ion>
Mit wohligem Seufzer lehnte sich Ulrike Brunner zurück und genoss den Blick auf die bunten Wiesen und Tannenwälder, über denen sich ein tiefblauer Sommerhimmel spannte. Auch nach mehr als dreißig Jahren noch, die sie schon im Ruhweiler Tal lebte, konnte sie sich nicht satt sehen an der Landschaft, deren Anblick ihr jedes Mal aufs Neue Ruhe und Frieden schenkte. Mit versonnenem Lächeln schloss die Landarztfrau die Augen und lauschte den Vögeln in den Obstbäumen, deren Gesang für sie die schönste Musik war. Das war für sie Entspannung pur.
Die beschauliche Ruhe sollte jedoch nicht von langer Dauer sein. Ulrike schreckte jäh zusammen, als Lump, der vierbeinige Hausgenosse des Arztehepaares, plötzlich laut bellte. Er hatte bis jetzt faul zu Füßen seines Frauchens auf der Terrasse gelegen. Jetzt sprang er auf und jagte um das alte Schwarzwaldhaus herum. Wenn Lump so freudig bellte, war Besuch im Anmarsch.
Ulrike stand auf, strich den Rock glatt und folgte dem Jagdhund zur Vorderseite des Hauses.
»Charlotte!«, rief sie erfreut aus, als sie die junge hoch gewachsene Frau entdeckte, die gerade aus einem schwarzen Cabrio stieg. »Welch eine schöne Überraschung.«
Sie ging Charlotte Waldecker entgegen und dachte wieder einmal, wie schön die älteste Tochter der Waldeckers war. Der Sommerwind ließ deren rötlich schimmernde Locken wie eine lange Fahne hinter ihr her wehen.
»Hallo, Frau Brunner«, begrüßte Charlotte die Landarztfrau mit angenehm weich klingender Stimme und reichte ihr die Hand. »Störe ich?«
»Überhaupt nicht«, erwiderte Ulrike herzlich. »Im Gegenteil, ich freue mich, dich einmal wieder zu sehen.«
Sie hakte sich bei der Architektin unter und führte sie zur Terrasse auf der Hinterseite des Hauses. Lump lief den beiden laut bellend voraus, was ein Zeichen dafür war, dass auch er den seltenen Gast willkommen hieß.
»Ich war bei meinen Eltern zum Mittagessen und da dachte ich, ich schaue einfach mal kurz bei Ihnen vorbei«, sagte Charlotte.
»Bei deinen Eltern zum Mittagessen?« Ulrike sah sie erstaunt von der Seite an.
Das kam nicht oft vor, wie sie von ihrer Tochter Dorothee wusste. Die beiden jungen Frauen waren miteinander befreundet.
Sie zeigte auf den langen Teakholztisch, den eine Vase mit üppig blühenden, roséfarbene Gartenrosen schmückte. »Setz dich. Darf ich dir etwas anbieten? Kaffee, Apfelschorle, Wasser und vielleicht ein Stückchen Kuchen?«
»Danke, gar nichts.« Mit gequälter Miene hob die junge Frau abwehrend die Hände. »Ich bin noch satt vom Mittagessen.«
»Wie geht es deinen Eltern?«, erkundigte sich Ulrike aus Höflichkeit.
Spitzbübisch zwinkerte ihr Charlotte zu. »Wenn sie hier in ihrem Ferienhaus sind, kann man besser mit ihnen umgehen. Das macht wahrscheinlich die Ruhe im Tal, die selbst auf meine Eltern abfärbt. Dennoch …« Sie stöhnte leise auf und verdrehte dabei die großen seegrünen Augen, die so manches Männerherz höher schlagen ließen. »Na ja, Sie wissen ja, aber es war mal wieder an der Zeit, sie zu besuchen, und da ein Kunde von mir hier in Ruhweiler wohnt, habe ich das Geschäftliche mit dem Familienbesuch verbunden.«
»Familienbesuch? Das klingt wirklich so …«
»Meine Schwester ist seit ein paar Tagen hier«, unterbrach Charlotte den begonnenen Satz. »So waren wir alle wieder einmal schön zusammen«, fügte sie mit hörbarer Ironie hinzu.
Ulrike musste lachen. »Das klingt ja richtig begeistert.«
»War ich auch.« Die junge Frau stimmte in ihr Lachen ein. Dann verzog sie ihr apart geschnittenes Gesicht mit den hohen Wangenknochen zu einer gequälten Miene. »Es ist immer dasselbe, wenn wir zusammen sind. Mein Vater sprach nur vom Geld, meine Mutter von ihren Wohltätigkeitsveranstaltungen und Damentees und mein Schwesterherz hat zurzeit nichts anderes im Kopf als ihre Hochzeit.«
»Pauline heiratet?«
Die Architektin nickte bekräftigend. »Ich war auch so verblüfft wie Sie jetzt. Als ich dann aber hörte, wen sie heiratet, habe ich mich nicht mehr gewundert. Raten Sie einmal.«
Ulrike hob die Schultern. »Keine Ahnung. Du weißt, dass wir kaum Kontakt zu deiner Familie haben.«
»Was ich auch gut verstehen kann«, gab die junge Frau unumwunden zu. »Lothar Dudenhöfer ist der Glückliche, Paulines Jugendfreund, den sie vor einem halben Jahr wieder aus der Versenkung hervor geholt hat. Daraufhin haben die beiden sofort Nägel mit Köpfen gemacht und einen Hochzeitstermin festgelegt. Wahrscheinlich haben beide in den vergangenen Jahren festgestellt, dass sie nichts Besseres auf dem Heiratsmarkt finden können.«
Wieder lachte Ulrike belustigt auf.
Charlottes direkte Art war herzerfrischend. Ihre Familie jedoch schätzte diese weit weniger als Charlottes Freunde. Aus diesem Grund war sie auch gleich nach dem Abitur von zu Hause ausgezogen und hatte sich auf eigene Füße gestellt.
»Wann soll die Hochzeit sein?«, erkundigte sich die Arztfrau.
»In zwei Wochen. Natürlich in Baden-Baden. Und natürlich in unserer Villa. Es wird ein riesiges Fest werden, mit Presse und allem Pipapo, was dazu gehört.«
»Tatsächlich?«
Charlotte hob in gespielter Verwunderung die Brauen. »Wundert Sie das? Meine Eltern lassen es sich etwas kosten, wenigstens eine Tochter unter die Haube zu bringen. Und dann noch ihr geliebtes Kleines … Außerdem ist die Hochzeit für meine Mutter mal wieder eine Gelegenheit, unseren Namen in den Gesellschaftsteil der Zeitung zu bringen. Daran hat sie ihre helle Freude.«
Die Landarztgattin hatte ihrem Gast voller Vergnügen zugehört. Sie mochte die Freundin ihrer Tochter. Charlotte hatte das Herz am richtigen Fleck.
»Wie geht es Ihrem Mann?«, wechselte die junge Frau nun das Thema.
Sie hatte genug davon, über ihre Familie zu sprechen.
»Sehr gut«, antwortete Ulrike.
»Und Thorsten? Wie Dorothee mir erzählte, hat sie ein paar Wochen nichts von ihrem Bruder gehört.«
»Thorsten ist noch auf Konzerttournee in Australien. Übermorgen kommt er zurück. Dann muss er leider erst einmal für ein paar Tage in die Uniklinik. Er wird am Meniskus operiert. Das ist zwar keine große Sache, aber eine unangenehme.«
»Kann Ihr Mann das nicht hier in der Miniklinik machen?«
»Mein Mann ist ein sehr guter Arzt und er macht schon vieles, was über die Tätigkeit eines Landarztes hinaus geht, aber den Fachbereich Orthopädie überlässt er lieber seinen Kollegen in Freiburg«, fügte Ulrike zwinkernd hinzu.
»Dann werde ich Thorsten in der Uniklinik besuchen. Ich arbeite dort seit Kurzem einmal in der Woche als Vorleserin.«
»Als Vorleserin?«
»In der Kinderklinik. Diese Lesestunden sind ein ehrenamtliches Projekt, um den Kids ein bisschen Abwechslung und Trost zu bieten«, erklärte die junge Frau ihr.
»Das gefällt mir«, sagte Ulrike mit anerkennendem Blick.
In diesem Augenblick wunderte sie sich wieder einmal darüber, dass Charlotte so ganz anders war als der Rest ihrer Familie. Denn diese galt im Ruhweiler Tal als arrogant und neureich.
*
»Der nächste Patient ist Herr Waldecker«, kündigte Schwester Gertrud mit vielsagendem Blick an.
Der Landarzt wusste, dass der reiche Unternehmer seinem Praxisdrachen ein Dorn im Auge war. Johann Waldecker gehörte zu den Menschen, die glaubten, sich die Welt kaufen zu können. Bei seinem ersten Besuch in der Praxis, welcher zwei Jahrzehnte zurücklag, hatte er die Sprechstundenhilfe mit einem großzügigen Geldschein für die Personalkasse bestechen wollen, damit er nicht hätte warten müssen. Beim zweiten Besuch dann hatte er verstanden, dass bei Schwester Gertrud alle der Reihe nach aufgerufen wurden. Diese Einsicht hatte ihn jedoch in den Augen des Praxisdrachen nicht sympathischer gemacht.
»Waldecker?« Matthias hob die graumelierten Brauen. »Was fehlt ihm?«
»Keine