hatte ihm überrascht zugehört. Als sein Patient den schweren Kopf auf die Brust fallen ließ, räusperte er sich ebenfalls und sagte: »Bei ihrem ersten Besuch vor einer Woche habe ich Ihnen schon gesagt, dass einzelne Symptome wie Müdigkeit, Kurzatmigkeit oder auch blaue Flecken auf der Haut nicht eindeutig ein Krankheitsbild bestimmen. Um eine eindeutige Diagnose erstellen zu können, müssen viele Puzzleteile zusammengefügt werden, die dann ein einheitliches Bild ergeben.« Er legte eine Pause ein, beobachtete seinen Patienten, der ihn jetzt ansah und matt sagte: »Im Internet konnte ich selbst meine Diagnose erstellen. Es passt alles zusammen, um bei mir Leukämie zu diagnostizieren. Ich brauche nur noch das Blutbild, das meine Blutarmut beweisen wird, die die Ursache meiner auffälligen Blässe ist.«
Wie fast alle seine Kollegen hielt auch der Landdoktor nichts davon, wenn sich seine Patienten ihre Diagnose mit Hilfe des Internets in ihrem stillen Kämmerlein zusammenbasteln. Dies führte nur zur Belastung der Psyche. Andererseits zollte er Johann Waldecker jedoch einen gewissen Respekt, dass dieser sich nun ernsthaft mit seinen Beschwerden auseinandersetzte und seine Ängste vor der Wahrheit überwunden hatte, statt nach der chemischen Keule zu verlangen.
»Seit ein paar Tagen spüre ich einen Druck in der linken Seite«, sprach der Unternehmer weiter. »Zuerst dachte ich an Seitenstechen, aber inzwischen tut mir die ganze Brust weh.«
Geschwollene Milz?, fragte sich Matthias stumm.
»Wie sieht es mit Fieber aus?«, erkundigte er sich.
Johann Waldecker hob die Schultern. »Manchmal fühle ich mich, als ob ich eine Grippe bekommen würde. Leichte Temperatur, würde ich sagen.«
»Nachtschweiß?«
»Hat man den nicht immer, wenn man sich grippig fühlt?«
Da kommt ja eine Menge zusammen, dachte der Landdoktor bei sich. Er nickte entschlossen.
»Legen Sie sich bitte auf die Untersuchungsliege. Ich möchte Ihren Oberkörper abtasten.«
Tatsächlich spürte er deutlich eine Vergrößerung der Milz, welche viele Ursachen haben konnte, von Infektionskrankheiten angefangen bis zum Blutkrebs.
»Ihre Milz ist vergrößert, daher das Druckgefühl in der Brust«, sagte er knapp.
»Was auch ein Symptom von Leukämie ist«, murmelte sein Patient, während er das Hemd zuknöpfte.
»Krempeln Sie bitte den Ärmel hoch. Ich nehme Ihnen jetzt Blut ab«, sagte Matthias, ohne auf diese Bemerkung einzugehen.
Ohne mit der Wimpern zu zucken ließ der Unternehmer die Blutabnahme über sich ergehen, sodass Matthias problemlos all die Kanülen füllen konnte, die er zur Erstellung eines großen Blutbildes brauchte.
»Ich werde das Blutbild hier im Labor der Miniklinik auswerten und sage Ihnen morgen Bescheid«, teilte er Johann Waldecker mit aufmunterndem Lächeln mit. »Ich werde es eigenhändig erstellen«, fügte er mit vielsagendem Blick hinzu.
Da stand sein Patient auf. Ein Zucken lief über sein Gesicht, bevor er leise sagte: »Danke.«
Matthias blieb noch einige Sekunden im Behandlungszimmer stehen, nachdem der Unternehmer es verlassen hatte.
Johann Waldecker hatte Angst, Angst um sein Leben. Diese Angst machte ihn demütiger, nahm ihm die Arroganz, mit der er sonst den Menschen begegnete. Wie würde er auf die mögliche Diagnose Blutkrebs reagieren? Ein solcher Schicksalsschlag veränderte die Menschen. Manche zerbrachen, andere erstarkten daran. Er wagte im Fall des Unternehmers keine Prognose zu stellen. Oftmals waren gerade die Menschen, die nach außen hin stark erschienen, in Wirklichkeit schwach. Entschlossen schüttelte er den Kopf, um sich von diesen Gedanken zu befreien. Noch stand die Krankheit seines Patienten nicht fest. Nach der Nachmittagssprechstunde würde er sich ins Labor verziehen und das Blutbild manuell auswerten. Dann würde man weitersehen.
Er drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage und wies seine Helferin an: »Bringen Sie mir bitte den nächsten Patienten.«
Den Rest des Nachmittags beschäftigte er sich wieder mit den alltäglichen Dingen wie Impfungen zu verabreichen, Aufzeichnungen von Herzkurven auszuwerten und Rezepte auszustellen. Dabei begleitete ihn jedoch das beunruhigende Gefühl, am Ende dieses Tages vor einer Aufgabe zu stehen, die jeder Mediziner nur ungern erledigte: Einem seiner Patienten ein Todesurteil überbringen zu müssen.
*
Charlotte und Pauline Waldecker hätten nicht gegensätzlicher sein können. Obwohl der beste Schneider in Baden-Baden seit Jahrzehnten für die Familie Waldecker arbeitete, wunderte er sich immer wieder, wie die Natur den beiden Schwestern ein derart unterschiedliches Aussehen hatte geben können.
Charlotte war rank und schlank und wunderschön, ihre drei Jahre jüngere Schwester dagegen klein und pummelig. Pauline hatte kirschgroße, eng zusammenstehende Augen, und um ihren schmallippigen Mund lag schon im jungen Alter ein missmutiger Zug. Dieser Zug mochte nicht allein daher rühren, dass sie schon von Kindheit an mit ihrem Aussehen höchst unzufrieden war. Nein, erst seit Kurzem hatte er sich besonders tief eingegraben. Denn noch nie hatte Pauline so viel über ihr Leben nachgedacht wie in den vergangenen Wochen. In ein paar Tagen würde sie einen Mann heiraten, der genauso unattraktiv war wie sie und darüber hinaus sogar noch ein bisschen dümmer. Zudem war Lothar Dudenhöfer von seinen reichen Eltern genauso abhängig wie sie von ihren. Und zu alledem liebte sie ihn noch nicht einmal. Wie oft schon hatte sie sich in ihren Träumen mit einem blendend aussehenden Helden vor dem Traualtar stehen sehen, der sie auf seinen muskulösen Armen in ein fernes Land trug, weit weg von ihrer Familie. Stattdessen zweifelte sie ernsthaft daran, ob ihr zukünftiger Mann, der genauso groß, jedoch sehr viel schmächtiger war als sie, es überhaupt zustande bringen würde, sie über die Schwelle der elterlichen Villa zu tragen. Nach der Hochzeit wollte das Paar dann zu den Waldeckers ziehen, oder besser gesagt, musste dort hinziehen. Nach langen hitzigen Diskussionen hatte sich Paulines Mutter schließlich der zukünftigen Schwiegermutter ihrer Tochter gegenüber durchgesetzt. Gerda Waldecker war nicht gewillt, auf ihre Jüngste zu verzichten.
»Meinst du, dass Kleid wäre wirklich richtig für … für dich?«, fragte Charlotte ihre Schwester ungefähr zur gleichen Stunde, als ihr Vater in der Landarztpraxis saß.
Eigentlich hatte sie sagen wollen ›für deine Figur‹, konnte sich aber gerade noch früh genug beherrschen.
»Du meinst, dass es zu eng ist?«, fragte Pauline spitz zurück. Dabei schossen ihre kleinen Augen Blitze ab.
»Na ja …« Charlotte warf dem Schneidermeister, bei dem ein Kleid genauso viel kostete wie ein Kleinwagen, einen forschenden Blick zu.
Der Meister wand sich sichtlich und hob dann hilflos die Schultern.
»Wir könnten es etwas weiter machen. Falls Sie wollen«, sagte er in gedehntem Ton und sah dabei die Braut unsicher an.
»Kommt gar nicht infrage«, erwiderte Pauline kurz angebunden. »Der Ausschnitt bleibt ebenfalls so tief, wie er jetzt ist. Ich habe das Kleid an einem Modell in einem amerikanischen Modejournal gesehen. An dem Mannequin sah es super aus. Genauso will ich es auch haben.«
Charlotte spitzte die Lippen. »Ich dachte nur …«, murmelte sie tonlos. Mehr sagte sie nicht, aber ihr Blick, den sie an Paulines unförmiger Figur hinunter gleiten ließ, sprach Bände.
»Bilde dir ja nichts auf dein Aussehen ein«, giftete Pauline nun ungeachtet der Anwesenheit des großen Meisters los, der unter ihrem aggressiven Ton sichtlich zusammenzuckte. »Ich bin trotzdem die erste von uns beiden, die heiratet.«
In einer unnachahmlichen Weise hob ihre Schwester die rechte Braue.
»Ja, du hast es tatsächlich geschafft, mir einen so tollen Mann wie Lothar vor der Nase wegzuschnappen«, konterte sie mit feinem Lächeln. »Das hätte ich nie für möglich gehalten. Ich weiß noch gar nicht, wie ich darüber hinwegkommen kann.«
Pauline schnappte nach Luft. Ihr rundes Gesicht, das ohne Makeup noch teigiger wirkte, bekam rote Flecke.
»Komm, lass uns nicht streiten«, lenkte Charlotte