgesteckten Haaren und viel Make-up.

      »Sie ist verliebt«, sagte Leon, der Sechsjährige.

      »Vielleicht?«, antwortete Mathilda und schob den Teller ein wenig von sich.

      »Kartoffelbrei!«, rief der Kleine.

      Ihre Mutter runzelte die Stirn.

      »Nicht viel Hunger«, sagte Mathilda.

      »Sie will dünn sein für ihren Freund«, neckte Leon.

      »Lass gut sein«, ermahnte ihn seine Mutter und wandte sich an Mathilda: »Iss nicht viel, aber etwas. Du brauchst Energie. Schulsachen erledigt?«

      Mathilda nickte und aß dann schweigend. Zu dem Kartoffelbrei gab es Möhren und Wiener Würstchen.

      »Wie war’s heute so?«, erkundigte sich die Mutter. »Wie kommst du mit dem neuen Deutschlehrer zurecht?«

      Mathildas Gesicht lief zartrosa an.

      »Immer besser«, sagte sie nach einem kurzen Moment. »Er ist besser als sein Vorgänger. Erstens haben wir nicht so viele Hausaufgaben auf, und zweitens steht er nicht so auf Gedichte. Ich darf eine Zusammenfassung der Legenden schreiben, die ich gerade lese. Cool, oder?«

      Leon grinste hinterhältig. »Dein Typ, oder?«

      »Ach du«, antwortete sie ihm und klapste ihm eher zärtlich auf den Rücken.

      Ihre Mutter schien erfreut, denn sie lächelte kurz und fragte ihren Sohn: »Und bei dir? Was machen deine Rechenkünste? Ist Larissa fleißig mit dir?«

      Leon vergrub sich tief in seinen Kartoffelbrei. Er brauchte eine kleine Weile und murmelte dann etwas von: »Na ja geht so. Fußball ist besser.«

      »Noch vier Monate,