– Gier – Macht – Geld – Wachstum.
Als wäre die offensichtliche Tendenz zur zunehmenden Rücksichtslosigkeit und Kaltherzigkeit des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft nicht schlimm genug, schien es, wohin man auch blickte, in der Bevölkerung eine wachsende Gewaltbereitschaft zu geben. Die Gesellschaft verrohte nicht nur immer mehr – sie erkrankte!
Und Natascha fiel auch direkt ein Name für die neue Brennpunkt-Reportage ein: Zeichen der Zeit. Diese Worte richteten sich auch an sie, wenngleich auf andere Weise. Ja, es war an der Zeit, ihr Leben neu anzupacken, privat, beruflich, vielleicht auch in der Liebe. Sich herauszuziehen aus diesem Sumpf von Frust und Selbstmitleid. Die alte Natascha, die selbstsichere, fröhliche und nicht ständig missmutige Natascha aus dem Schlamm, dem Morast zu ziehen, in dem sie vor langer Zeit versunken war. Die wahre Natascha! Vielleicht war all das heute ein Zeichen der Zeit, ein Signal für den Aufbruch, eine Reise, ein Neubeginn. Schade nur, dass jene Zeichen der Zeit, die ihre Gedankenkette angestoßen hatten, so gar nicht zu ihrer Aufbruchstimmung passten – ganz im Gegenteil.
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Zeichen der Zeit
Erst Stunden später kam Gerd Postler ins Büro. Noch immer zitterte er am ganzen Leib. Der Schock saß tief. Die Bahnstrecke war noch immer gesperrt – und das würde die nächsten Stunden auch so bleiben. Die Vorstellung, dass die U-Bahn, in der er gesessen hatte, einen Menschen getötet hatte, ließ Postler einfach nicht los. Natürlich wusste er, dass niemand in der U-Bahn es hätte verhindern können. Und doch fühlte er sich in die dramatischen Ereignisse verwickelt, ganz anders, als wenn er nur aus der Zeitung davon erfahren hätte. War es ein Selbstmord gewesen? Oder war wieder jemand vor den Zug gestoßen worden? Er würde es morgen in der Zeitung lesen oder vielleicht sogar schon heute aus dem Radio oder Internet erfahren.
Das Schicksal des verstorbenen Menschen berührte und erschreckte ihn zugleich, er war verwirrt. Verwirrt durch das, was um ihn herum geschah. Da draußen spielte in letzter Zeit so vieles verrückt, war verrückt, ver–rückt im wahrsten Sinne, irgendetwas war dabei zu entgleisen. Ein unpassendes Bild nach dem, was heute auf den Gleisen passiert war, und doch beschrieb es genau sein Empfinden. Bildete er sich nur ein, dass irritierende, bedrohliche, schockierende Ereignisse zunahmen? Und warum fielen ihm plötzlich und so zahlreich eigenartige Dinge und Veränderungen an seinen Mitmenschen auf?
Er wollte und konnte sich damit aber jetzt nicht beschäftigen – in wenigen Minuten stand das Meeting an. Darauf musste er sich jetzt konzentrieren, der Tag war schon genug aus dem Ruder gelaufen.
In diesem Moment betrat Postlers Kollege Beck das Büro. Kein Wort zu dem Vorfall mit der Bahn, dabei hatte er inzwischen bestimmt schon davon gehört. Wie konnte er nur so empathielos sein? Oder sah Beck es einfach nur so nüchtern, wie er es besser auch sehen sollte: Du warst nur ein Fahrgast. Hast die Bahn nicht gefahren. Kanntest den Verunglückten nicht. Konntest ihn auch nicht retten. Und gestoßen hast du ihn erst recht nicht. Und falls es ein Selbstmord war, warst du nicht die Ursache seiner psychischen Probleme. Menschen sterben. Jeden Tag. Tausendfach. Überall. Was nimmst du dir diese Bahnfahrt so zu Herzen?
Nein! Es war normal, dass einen so etwas schockte. Was nicht normal war, war die Teilnahmslosigkeit dieses…
»Arschloch!«, entwich es Postler. Leise zwar, aber dennoch hörbar, für ihn zumindest. Es war einfach so rausgerutscht, ausgerechnet ihm!
»Was hast du gesagt?« Beck klang desinteressiert, keinesfalls wütend. Offensichtlich hatte er ihn nicht verstanden. Ein Glück. Postler überlegte einen Moment, ob er es wiederholen sollte, diesmal laut und deutlich, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Er konnte Beck nicht einschätzen, und es war auch möglich, dass der gar nicht wütend reagierte, sondern mit einem selbstgefälligen Spruch, etwas wie: Na, da macht sich ja mal einer endlich locker! Dann hätte seine ungezügelte Charakterskizze des Kollegen Beck ohnehin jede Wirkung verfehlt.
»Nichts. Ich komme mit den Zahlen hier nicht klar«, wich Postler aus, »und das Meeting ist gleich. Bist du vorbereitet? Steht dein Part?« Er schnappte sich sein Notebook und stand auf, um den Raum zu verlassen.
»Nö.« Beck setzte sich und begann, auf der Tastatur zu tippen.
»Wie, nö?!« Postler blieb abrupt stehen.
»Ich reiß mir hier keinen mehr ab, werde ohnehin kündigen…«
Postler sagte nichts. Er starrte Beck nur ungläubig an.
»Und meine Frau verlasse ich auch. Fang komplett neu an. Am besten irgendwo, wo ich schnell und einfach ein paar neue finde.«
»Ein paar neue was?« Postler blickte ihn verwirrt an. »Stellen?«
»Frauen!« Beck begann dreckig zu lachen. Dabei machte er ein paar obszöne Gesten – unmissverständlich, was er damit sagen wollte.
Der Kerl war echt durchgeknallt. Dieser Tag war es auch. Besserung war nicht in Sicht – jetzt durfte er im Meeting wieder allein den Kopf hinhalten. Typisch! Was war der Kerl eigentlich für ein Idiot geworden?!
»Arschloch!«, schrie Postler aus voller Inbrunst. »Du bist so ein Riesenarschloch!«, legte er nach. Es war befreiend. Reinigend. Und überfällig. »Dieses Mal werde ich dich nicht aus dem Schlamassel ziehen! Macht ja auch nichts – du willst ja eh kündigen. Vielleicht kommt dir der Chef ja entgegen und beschleunigt die Sache. Mal sehen, was ich tun kann!«
Wütend stapfte Postler aus dem Büro Richtung Konferenzraum.
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Mallorca
Frank Stebe bearbeitete gerade einige Formulare, als es an seiner Bürotür klopfte – kräftig, gut hörbar, aber nicht aufdringlich. Frank blickte auf. Die Tür stand offen, wie immer. Nur wenn Frank ungestört arbeiten wollte, machte er eine Ausnahme und schloss sie.
In der Türschwelle stand ein auffallend gut gekleideter, untersetzter Mann mittleren Alters. Frank hatte keinen Besuch erwartet, und offensichtlich hatte auch niemand vom Basis-Team den Mann bis zum Büro begleitet. Vorne in der Tauchbasis hielten sich momentan Jennifer und drei Mitarbeiter auf, doch der Weg zu Franks Büro, das im hinteren Teil des Gebäudes lag, war auch über den Hintereingang frei zugänglich, letztlich für jeden, der wusste, wo Frank zu finden war. Es war also nicht ungewöhnlich, dass ab und zu jemand unerwartet vor seinem Arbeitszimmer stand.
»Ja, bitte?« Frank schenkte dem Besucher ein offenes Lächeln und bat ihn mit einer Handbewegung hereinzukommen. Im selben Atemzug erhob er sich, um den Mann zu begrüßen.
»Herr Stebe? Doktor Frank Stebe?«
Die Frage klang nicht wirklich, als müsste der Mann sich erst noch vergewissern, ob er überhaupt im richtigen Büro gelandet war.
Hatte Frank soeben eine leichte Betonung auf Doktor herausgehört? Vermutlich hatte es sich einfach nur ungewohnt angehört. Aber warum sprach der Mann ihn überhaupt mit seinem Titel an? Sein akademischer Grad spielte hier auf Mallorca, auf seiner Tauchbasis und unter Tauchern, nie eine Rolle. Nur eine Handvoll Gäste, Kunden oder Geschäftspartner wusste überhaupt, dass er einen solchen besaß, und die, die um Franks früheres Berufsleben wussten, erwähnten den Titel nicht. Dazu kam, dass der dunkelhaarige Mann, der nun gemächlich in den Raum trat, nicht wie ein Taucher wirkte. Nicht wegen seiner Statur – auch unter Tauchern war Übergewicht nicht selten. Auch nicht aufgrund seines eleganten Erscheinungsbildes, wie er dastand, in seinem feinen Zwirn, einem offensichtlich hochwertigen Business-Anzug, mit Hemd im konservativen Stil und teuren Schuhen.
Nicht selten hatte Frank auch mit Geschäftsleuten zu tun und kannte ihr Outfit – schicke Anzüge, die nicht aus Neopren waren, wenngleich die meisten seiner Kontakte eher den sportlich-lässigen Look bevorzugten, so wie er selbst ja auch. Nein, dieser Mann wirkte einfach nicht wie ein Taucher und auch nicht, als wolle er nun im Rahmen eines Tauchkurses einer werden und wäre gekommen, um sich darüber zu informieren. Dieser Mann wollte etwas gänzlich anderes, das wusste Frank intuitiv. Die Frage war nur, was? Franks Neugier war geweckt.
»Ja, da sind Sie richtig.« Frank trat vor seinen Schreibtisch.
»Guten