oft rationalen und mühsamen Alltag von Ermittlungsarbeit dem laissez-faire des Theaters vorzog. Aus der Polizeihochschule hieß es, Laura Derwall sei fleißig und habe Spürsinn, sei trickreich und sozial. Genau so eine Person brauchte sie, dachte die Kommissarin, um in dem von Männern dominierten Mordkommissariat schnell Tritt zu fassen.
Was sie nicht ahnen und schon gar nicht wissen konnte: Eva und Laura würden schon sehr bald in der Behörde als erfolgreich, effizient und furchtlos gelten. Während Eva Lindenthal gern auch einmal bewusst übers Ziel hinausschösse und dabei gegen Dienstvorschriften verstieße, würde Laura der Mensch an ihrer Seite sein, der sie behutsam davor zu schützen wüsste, dass die Kommissarin sich nicht verrannte.
Die beiden schwerwiegendsten Fälle ihrer gemeinsamen, erfolgreichen Karriere der darauffolgenden beiden Jahre – die Kindermorde eines rachsüchtigen Kleinwüchsigen und die Polizistenmorde eines ehemaligen Wismarer Kommissars und abtrünnigen V-Mannes des Verfassungsschutzes – würden Eva Lindenthal in den Boulevardmedien den Ruf einer »Lara Croft des Ostens« einbringen. Sie selbst wird diesen Begriff eher lächerlich finden, sie wird sagen, dass sie doch nur ihren Job mache, aber diesen mit Empathie und einer gewissen Nervenstärke.
Und auch wenn ihr Vorgesetzter Ulrich Timmermann nicht alle Methoden billigen würde, derer sich die Kommissarin ab und an bediente, so würde er doch voller Lobes über die mentale Stärke der Oberkommissarin in spe sein.
»Das Mädchen war vierzehn! Mein Gott! Ein durch und durch unschuldiges Ding!« Eva Lindenthal vergrub ihr Gesicht in beiden Händen und starrte durch sie hindurch auf die Schreibtischplatte vor sich. Laura stand nicht weit von ihr im Rahmen der Tür, die ihr Büro mit dem der Kommissarin verband. Sie hielt eine beinahe leere Kaffeetasse in der Hand.
»In einen Müllcontainer hat er das arme Ding geschmissen«, quetschte Eva Lindenthal ihre Worte durch die Hände, »in einem Teppich! Entwürdigt, gewürgt, erschlagen. Dreieinhalb Jahre läuft Mathildas Mörder oder Mörderin da draußen schon frei herum! Das ist eine verdammt lange Zeit. Er oder sie könnte inzwischen auf den Bahamas wohnen und dort ein fröhliches Leben führen. Wir verfügen heute über die modernsten und komplexesten Methoden, jemanden zu überführen, und trotzdem ist und bleibt der Täter oder die Täterin so etwas wie ein Phantom.«
Eva Lindenthal verharrte einen Augenblick in ihrer Haltung, nahm dann die Hände vom Gesicht und sagte entschlossen: »Wir werden ihn finden, und dann buchten wir ihn bis zum Ende seines kleinen, armseligen Lebens ein. Wie gehen wir jetzt vor?« Die Kommissarin schwang sich auf ihrem Drehstuhl von ihrem Schreibtisch weg und sprang auf. »Haben wir schon ein Ergebnis der Log-in-Daten?«
»Nein«, antwortete Laura, »das dauert mindestens ein paar Stunden. Die Staatsanwaltschaft hat noch nicht einmal reagiert.«
»Gut, dann reden wir jetzt mit der Mutter des Mädchens, das dieser Kerl angemacht hat. Vielleicht bringt sie uns auf eine Spur.«
»Sofort?«, fragte Laura nach.
»Sofort!«, bestätigte die Kommissarin. »Sie wartet bereits im Besprechungszimmer auf uns.«
Corinna Schröder war eine schlicht gekleidete, energisch wirkende Frau um die vierzig, dunkelhaarig, dezent geschminkt, die sofort zur Sache kam: »Lea ist erst dreizehn. Ich gebe zu, sie wirkt schon sehr fraulich, obwohl ihr Busen … Sie wissen schon. Ich habe ihr oft gesagt, zieh keine engen Leggings an, wenn du in die Schule gehst. Damit ziehst du unnötig Aufmerksamkeit auf dich. Und dann dieses Geschminke …!«
»Moment«, unterbrach Eva Lindenthal den Wortschwall der Frau, »dürfen wir erst einmal Ihren Ausweis sehen? Laura?«
»Aber ich habe doch schon an der Pforte …«
»Dennoch …«, sagte die Kommissarin fest.
»Natürlich«, sagte die Frau jetzt etwas ruhiger, »Entschuldigung! Sie müssen verstehen …«
»Ja, ich verstehe«, sagte Eva Lindenthal freundlich. Laura sah auf das Dokument, nickte ihrer Chefin zu und gab den Ausweis zurück.
»Erzählen Sie mal von Anfang an. Ich bin übrigens Kriminalkommissarin Lindenthal, neben mir meine Assistentin Kriminalobermeisterin Laura Derwall.«
»Freut mich, also. Ich und Lea wohnen in der Hospitalstraße, von wo sie es knappe vierhundert Meter zur Schule hat. An der Ecke zur Schelfstraße, bei diesem alten Klotz mit dem roten Backstein, also kurz vor der ›ecolea‹, hatte es sich ein älterer, eher ungepflegt wirkender Mann auf einem Stuhl bequem gemacht, um sich herum Wassertöpfe mit frischen Tulpen. Hab den vorher noch nie gesehen und meine Lea auch nicht. An und für sich ist das ja auch nicht verboten, auf der Straße Blumen zu verkaufen. Meine Lea aber mag Blumen und ist nahe bei dem Typen stehen geblieben …«
»Wann war das?«, unterbrach sie die Kommissarin.
»Lea sagte, nach der Schule auf dem Heimweg. Es muss so gegen vierzehn Uhr gewesen sein.«
Die Kommissarin warf Laura einen Blick zu und hielt sich eine Hand ans Ohr, als wolle sie damit telefonieren. Laura verstand und reagierte sofort.
»Und wie ging es dann weiter?«, fragte Eva Lindenthal freundlich, aber bestimmt.
»Da fragt der Mann erst, ob sie ein Bund für einen Sonderpreis von zwei Euro haben will, und als sie sagt, dass sie kein Geld dabeihat, da fragt sie dieser Kerl, ob sie sich was dazuverdienen will …«
Die Mutter pausierte kurz. Die Kommissarin schurrte mit den Sohlen auf dem Sisalteppich. Laura rieb sich ihr rechtes Auge. Der Lüfter eines Computerlaufwerks machte leise Geräusche.
»Wie jedes Kind hat Lea natürlich neugierig gefragt, wie er das meinen würde. Und da hat er zu ihr gesagt, dass sie zwanzig Euro in nur einer Stunde haben kann, wenn sie mit ihm um die Ecke in seine Wohnung gehen und mit ihm spielen würde. Dabei zeigte er sich zwischen den Schritt.«
Die Kommissarin blickte vor sich auf die Tischplatte. Ihre Oberfläche war so weiß wie ein Laken. Und noch so sauber wie frisch gewaschen. Eva Lindenthal zog mit ihrem rechten Zeigefinger eine Linie, hob den Kopf und fragte: »Wie ist Ihre Tochter sozialisiert? Gibt es einen Vater, hat sie viele Freunde und Freundinnen? Oder ist sie eher einzelgängerisch?«
»Lea kennt ihren Vater nicht«, sagte die Frau eher leise. »Und besonders viele Freunde hat sie auch nicht. Sie chattet viel, schminkt sich gern, trägt viel zu enge Klamotten.« Ihre letzten Worte klangen nach Resignation.
Die Kommissarin machte sich Notizen und wollte nun wissen: »Ist Lea etwas an dem Mann aufgefallen? Irgendeine Besonderheit?«
Die Mutter dachte nach. »Sie sprach von einem silbernen Ohrring. Ansonsten hat sie ihn ja schon auf der Wache beschrieben. Ich bekomme das jetzt auch nicht so genau zusammen … Aber der Ohrring, der war auffällig.«
»Frau Schröder«, sagte die Kommissarin fest, »ich kann mir vorstellen, dass Sie diese Vorgänge beunruhigen. Und einer Anzeige müssen wir nachgehen, ob uns das jetzt Zeit kostet oder nicht. Und sicher werden wir versuchen, den ominösen Blumenmann hierher zu bestellen. Aber eigentlich würde ich Ihnen raten, die Anzeige zurückzuziehen. Dass der von Ihnen Beschuldigte gegenüber einer Minderjährigen eine Grenze weit überschritten hat, ist ja zwischen uns allen hier im Raum Konsens. Dennoch sage ich Ihnen gleich: Der Beschuldigte wird keinerlei Strafe zu erwarten haben, es sei denn, er ist ein Serientäter oder gar ein gesuchter Schwerverbrecher. Wir können ihn ermahnen und auffordern, derlei dämliches Angemache zu unterlassen. Die Grenzen zwischen ekelhaftem Übermut, derbem Flirt und vokabulärer sexueller Belästigung ohne Drohungen, ohne das Versenden von sexuell konnotierten Bildern oder Videos oder gar einer Ausführung einer Tat sind zwar fließend, aber eben nicht strafbar.«
»Aber meine Lea ist total geschockt?!«
Eva Lindenthal verkniff es sich, darauf zu antworten. Dieses Thema, das hatte sie bei ihrem Studium gelernt, war voller Sprengfallen für alle Beteiligten. »Ich will mir nicht anmaßen, zu beurteilen, inwieweit Ihre Tochter bereits in Kontakt mit dem Unterschied zwischen Mann und Frau und den gegenseitigen Begehrlichkeiten gekommen ist. Ich denke aber, sie wird darum wissen, Biounterricht sechste Klasse, Facebook-Chats, WhatsApp,